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Utopischer Sozialist, dann Monarchist, mystischer Natio-nalist, Slawophiler, Panslawist, orthodoxer Christ ... all daswar er, aber nicht immer ganz: er war mehr. Der politische Dostojewski hat heute keine gute Nachrede. Seine Progno-sen haben nicht getroff en, doch seine Diagnosen stimmennachdenklich. Auch wer heute über Rußland nachdenkt,sollte nach der politischen Publizistik des Giganten greifen,die seit langem auf Deutsch nicht greifbar war.Die Einleitung von 1922 von Dimitri Mereschkowski, denThomas Mann den genialsten Kritiker und Weltpsycholo-ge seit Nietzsche nannte, stellt auf Dostojewskis spirituelle Politikauffassung ab.…mehr

Produktbeschreibung
Utopischer Sozialist, dann Monarchist, mystischer Natio-nalist, Slawophiler, Panslawist, orthodoxer Christ ... all daswar er, aber nicht immer ganz: er war mehr. Der politische Dostojewski hat heute keine gute Nachrede. Seine Progno-sen haben nicht getroff en, doch seine Diagnosen stimmennachdenklich. Auch wer heute über Rußland nachdenkt,sollte nach der politischen Publizistik des Giganten greifen,die seit langem auf Deutsch nicht greifbar war.Die Einleitung von 1922 von Dimitri Mereschkowski, denThomas Mann den genialsten Kritiker und Weltpsycholo-ge seit Nietzsche nannte, stellt auf Dostojewskis spirituelle Politikauffassung ab.
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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ulrich Schmid entdeckt Fjodor Dostojewski in seinen politischen Schriften einmal mehr als Vertreter erzkonservativer Positionen. Wenn der Autor seine "russische Idee" vertritt, fühlt sich Schmid an die großen Romane des Russen erinnert. Hier wie dort, so Schmid, lässt der Autor Figuren seine teils extremen Meinungen zur russischen Krankheit und ihrer Heilung durch Rückbesinnung auf die wahre russische Kulturidentität aussprechen, um sich unangreifbar zu halten. Insofern zeigt diese auf klassische Übersetzungen zurückgreifende Neuausgabe für den Rezensenten, inwiefern der Autor als Bezugsfigur der heutigen russischen Staatsideologie taugt, und darüber hinaus, dass Dostojewskis hoch künstlerische polyphone Kompositionsweise auch im Essay zum Einsatz kommt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie sollte der Westen uns auch verstehen?

Eine neue Ausgabe der politischen Schriften Fjodor Dostojewskis zeigt, warum dieser Autor als Bezugsfigur der heutigen russischen Staatsideologie taugt.

Heute wäre Dostojewski ein Fall für den Verfassungsschutz: Er lästerte über Ausländer, hetzte gegen die Juden und rechtfertigte Angriffskriege, um die Welt mit der russischen Idee zu beglücken. Seine chauvinistischen Ideen formulierte er vor allem in seinem "Tagebuch eines Schriftstellers", einem der ersten Blogs der Weltliteratur. Dostojewskis wichtigste politische Schriften liegen nun in einer Neuausgabe vor, die auf die klassischen Übersetzungen von Less Kaerrick (E. K. Rahsin) und Alexander Eliasberg zurückgreift.

Dostojewski hat seine ideologische Position am deutlichsten im Aufsatz "Drei Ideen" (1876) dargelegt. Die Welt müsse sich zwischen dem französischen Katholizismus, dem deutschen Protestantismus und der russischen Orthodoxie entscheiden. Die Religionsbegriffe sind dabei maximal weit gefasst. Zum Katholizismus rechnet Dostojewski auch den Sozialismus, der für ihn notwendigerweise atheistisch ist und den Grundfehler des Katholizismus wiederholt: Er schiebt sich als menschliches Heilsmanagement an die Stelle Gottes selbst. Der Protestantismus steht für alle rationalen Denkweisen, die über keine eigene Wahrheit verfügen. Dostojewski kritisiert den destruktiven Impetus des Protestantismus: Diese Idee protestiere gegen alles, bis alle Gegner vernichtet seien. Dann aber habe auch der Protestantismus seine Daseinsberechtigung verloren, weil es nichts mehr gebe, wogegen man protestieren könne.

Als Hoffnungsschimmer in diesem ausweglosen Dilemma zwischen zwei westlichen, gleichermaßen verderblichen Ansätzen präsentiert Dostojewski seine "russische Idee", die zwar noch unbestimmt sei, aber unbedingt zur Erlösung der Menschheit führen müsse. Er begründet diese Gewissheit mit der Einheit des russischen Volkes, das geschlossen hinter seinem Monarchen stehe. Dostojewski versteigt sich in seinem nationalistischen Dünkel zur Behauptung, die Russen verstünden zwar selbst alles, stießen aber aufgrund der tieferen Entwicklungsstufe der westlichen Völker im Ausland auf Unverständnis. In einem Brief aus dem Jahr 1880 schrieb er an einen französischen Literaturkritiker: "Wir haben das Genie aller Völker, dazu noch den russischen Genius; daher können wir Sie verstehen, während Sie uns nicht verstehen."

Dostojewskis polemische Einlassungen lassen den Leser zwar immer wieder die Augenbrauen hochziehen, gleichzeitig bieten sie aus zwei Gründen eine hochinteressante Lektüre: Einerseits wendet Dostojewski die polyphone Kompositionsweise seiner Kunstprosa auch auf seine Essays an, andererseits findet man hier in Reinform jenen Wahrheitsentwurf, der auch seinen Romanen zugrunde liegt.

Dostojewski lässt auch in seinen politischen Schriften fiktive Protagonisten auftreten. Ihnen legt er heikle Aussagen in den Mund, die er nicht direkt selbst vertreten will. So behauptet etwa ein Angestellter der zaristischen Bürokratie, dass Russland gerade durch die aufgeblähte Kanzleimaschine im Innersten zusammengehalten werde. Wenn man westliche Effizienzkriterien auf die Bürokratie anwende, dann zerstöre man die Essenz des russischen Staates - es gehe nicht um eine möglich gut funktionierende Verwaltung, sondern um die Entwicklung eines kräftigen Organismus, der auf der Volksnähe des Beamtenapparats aufbaue.

Ähnlich geht Dostojewski vor, wenn er seine kriegstreiberischen Ansichten verbreiten will. Hier schiebt er einen philosophischen Freund vor, der den Krieg als probates Mittel der Volksvereinigung preist: "Vergossenes Blut ist eine wichtige Sache. Die gemeinsame Heldentat erzeugt die stärkste Verbindung zwischen den verschiedenen Ständen." Der Autor selbst tritt in diesem Dialog nur mit kritischen Rückfragen in Erscheinung und bekennt am Schluss resigniert: "Ich widersprach ihm natürlich nicht weiter." Mit dem Kunstgriff der Wiedergabe der fremden Stimme gelingt es Dostojewski, seine Extrempositionen in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, ohne sich selbst zu exponieren.

Eine zweite Form der Selbstcamouflage besteht in der Verwandlung von Ideologie in einen literarischen Text. Alle großen Romane Dostojewskis bauen auf dem gleichen Wahrheitsentwurf auf. Sie stellen in gewisser Weise künstlerische Antworten auf folgende Frage dar: Wenn Christus in Russland erscheinen muss (und davon war Dostojewski fest überzeugt), warum sieht dann die Lebenswirklichkeit im Zarenreich so miserabel aus? Dostojewski vertritt in seinen Romanen eine erzkonservative Position: Man dürfe sich nicht von den Grundwerten der russischen Orthodoxie ablenken lassen, sonst drohe ein Abgleiten in die westeuropäische Dekadenz.

Der Mord an der Wucherin in "Schuld und Sühne" ist eigentlich richtig (er richtet sich gegen den westlichen Kapitalismus), er geschieht aber aus den falschen Motiven (der Held will Napoleon, dem Inbegriff des westlichen Machtstrebens, nacheifern). Im "Idiot" erscheint zwar Christus in der Gestalt des Fürsten Myschkin, aber niemand erkennt ihn, weil alle in den konkurrierenden Glaubenssystemen der erotischen Leidenschaft, der Machtpolitik oder des Geldes gefangen sind. In den "Dämonen" gerät der russische Protagonist ebenfalls auf westliche Abwege und steht am Ende vor den gleichwertigen Alternativen, entweder Bürger des engen Schweizer Kantons Uri zu werden oder Selbstmord zu begehen. Die "Brüder Karamasow" zeigen schließlich die fatale Spaltung des russischen Bewusstseins in vier Personen auf: den impulsiven Dmitri, den rationalen Iwan, den sanften Aljoscha und den finsteren Smerdjakow. Russland kann erst gerettet werden, wenn Aljoscha die geistige Führung der Familie übernimmt - in der Tat wäre Aljoscha die Hauptfigur der geplanten Fortsetzung der "Brüder Karamasow" geworden.

Dostojewski geht sowohl in seinen Romanen als auch in seiner Publizistik von derselben Diagnose der russischen Krankheit aus: Russland muss zu seiner wahren Kulturidentität zurückfinden und darf sich nicht vom Westen beeinflussen lassen. Mit dieser Position gehört Dostojewski zu den wichtigsten Stichwortgebern der konservativen Staatsideologie im heutigen Russland - der hundertste Todestag des Pazifisten und Regierungskritikers Lew Tolstoi wurde dagegen im Jahr 2010 kaum gefeiert.

ULRICH SCHMID

F. M. Dostojewski: "Russland und die Welt". Politische Schriften. Hrsg. v. Martin Bertleff.

Karolinger Verlag, Wien 2015. 212 S., geb., 23,- [Euro].

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