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Weder Kapitalismus noch Demokratie galten in den 1920er und 1930er Jahren als Pfeiler der Stabilität. Das begann sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu ändern. Dargestellt wird dieser Wandel in der Regel als Triumph von kapitalistischer Konsumgesellschaft und wohlfahrtsstaatlich gesicherter Demokratie über Faschismus und Kommunismus. 70 Jahre Bundesrepublik bieten Anlass, diese Sicht neu zu bewerten.
Hermann Bücher zum Beispiel, Vorstandsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie, hielt Politiker für ökonomisch inkompetent und Parlamente für ungeeignet, um die wirtschaftlichen
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Produktbeschreibung
Weder Kapitalismus noch Demokratie galten in den 1920er und 1930er Jahren als Pfeiler der Stabilität. Das begann sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu ändern. Dargestellt wird dieser Wandel in der Regel als Triumph von kapitalistischer Konsumgesellschaft und wohlfahrtsstaatlich gesicherter Demokratie über Faschismus und Kommunismus. 70 Jahre Bundesrepublik bieten Anlass, diese Sicht neu zu bewerten.

Hermann Bücher zum Beispiel, Vorstandsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie, hielt Politiker für ökonomisch inkompetent und Parlamente für ungeeignet, um die wirtschaftlichen Grundlagen moderner Gesellschaften zu gestalten. Dennoch avancierte er nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Berater der ersten bundesdeutschen Regierung unter Konrad Adenauer. Wie kam es dazu, dass Akteure wie Hermann Bücher in Deutschland, genauso wie andere in Frankreich, demokratische Regierungen als Partner des Kapitalismus akzeptierten?

Schlüssel dieser Entwicklung waren Vertreter wirtschaftlicher Interessen, die als Unterhändler zwischen Unternehmen und Staat vermittelten. Sie traten für eine Transformation des wirtschaftsliberalen Individualismus zu einem koordinierten Kapitalismus ein. Philipp Müller zeigt, dass die wirtschaftlichen Eliten durch die Regimewechsel nicht nachhaltig berührt wurden und in der Nachkriegszeit zu starkem Einfluss auf die wirtschaftliche und politische Ordnung gelangten. Damit stieg auch ihre Bereitschaft zur Akzeptanz der Demokratie.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Philipp Müller, Prof. Dr., Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit August 2019 Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2019

Die Trennung von Staat und Wirtschaft wurde verwischt
Philipp Müller untersucht, wie Kapitalismus und Demokratie in Deutschland und Frankreich zueinander fanden

Dass der Kapitalismus der Vorkriegszeit kein Leitbild sein konnte, war sowohl in der politischen Öffentlichkeit wie der akademischen Debatte der Weimarer Jahre fast selbstverständlich. Zwar gab es weiterhin den einen oder anderen liberalen Denker, der die Misere der Zwischenkriegszeit für eine Folge des Krieges und des Versailler Systems und nicht für einen Strukturdefekt des vermeintlich funktionsunfähigen Kapitalismus hielt; aber das waren Ausnahmen. Auf der linken wie rechten Seite des politischen Spektrums war ohnehin klar, dass Kapitalismus und Mammonismus ausgedient hatten, und auch in der bürgerlichen politischen Elite liebäugelte man mit einer gewachsenen Rolle des Staates und redete einer neuen Form der Gemeinwirtschaft das Wort.

Selbst zahlreiche Vertreter der Industrie, der großen Konzerne, der Kartelle und der Verbände gaben ihre lange zumindest rhetorisch vertretene Favorisierung sich selbst regulierender Märkte auf und redeten einer Art gesteuerten Ökonomie das Wort, in der an die Stelle der Koordination wirtschaftlichen Handelns durch freie preisbildende Märkte die bewusste Absprache der wirtschaftlichen Akteure treten sollte. Da unter den geänderten wirtschaftlichen Bedingungen nach 1918 der Staat in der Tat eine größere Rolle spielte und insbesondere der grenzüberschreitende Wirtschaftsaustausch sehr viel komplizierter geworden war, gab es freilich auch ganz pragmatische Gründe, warum Absprachen und koordinierte Vorgehensweisen eine größere Rolle als vor 1914 spielten. Doch waren das für die meisten beteiligten Akteure nur Hinweise, dass ihre ohnehin pessimistischen Annahmen über die Zukunft des freien Kapitalismus offenkundig Evidenz besaßen.

Diese neue Art der Koordination und die sie begleitenden programmatischen Debatten bilden den Gegenstand der Studie von Philipp Müller, die den Zeitraum von 1920 bis 1950 in einem erhellenden deutsch-französischen Rahmen behandelt. Die durch den Krieg ausgelösten Varianten der Wirtschaftssteuerung, die sich zwischen 1920 und 1950 europaweit finden, sind bisher fast ausschließlich in nationaler Perspektive gesehen worden. Der transnationale Blick legt hier sehr viele Phänomene frei, die nicht nur neu sind, sondern auch eine vergleichsweise große programmatische Ähnlichkeit zumindest zwischen Teilen der deutschen und französischen Wirtschaftselite nahelegen, ja den Blick auf Formen der Kooperation lenken, die bislang wenig beachtet waren.

Der Autor betrachtet vor allem eine Gruppe von Vertretern industrieller Interessenverbände genauer, also jene Unterhändler, die nicht nur der Studie den Titel gaben, sondern in der Tat die Steuerungsverhandlungen zwischen Staat und großer Industrie sowie in grenzüberschreitender Weise auch zwischen den internationalen Industrieverbänden und Unternehmen vorantrieben. Die tendenzielle Verwischung der Grenzen von Staat und Wirtschaft wurde von ihnen, zweifellos auch im Interesse ihrer Industrien, vorangetrieben, war aber auch eine Folge der Überzeugung, dass nur kollektiv koordiniertes Handeln der Industrie helfe, die Sackgassen der Nachkriegszeit zu überwinden.

Dieses vor 1933 noch nicht systematische Verfahren ging mit der Aufrüstung und den Kriegsvorbereitungen in der NS-Diktatur weder unter, noch verschwanden derartige Ansätze im Frankreich der dreißiger Jahre. Im Gegenteil: Je mehr der Staat auf eine koordinierte ökonomische Entwicklung setzte, umso mehr bedurfte er eines Vermittlungsorgans, für das sich die Verbände auch deshalb anboten, weil sich auf diese Weise ein zu weites Ausgreifen des Staates selbst vermieden ließ. Für Deutschland ist diese Art der schließlich staatlich organisierten Selbstverwaltung der Wirtschaft bis hin zu Speers Rüstungsorganisation gut bekannt; aber auch in Frankreich spielten Unternehmerkomitees bei der Vorbereitung auf einen immer wahrscheinlicher werdenden Krieg eine große Rolle.

Die Vichy-Regierung setzte schließlich in vielen Fällen ganz auf sie und dehnte ihre Organisationsform entsprechend so aus, dass sie auch Ansprechpartner der deutschen Besatzer sowie für die übergreifende Zusammenarbeit mit Vertretern der deutschen Industrie im Krieg wurden. Und selbst das Kriegsende machte dieser Form der "Selbstverwaltung" nicht den Garaus, denn die Besatzungsmächte setzten in Westdeutschland, wenn auch in unterschiedlicher Form, auf die Wiederherstellung der Selbstverwaltungsorgane als Instrumente für Bewirtschaftung und Steuerung. In Frankreich waren die Organisationen der Wirtschaft schließlich nicht nur deshalb für die Wiederaufbaukonzepte maßgeblich, weil sie das entsprechende Fachwissen besaßen; dort war auch die Vorstellung verbreitet, nur ein koordiniertes Vorgehen ermögliche eine effektive Rückgewinnung wirtschaftlicher Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit.

Dass hier ein wichtiger Nukleus für die Zusammenarbeit im westeuropäischen Wiederaufbau lag, der schließlich auch in die ersten Schritte der europäischen Integration mündete, muss nicht betont werden. Es ging dabei nicht allein um unmittelbare Interessenwahrnehmung, das macht die Teilnahme von Verbandsvertretern an der Auflösung der IG Farben und der mit ihr verbundenen Gestaltung des kapitalistischen Alltags deutlich, wie es Müller in einem abschließenden Kapitel exemplarisch untersucht. Hier sei auch, so Müller, der Gegensatz zwischen einer Art koordiniertem Kapitalismus, wie er europäischen "Unterhändlern" namentlich aus Deutschland und Frankreich vorschwebte, sowie der amerikanischen Präferenz für liberale Marktbeziehungen schlagend deutlich geworden.

So plausibel der Befund, so diskussionswürdig sind die Thesen, die Müller an ihn knüpft. Aus seiner Sicht war diese Art der Koordination, in der Verbandsvertreter eine große Rolle spielten, nicht die Folge einer historischen Ausnahmesituation, bedingt durch die von den beiden Weltkriegen ausgelösten ökonomischen Probleme und Zwangslagen. Sie sei vielmehr Ausdruck, Bedingung und Folge eines grundlegenden Wandels des Kapitalismus, in dem Marktbeziehungen in großem Maße durch koordiniertes Handeln substituiert wurden, wodurch auch Kapitalismus und Demokratie in der für die ersten Nachkriegsjahrzehnte typischen Weise miteinander kompatibel geworden seien.

Diese These überzeugt freilich weniger als die empirische Darstellung, denn deren Ergebnisse sind kaum verallgemeinerbar, zumal sich Müllers Darstellung auf eine kleine Gruppe von Verbandsfunktionären beschränkt. Andere Auffassungen, die es selbstverständlich auch in der Großindustrie gab, werden nicht diskutiert. Und die Frage, ob die Auffassungen eines Hermann Bücher oder eines Henri de Peyerimhoff auch für die Banken, den Handel oder die Landwirtschaft, immerhin wichtige Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft, zutrafen, stellt Müller erst gar nicht.

Das beeinträchtigt die These vom Strukturwandel des Kapitalismus. Bei der Bereitschaft von Teilen der Industrie sowohl in Deutschland wie in Frankreich zur Kooperation mit einem dirigierenden Staat handelte es sich daher wohl eher um Notlösungen unter den Bedingungen des Krieges und seiner Folgen beziehungsweise im französischen Fall um einen Ausdruck von Schwäche, da man ohne Begrenzung der Konkurrenzmärkte um die eigene Wettbewerbsfähigkeit fürchtete. Wäre es anders, spielte der vermeintliche Strukturwandel des Kapitalismus eine entscheidende Rolle, wie hätten dann die Vereinigten Staaten so vehemente Vertreter eines freien Konkurrenzkapitalismus sein können? Und auch die Kassandrarufe der Zeitgenossen über die Zukunft des Kapitalismus, die Müller heranzieht, waren wohl mehr den katastrophalen Umständen geschuldet als einem sicheren Wissen über die Zukunft der Wirtschaft.

WERNER PLUMPE

Philipp Müller: "Zeit der Unterhändler". Koordinierter Kapitalismus in Deutschland und Frankreich zwischen 1920 und 1950.

Hamburger Edition im HIS Verlag, Hamburg 2019. 480 S., geb., 32,- [Euro].

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