Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
- Produktdetails
- Verlag: Wallstein Verlag GmbH
- Seitenzahl: 784
- Erscheinungstermin: 11. September 2013
- Deutsch
- ISBN-13: 9783835320444
- Artikelnr.: 38155447
Heute erscheint Nicolas Bergs Studie über die NS-Deutungen deutscher Zeithistoriker
Vielleicht ist alles nur ein Zufall, näher aber liegt es, das Datum auf den Fahnen als Ausdruck besonderen Bedeutungswillens zu lesen: Der 8. Mai, vor dem dieses Buch nicht rezensiert werden darf, war bekanntlich jahrzehntelang Ausgangspunkt heftiger Debatten über „Niederlage” und „Befreiung”. Damit war das Kriegsende 1945 in einen Deutungsbogen gestellt, dessen Polarität zwar den Erfahrungen der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft” entsprach, nicht aber den Erinnerungen der Ausgegrenzten und Verfolgten. Und außer Betracht blieb, dass die Ambivalenz dieser Interpretation allenfalls im Gedächtnis von Deutschen existieren konnte, ganz sicher aber nicht im Gedächtnis der Juden.
Im Kern ist es diese Einsicht, von der aus Nicolas Berg seine Erkundungen in das inzwischen von vielen besuchte Feld der „Gedächtnisgeschichte” unternimmt. Dem Leipziger Kulturhistoriker geht es jedoch nicht um das ganze Spektrum der bei Kriegsende in Deutschland präsenten sozialen Gedächtnisse und der sich formierenden Erinnerungskollektive, sondern allein um die Historikerschaft. Das ist Aufgabe genug, aber auch eine Beschränkung, die Folgen hat.
Noch recht einfach liegen die Dinge in den ersten Nachkriegsjahren – jedenfalls dann, wenn, wie bei Berg, statt des breiten Deutungsangebots der literarisch-politischen Publizistik vor allem die Texte der einflussreichsten unter den Historikern untersucht werden: Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter und Hans Rothfels erweisen sich in dieser Lesung als Exponenten einer Nationalapologie, der anderes als die Perspektive existentieller Bedrohung durch den (behaupteten) Vorwurf der Kollektivschuld kaum in den Sinn kommt. Das gemeinsame Motiv, jenseits beträchtlicher, aus Lebensalter und Lebenswegen sich ergebenden Unterschiede, ist die Suche „nach einer rettenden Gegenerzählung vom guten und anderen Deutschland”. Den Nationalsozialismus suchen diese frühen Deutungen aus der deutschen Geschichte gleichsam hinauszuerklären, ]und Auschwitz erscheint darin, so Berg, „nicht als Erzählung, sondern als deren Vermeidung”.
Wer besser wegkommt . . .
Deutlich besser kommen die Göttinger Historiker Hermann Heimpel und Reinhard Wittram weg, die sich in den fünfziger Jahren als Repräsentanten protestantischer Bußfertigkeit profilieren. In Heimpels autobiographischer Selbstbesinnung entdeckt der Autor einen neuen Ton – und trotz aller konservativen „Einseitigkeiten” eine „notwendige erste Etappe auf dem Weg zum Sprechen über den Völkermord”. Zumal im Kontrast zu dem „Heroismus des Schweigens”, dem viele der einstigen Parteigänger Hitlers damals anhingen und dessen manche sich berühmten, erscheint der neue „Schuld- und Schamdiskurs”, der in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch von Teilen der Politik gestützt wird (man denke an Theodor Heuss), in positivem Licht. Ein Theodor Schieder freilich spricht angesichts der „religiösen Textur” (Berg) dieser Deutungsversuche von „Göttinger Wallungen”, und ähnlich verständnislos scheint die junge Garde im Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) reagiert zu haben.
Dort ging es inzwischen um Empirie aus dem Geiste nüchterner Quellenforschung – so jedenfalls sahen sich die Buchheim, Heiber, Broszat und etwas später auch Hans Mommsen. Ebensowenig wie die Göttinger seien die Münchner an den Erfahrungen jüdischer Historiker interessiert gewesen, aber wie letztere sich „der Einbeziehung des jüdischen Gedächtnisses” verweigerten, stößt bei Nicolas Berg auf besondere Kritik.
Anders als bei vielen seiner Protagonisten – ihre Zahl ist beeindruckend –, schöpft der Autor seine Erkenntnisse über die Münchner Historiker nicht nur aus deren Veröffentlichungen, sondern auch aus Akten und Korrespondenzen. Seine Funde im Hausarchiv des IfZ sind ihm Anlass für eine scharfe Kritik an der durch ein „rein quantitatives Herangehen” charakterisierten Darstellung der Anfänge des Instituts, wie sie dessen Direktor, Horst Möller, noch 1999 in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des Hauses gegeben hat.
Gewiss bietet auch Berg keine durchgängige Geschichte des IfZ, aber er beleuchtet wichtige Aspekte aus dessen frühen Jahren in einem harten Licht. Sein Fokus liegt auf der Frage, wie es die Gremien des Instituts, vor allem jedoch seine Wissenschaftler, mit dem Thema der Judenvernichtung gehalten haben. Berg zeigt: Manches, was anfangs auf der Agenda stand, verzögerte sich, manches, was an Angeboten von außen kam, auch von jüdischer Seite, wurde abgelehnt. Desiderat blieb vor allem, wie die Chronik zum 25-jährigen Bestehen des Instituts noch selbstkritisch vermerkte, eine Gesamtdarstellung der Judenvernichtung.
Anerkennung des Autors findet die von Martin Broszat forcierte Entscheidung, die Memoiren des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß zu edieren – ein in seiner bürokratischen Biederkeit monströses Dokument, das noch vor dem Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958, der oft als Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung des Judenmords genannt wird, und lange vor dem Jerusalemer Eichmann- und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess auch mit der bequemen Vorstellung aufräumte, die Judenmörder seien asoziale, sadistische Bestien gewesen. Ursprünglich habe man die Publikation, so berichtet Berg, „Der Weg nach Auschwitz” betiteln wollen.
Im weiteren allerdings sieht sich kein anderer Forscher so sehr der Kritik ausgesetzt wie gerade Broszat (der jedoch, anders als Berg meint, schon nicht mehr ganz der Flakhelfer-Generation zuzurechnen ist, sondern als Angehöriger des Jahrgangs 1926 nach einer Reserveoffiziersausbildung für kurze Zeit noch Frontsoldat wurde). Worin der Autor das zentrale Defizit des Instituts für Zeitgeschichte erblickt – dass „in der Frühzeit Forschung ohne Erinnerung betrieben wurde, mitunter sogar in scharfer Wendung gegen sie” –, das wird vor allem seinem späteren Direktor zum Vorwurf. Gründe dafür findet Berg besonders in einer Auseinandersetzung zwischen Broszat und dem aus Chemnitz gebürtigen jüdischen Historiker Joseph Wulf zu Anfang der sechziger Jahre, über die Berg in dieser Zeitung bereits berichtet hat ( siehe SZ vom 17. Juli 2002).
Hinzu kommt die Interpretation der durch einen überraschenden Fund des australischen Historikers Dirk Moses bekannt gewordenen Parteimitgliedschaft Broszats, die vom 20. April 1944 datiert. Anders als in seinem Aufsatz aus dem letzten Jahr weist Nicolaus Berg nun darauf hin, dass zu Hitlers Geburtstag „ganze HJ-Jahrgänge in die Partei überführt” wurden (aus seiner Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend hatte Broszat nie einen Hehl gemacht, 1985 auch darüber geschrieben). Doch weitergehende quellenkritische Fragen scheinen sich Berg auch jetzt nicht zu stellen: So etwa jene, ob der Akt der kollektiven Aufnahme in die Partei – wenn es denn ein solcher war – den dadurch „Ausgezeichneten” im letzten Kriegsjahr überhaupt bekannt wurde. Sicher hingegen ist sich der Autor der „durch Broszats Beschweigen bezeugte(n) Tatsache, dass er dieses Datum nach 1945 zeitlebens als Stigma verstanden haben muss”. Doch als Stigma kann ein Siebzehnjähriger so wenig wie ein Älterer verstehen, wovon er, was Spekulation bleiben muss, aber immerhin möglich erscheint, nicht weiß.
Solche Einwände ändern nichts an der Unduldsamkeit gegenüber manchen Arbeiten von Überlebenden des Holocaust, die in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur bei Broszat und am Institut für Zeitgeschichte anzutreffen war. Zeichen dieser Unduldsamkeit, unter der Joseph Wulf und H. G. Adler zu leiden hatten, registriert Nicolas Berg minutiös. Die fehlende Bereitschaft, den Erinnerungen der Opfer jene Aufmerksamkeit zu schenken, welche die Berichte der Täter, von denen man sich „Fakten” erhoffte, vielfach genossen, die ungenügende Vorstellung von den Aporien des eigenen Blickwinkels und von der Eingebundenheit in das nach-nationalsozialistische Gedächtnis, sind der westdeutschen Historikerschaft noch nie in dieser Eindringlichkeit vor Augen geführt worden.
Einleuchtend ist auch die These des generationenbiographischen Zusammenhangs zwischen der Selbstverpflichtung zur „Sachlichkeit” – die in den fünfziger Jahren freilich zu den gesellschaftlichen Duldungsbedingungen gegenüber der neuen, alles andere als willkommen geheißenen Disziplin Zeitgeschichte gehörte – und Broszats Plädoyer für eine Trennung zwischen wissenschaftlicher Geschichtsforschung und „mythischer” (jüdischer) Erinnerung, wie dieser sie 1988 im berühmten Briefwechsel mit Saul Friedländer vertrat.
. . . und wer verurteilt wird
Unangemessen, wenn nicht ehrenrührig, ist es hingegen, die frühen Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus, die Hans Buchheim (1958) und Martin Broszat (1960) vorgelegt haben, als „Mitläufer-Erzählungen” zu bezeichnen; immerhin spricht aus diesen Texten der Wille, zur historisch- politischen Aufklärung beizutragen, nicht weniger deutlich als der Wunsch, sich selbst und anderen die am eigenen Leib erfahrene Faszinationskraft des Regimes begreiflich zu machen. Aber in dieser Bewertung zeigt sich eine Schwäche, die Bergs voluminöser Studie gewissermaßen strukturell eignet: Sie konzentriert sich weitgehend auf die Darstellung von Fällen und Episoden, in denen die jungen Historiker der „neuen Sachlichkeit” (so Bergs missverständliche Ironie hinsichtlich einer in den sechziger Jahren nicht nur unter Historikern für zeitgemäß gehaltenen Wissenschaftsauffassung) hinter ihren Ansprüchen zurückgeblieben sind.
Diese eingehende Defizitanalyse ist ein notwendiges und durchaus erhel lendes Unterfangen. Doch Nicolas Berg hätte seine Aufgabe auch ein wenig weiter verstehen können. Dann hätten sich nicht nur Grenzen und Versäumnisse, sondern auch die wissenschaftliche Fruchtbarkeit und das gesellschafts kritisch Herausfordernde jenes strukturfunktionalistischen Ansatzes gezeigt, dessen Anfänge noch auf Hermann Mau, den früh verstorbenen ersten General sekretär des Instituts, zurückgehen und der später vor allem von Broszat und Hans Mommsen entwickelt wurde. Jetzt aber erscheint, gemessen an der Milde, mit der Berg die Arbeiten der später so genannten „Intentionalisten” bedenkt, bei denen die Perspektive der jüdischen Erinnerung genauso fehlte wie bei den „Strukturalisten”, die Kritik an letzteren als moralisch besonders aufgeladen.
Mag sein, dass sich dies zu einem Teil aus jener Rückkehr des – auch – moralischen Fragens erklärt, die in der Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit zu beobachten ist und zu der sich Berg mit guten Gründen (und etwas wenig Distanz) bekennt. Bleibt ihm und uns nur zu wünschen, dass sich in der heutigen Holocaust-Forschung dereinst nicht ähnlich große Blindstellen offenbaren wie jene, die wir im Werk der ersten Generation empirischer Zeitgeschichtsschreibung nach 1945 schmerzlich erkennen.
NORBERT FREI
NICOLAS BERG: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 768 Seiten, 46 Euro.
Die Historiker Hermann Heimpel, Gerhard Ritter und Martin Broszat.
Fotos: dpa / dpa / SET
Der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, wird nach seiner Verurteilung im Kriegsverbrecherprozess von Nürnberg an Polen übergeben.
Foto: US-Army
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH