Mit seinen hochgerühmten Romanen "Das Muster", "Tagundnachtgleiche" (ursprünglich "Der Junge mit den blutigen Schuhen"), "In der Erinnerung" und "Auf der anderen Seite der Welt" erzählt Dieter Forte die Geschichte zweier Familien, die im Schicksal eines Jungen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Stillstand kommt: die "Tetralogie der Erinnerung", die Fortes Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern" um einen vierten Band erweitert und nun erstmals abgeschlossen als Kassette vorliegt, ist ein erzählerischer Kosmos, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einzigartig ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2010Sprachwunder
Dieter Fortes Tetralogie
Dass es irgendwann nicht mehr geht, dass man nach grauenvollen Erlebnissen verstummt, dass es einem förmlich die Sprache verschlägt: All dies ist eine verbreitete Erfahrung und gleichzeitig ein literarisches Sujet, das, so scheint es, trotz aller Versuche kaum zu bewältigen ist, wenn es um die Darstellung des Erlebten durch denjenigen geht, dem das Entsetzliche eben widerfahren ist.
Schon deshalb ist Dieter Fortes zwischen 1992 und 2004 erschienene Tetralogie aus den Romanen "Das Muster", "Tagundnachtgleiche", "In der Erinnerung" und "Auf der anderen Seite der Welt" ein Solitär: Forte beschreibt, wie eine kunstvoll durch die Jahrhunderte ausgesponnene Familiengeschichte ihre Gestalt im Zweiten Weltkrieg abrupt verändert, wie die Sinnbilder für familiäre Traditionen buchstäblich in Flammen aufgehen - und wie ein Junge, aus dessen Perspektive die folgenden drei Romane lang berichtet wird, seine Sprache verliert.
Wie dann aber erzählt wird, mit welcher durch Präzision erwachsenen Schönheit die Perioden auf uns kommen, so makellos, geschliffen und unabweisbar ernsthaft, dass man sie fortwährend laut lesen möchte - wie also Dieter Forte, der an diesem Montag seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiert, sein Romangebäude errichtet, ist einzigartig.
Wir hören vom Luftkrieg mit den Ohren derer, die im Bunker sitzen und hinterher im Gefühl des Davongekommenseins kaum die Straße betreten mögen aus Angst vor dem, das sie dort vorfinden werden; wir lesen vom Dasein zwischen grässlich vertrauten Ruinen und Neubauten, an denen man keinen Teil hat; von Atemnot bis hin zur Todesangst und dem Gefühl, dass nichts so wichtig ist wie die Fähigkeit, zu sprechen und sich mitzuteilen. Fast tausend Seiten umfasst diese Tetralogie; am Ende meint man, damit nicht auszukommen. So gesehen, ist die Kassette, die sie jetzt wie abschließend bündelt, eine Enttäuschung. Allerdings nur so.
spre
Dieter Forte: "Tetralogie der Erinnerung". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. 4 Bde. in Kassette, zus. 975 S., br., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Fortes Tetralogie
Dass es irgendwann nicht mehr geht, dass man nach grauenvollen Erlebnissen verstummt, dass es einem förmlich die Sprache verschlägt: All dies ist eine verbreitete Erfahrung und gleichzeitig ein literarisches Sujet, das, so scheint es, trotz aller Versuche kaum zu bewältigen ist, wenn es um die Darstellung des Erlebten durch denjenigen geht, dem das Entsetzliche eben widerfahren ist.
Schon deshalb ist Dieter Fortes zwischen 1992 und 2004 erschienene Tetralogie aus den Romanen "Das Muster", "Tagundnachtgleiche", "In der Erinnerung" und "Auf der anderen Seite der Welt" ein Solitär: Forte beschreibt, wie eine kunstvoll durch die Jahrhunderte ausgesponnene Familiengeschichte ihre Gestalt im Zweiten Weltkrieg abrupt verändert, wie die Sinnbilder für familiäre Traditionen buchstäblich in Flammen aufgehen - und wie ein Junge, aus dessen Perspektive die folgenden drei Romane lang berichtet wird, seine Sprache verliert.
Wie dann aber erzählt wird, mit welcher durch Präzision erwachsenen Schönheit die Perioden auf uns kommen, so makellos, geschliffen und unabweisbar ernsthaft, dass man sie fortwährend laut lesen möchte - wie also Dieter Forte, der an diesem Montag seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feiert, sein Romangebäude errichtet, ist einzigartig.
Wir hören vom Luftkrieg mit den Ohren derer, die im Bunker sitzen und hinterher im Gefühl des Davongekommenseins kaum die Straße betreten mögen aus Angst vor dem, das sie dort vorfinden werden; wir lesen vom Dasein zwischen grässlich vertrauten Ruinen und Neubauten, an denen man keinen Teil hat; von Atemnot bis hin zur Todesangst und dem Gefühl, dass nichts so wichtig ist wie die Fähigkeit, zu sprechen und sich mitzuteilen. Fast tausend Seiten umfasst diese Tetralogie; am Ende meint man, damit nicht auszukommen. So gesehen, ist die Kassette, die sie jetzt wie abschließend bündelt, eine Enttäuschung. Allerdings nur so.
spre
Dieter Forte: "Tetralogie der Erinnerung". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010. 4 Bde. in Kassette, zus. 975 S., br., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2010Durchtränkt vom
Geist der Familienchronik
In einer Chronik sind nicht die Figuren das Wichtigste. Sondern die Ereignisse. Daran hat Dieter Forte schon im ersten Band seiner Tetralogie, „Das Muster“ (1992), keinen Zweifel gelassen. Er führt darin seine Protagonisten vom Mittelalter, aus dem 12. Jahrhundert und dem Palermo des Stauferkönigs Friedrich II. über Lucca, Florenz und Lyon nach Deutschland und ins zwanzigste Jahrhundert. Dabei wird viel gestorben, auch en passant , aber die Figuren sind ersetzbar beim Zug durch die Zeit.
Da ist die Familie Fontana mit ihren mediterranen Wurzeln und da ist die Familie Lukacz mit ihren polnischen, und weil das über Generationen geht, bis aus den südlichen Seidenwebern ein rheinischer Lokomotivführer hervorgegangen ist und aus den östlichen Bauern Bergarbeiter im Ruhrgebiet geworden sind, müssen die Figuren fürchten, dass ihnen irgendwann das furchtbare Etikett „Familiensaga“ angeheftet wird.
Das passt ihnen aber gar nicht, denn sie kommen, wie gesagt, nicht aus irgendwelchen mythischen Gefilden, sondern aus der Chronik und treten schon am Ende des ersten Bandes der Tetralogie, im noch jungen Dritten Reich, in die Sphäre der Zeitgeschichte ein. Diese durchtränkt sie genau so wie der Geist der Chronik ihre Vorfahren durchtränkt hatte.
Es kommt aber etwas hinzu: der Standpunkt des Erzählers. Seine Perspektive ist die des Rheinlands und des Ruhrgebiets, seine Skepsis gilt den Preußen, denen er die napoleonische Herrschaft vorzieht, und wenn er deutsche Demokraten und Revolutionäre auftreten lassen kann, geht ihm das Herz auf. Sein Trauma aber ist der Zweite Weltkrieg. Im Band „Tagundnachtgleiche“ (1995) wird der Luftkrieg über Deutschland, einige Jahre, bevor die Debatte darüber begann, aus der Perspektive eines Kindes geschildert. An KZs vorbei führt die Tetralogie schließlich in die Nachkriegszeit, in der ein Luftschutzbunker, der zur Tarnung in Form einer Kirche gebaut war, tatsächlich zur Kirche wird. Zu Dieter Fortes 75. Geburtstag am 14. Juni ist die Tetralogie jetzt im Schuber greifbar.
L
othar Müller
Dieter Forte:
Tetralogie der Erinnerung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 1008 Seiten, 39,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Geist der Familienchronik
In einer Chronik sind nicht die Figuren das Wichtigste. Sondern die Ereignisse. Daran hat Dieter Forte schon im ersten Band seiner Tetralogie, „Das Muster“ (1992), keinen Zweifel gelassen. Er führt darin seine Protagonisten vom Mittelalter, aus dem 12. Jahrhundert und dem Palermo des Stauferkönigs Friedrich II. über Lucca, Florenz und Lyon nach Deutschland und ins zwanzigste Jahrhundert. Dabei wird viel gestorben, auch en passant , aber die Figuren sind ersetzbar beim Zug durch die Zeit.
Da ist die Familie Fontana mit ihren mediterranen Wurzeln und da ist die Familie Lukacz mit ihren polnischen, und weil das über Generationen geht, bis aus den südlichen Seidenwebern ein rheinischer Lokomotivführer hervorgegangen ist und aus den östlichen Bauern Bergarbeiter im Ruhrgebiet geworden sind, müssen die Figuren fürchten, dass ihnen irgendwann das furchtbare Etikett „Familiensaga“ angeheftet wird.
Das passt ihnen aber gar nicht, denn sie kommen, wie gesagt, nicht aus irgendwelchen mythischen Gefilden, sondern aus der Chronik und treten schon am Ende des ersten Bandes der Tetralogie, im noch jungen Dritten Reich, in die Sphäre der Zeitgeschichte ein. Diese durchtränkt sie genau so wie der Geist der Chronik ihre Vorfahren durchtränkt hatte.
Es kommt aber etwas hinzu: der Standpunkt des Erzählers. Seine Perspektive ist die des Rheinlands und des Ruhrgebiets, seine Skepsis gilt den Preußen, denen er die napoleonische Herrschaft vorzieht, und wenn er deutsche Demokraten und Revolutionäre auftreten lassen kann, geht ihm das Herz auf. Sein Trauma aber ist der Zweite Weltkrieg. Im Band „Tagundnachtgleiche“ (1995) wird der Luftkrieg über Deutschland, einige Jahre, bevor die Debatte darüber begann, aus der Perspektive eines Kindes geschildert. An KZs vorbei führt die Tetralogie schließlich in die Nachkriegszeit, in der ein Luftschutzbunker, der zur Tarnung in Form einer Kirche gebaut war, tatsächlich zur Kirche wird. Zu Dieter Fortes 75. Geburtstag am 14. Juni ist die Tetralogie jetzt im Schuber greifbar.
L
othar Müller
Dieter Forte:
Tetralogie der Erinnerung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 1008 Seiten, 39,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de