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Anfang der siebziger Jahre herrscht Aufbruchsstimmung in Santiago de Chile: Der sozialistische Präsident Salvador Allende ist fest entschlossen, das Land aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit zu führen und die Not der verarmten Bevölkerung zu mildern. Dafür setzt er auf ein kühnes Projekt: Die Fabriken des unwegsamen Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden. Ein internationales Team, unter ihnen der junge deutsche Industriedesigner Hans Everding, wird beauftragt, das Datennetzwerk aufzubauen. Begeistert ergreift Hans die Chance, an der Revolution…mehr

Produktbeschreibung
Anfang der siebziger Jahre herrscht Aufbruchsstimmung in Santiago de Chile: Der sozialistische Präsident Salvador Allende ist fest entschlossen, das Land aus seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit zu führen und die Not der verarmten Bevölkerung zu mildern.
Dafür setzt er auf ein kühnes Projekt: Die Fabriken des unwegsamen Andenstaates sollen vernetzt und von einem zentralen Rechner gesteuert werden.
Ein internationales Team, unter ihnen der junge deutsche Industriedesigner Hans Everding, wird beauftragt, das Datennetzwerk aufzubauen. Begeistert ergreift Hans die Chance, an der Revolution mitzuwirken und für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.
Der Putsch des Militärs setzt diesem Traum jäh ein Ende. Alle, die an dem Netzwerk mitgearbeitet haben, geraten in Lebensgefahr. Niemand weiß, wer Freund und wer Feind ist, und die gesammelten Daten dürfen keinesfalls in falsche Hände geraten.
Gegen die Zeit erinnert an ein historisches Experiment mit überraschender Aktualität: eine dramatische Geschichte von Aufbruch und Enttäuschung, von Vertrauen und Verrat.
Autorenporträt
Reh, SaschaSascha Reh, geboren 1974 in Duisburg, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Bochum und Wien. Für seine Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2011 mit dem Niederrheinischen Literaturpreis, 2014 mit dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Literatur und 2015 mit dem Literaturpreis Ruhr. 2017 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi, 2018 wurde er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominiert. Sascha Reh lebt mit seiner Familie in Berlin.
Rezensionen
»Es ist selten genug (...), dass politische Sujets mit erzählerischen Anspruch und trotzdem spannend (...) behandelt werden. Das ist nun zum wiederholten Mal bei Reh der Fall.«
Deutschlandradio Kultur

»Ein eminent politischer Roman, der diese Zeit unwahrscheinlich gut einfängt.«
Gerrit Bartels, Deutschlandradio Kultur

»Das Chile Allendes wirkt in Gegen die Zeit wie ein spannendes Experiment mit verblüffenden Berührungspunkten zur Gegenwart.«
Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2015

Messbecher für Milchpulver
Und Cybernet für ein gerechtes Verteilungssystem: In seinem Roman „Gegen die Zeit“
schickt Sascha Reh einen jungen deutschen Industriedesigner ins Chile Salvador Allendes
VON HELMUT BÖTTIGER
Wenn das Wörtchen „Liebe“ in einem Atemzug mit Begriffen wie „Sozialtechnik“ erwähnt wird, befinden wir uns auf dem Höhepunkt der Siebzigerjahre. Politische Termini beherrschten damals die Gespräche ungefähr so, wie es heute Speichermedien, Gigabytes und Wlan-Anschlüsse tun. Zu den wüstesten Einschnitten jener Zeit gehörte zweifellos der Putsch des Generals Pinochet in Chile am 11. September 1973 – einem anderen, mittlerweile längst in den Hintergrund getretenen Schicksalsdatum also, das an diesen Tag gebunden ist.
  Pinochets Militärputsch, mit tatkräftiger Unterstützung der CIA, richtete sich gegen die frei gewählte und bei der nächsten Wahl noch einmal bestätigte sozialistische Regierung von Salvador Allende. Der 1974 geborene Sascha Reh hat das erzählerische Potenzial erkannt, das in der damaligen Konstellation liegt: ein geschichtlicher Moment, in dem so eindeutig wie selten Gut und Böse zu unterscheiden waren, Recht und Unrecht, dramatisch aufgeladen durch die Gewalt des Militärs und der US-Logistik.
  Mittendrin steht der junge Deutsche Hans Everding, die Hauptfigur des Romans. Hans hat in Ulm Industriedesign studiert und ist dann in Frankfurt in die politisch aufgeheizte Situation nach 1968 gekommen. Durch die Vermittlung seines Professors geht er als Entwicklungshelfer nach Chile und lernt dort in Alfonso einen der neuen Politiker kennen, die nach konkreten Möglichkeiten gesellschaftlicher Umgestaltung suchen. Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse ist ein Datennetzwerk, das Hans mit aufbaut. Es soll eine neue Basis für die chilenische Wirtschaft schaffen, sie effizienter und leistungsfähiger machen, vor allem aber flexibel auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren.
  Diese Institution namens Synco hat es im Chile Allendes tatsächlich gegeben. Bei Sascha Reh wird daraus das Corfo-Team. Es bringt mit den aktuellen kybernetischen Methoden die gesamte Industrieproduktion Chiles auf den neuesten Stand. Der Zweck liegt nicht im Profit, sondern in einem weitaus gerechteren Verteilungssystem als im Kapitalismus.
  Der Clou dabei ist, dass das Ganze computergestützt ist und auf einer vollkommen neuen Technik beruht. Das verbindet ein sehr heutiges Erkenntnisinteresse mit Allendes Sozialismusvorstellungen, die einen bis heute einzigartigen Versuch eines nicht totalitären antikapitalistischen Gesellschaftssystems darstellen. Der englische Kybernetiker Stanley Baud erscheint im Roman Sascha Rehs als ein Avantgardist und Visionär. Baud hat bereits die heutigen Formen von Informationstechnologie im Blick und will sie wahrhaft demokratisch nutzen. Sein Modell, das er „Cybernet“, nennt, hat mit bürokratischer Planwirtschaft nicht das Geringste zu tun, will aber alles unterbinden, was die Menschen zu „Konsumsklaven“ degradiert und ein „hochkomplexes, multikausales und gleichzeitiges Geschehen“, wie Baud die Industrieproduktion definiert, „kontrollierbar“ machen. Lustvoll beschreibt Sascha Reh die Innovationen des Corfo-Teams, die frühen Bildschirm- und Verschalttechniken mit riesigen Prozessoren, Fernschreibern und Lochstreifen.
  Das Chile Allendes wirkt dadurch nicht verstaubt oder gestrig, sondern wie ein spannendes Experiment. Der Grafikdesigner Hans sieht sich in den Kern des Geschehens hineinkatapultiert. Nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu den folgenden Projekten ist, dass er gleich am Anfang einen Messbecher für das Milchpulver entwirft, das den unteren Schichten zur Verfügung gestellt wird. Dadurch verhindert er den falschen Gebrauch durch die weitgehend analphabetische Bevölkerung. Furios setzt der Roman mit dem Ende der Allende-Regierung ein, mit den ersten Stunden nach dem Putsch. Hans und sein Kollege Óscar versuchen in diesem brutalen Umfeld, in dem wahllos gemordet wird und alle menschlichen und zivilisatorischen Gesetze außer Kraft gesetzt sind, die Codes und wichtigsten Daten des Corfo-Systems zu retten und schlagen sich mit ihrem wertvollen Koffer durch das chaotische Santiago.
  Das Ganze ist mit Rückblenden erzählt, die große Zeit des Allende-Enthusiasmus und der Überlebenskampf danach wechseln sich in den einzelnen Kapiteln ab. So sind die Zukunftshoffnungen und die Traumata hart gegeneinander geschnitten. Die Sprache ist reportagehaft, vor allem die Unberechenbarkeit und Grausamkeit des Militärs erscheinen in einem scharfen Realismus, wie als genaue Vorlage für ein Filmdrehbuch. Auch die Figur des Comandante Brauer, der Hans Everding nach dem Putsch im Gebäude des Corfo verhört, hat man sofort vor Augen: ein deutschstämmiger Chilene, der das Deutsche mit ungelenken Fremdwörtern anreichert. Brauer hat einen leicht verschobenen Satzbau. Das entspricht seiner Undurchsichtigkeit, seinen taktischen Manövern, seinem Versuch, Hans irgendwelche Geheimnisse abzuluchsen. Und der oberste Militärangehörige, den dieser zu Gesicht bekommt, Coronel Barrientos, erfüllt alle Erwartungen, die man bei einem zynischen Offizier hat.
  Der Gefahr des Klischees, des Abrufens allzu erwartbarer Bilder entgeht der Autor nicht immer. Am deutlichsten wird dies merkwürdigerweise in den kurzen Szenen an der Frankfurter Universität um 1970: die Gesichter, die Parolen, die Sprechweisen wirken fast wie eine Satire auf überkommene Vorstellungen von den 68ern und ihrem Politfanatismus. Allendes Chile erscheint dagegen durchaus differenziert, und vereinzelt gelingen Sascha Reh schöne Genrebilder wie das des Bootsbauers Waldo: Hans versucht, diesen Mann, der sich mit Kunstharzen sehr gut auskennt, dazu zu überreden, bildschirmgerechte Bürostühle herzustellen. Waldo als genialischer Kauz, als Einzelgänger, der Sympathien für Allende, aber Reserven gegen die Politik hat, ist eine charakteristische Figur.
  Sascha Reh wagt sich auch formal ein bisschen aus der Deckung, wenn er die beiden Erzählebenen vermischt: So stellt der Juntacomandante Brauer Hans dieselben Fragen wie früher die Corfo-Mitarbeiter dem Experten Stanley Baud. Das wird ineinandergeblendet und ergibt ein charakteristisches Flimmerbild. Die Parallelisierungen mit dem Vater von Hans, der seinerseits durch den Krieg traumatisiert wurde, entsprechen dann aber eher routinierten Mainstream-Schreibmodellen von heute.
  Als ureigenes literarisches Sujet ist in diesen Politroman natürlich auch eine Liebesgeschichte eingebettet. Hier gibt es, wohl genrebedingt, gewisse Schnittstellen mit einer aufs Spektakuläre ausgerichteten Hollywood-Ästhetik. Ana, die Chilenin, die bei Corfo als Grafik-Designerin arbeitet, wird umso rätselhafter, je näher sie an die Hauptfigur Hans rückt. Sie bleibt, durch die schicksalhaften Zeitumstände befeuert, eine unerreichbare Fantasie, obwohl es einige wenige ekstatische Momente des Zusammenseins gibt. Wenn der Bootsbauer Waldo über seine verflossenen Frauen spricht, ist das wie eine Spiegelung der Erfahrungen, die Hans später mit Ana macht: „Die Richtige erkennt man erst, wenn sie weg ist.“ Dieser Roman setzt weniger auf literarisch-ästhetische Mittel als auf die klassischen Ingredienzen von Spannungs- und Liebesliteratur, ist aber durchaus packend und lesenswert. Und bietet nebenbei eine Einführung in eine fast vergessene Polit-Archäologie, die verblüffende Berührungen mit der Gegenwart hat.
Sascha Reh: Gegen die Zeit. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2015. 353 Seiten, 21,95 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
Furios setzt der Roman ein: in den
ersten Stunden nach dem Putsch
Zum packenden Politroman
gehört auch eine Liebesgeschichte
Das Chile Allendes wirkt in „Gegen die Zeit“ wie ein spannendes Experiment mit verblüffenden Berührungspunkten zur Gegenwart.
Foto: AFP
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Linksploitation mit stark cineastischen Qualitäten erkennt René Hamann in Sascha Rehs drittem Roman. Selbst wenn nicht alles historisch garantiert ist, wie Hamann herausfindet, nehmen ihn der gerade, temporeiche Stil und die auf Originalquellen basierende 1973 spielende Geschichte um einen aus Frankfurt stammenden Revoluzzer auf Chilereise doch mit. Die Vergleiche mit Bolaño leuchten dem Rezensenten ein, nicht aber die mit Borges oder Marquez. Magischen Realismus kann er im Buch nicht erkennen, dafür einen spannenden Plot mit viel Zeitkolorit und Revolutionsromantik.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2015

Wir sind die Schaltstelle, bei der alles landet

In seinem packenden Roman "Gegen die Zeit" erzählt Sascha Reh ein unbekanntes Kapitel aus der Vorgeschichte der digitalen Ökonomie.

Die Geschichte schützt uns immer noch am besten vor gegenwartspathetischem Hochmut. Dies gilt vor allem für solche Tendenzen, die mit dem Gestus einer alles verändernden Wende, eines "Paradigmenwechsels", daherkommen. Sascha Rehs neuer, dritter Roman zeigt dies anhand eines der wohl brennendsten Themen unserer Gegenwart, die manche bereits das "digitale Zeitalter" getauft haben: Es geht um die Planung, Steuerung und Voraussage ökonomischer Entscheidungen und Entwicklungen durch computergestützte Netzwerke, Datensysteme, Algorithmen. "Und vielleicht ... weiß Cybernet dann schon vor dem Verbraucher, wann er eine Hose will. Und welche." Dieser Satz bezieht sich bei Reh mitnichten auf die Welt von Amazon, Facebook und Google; er bezieht sich auf das sozialistische Chile des Salvador Allende.

Reh erzählt von einem historisch verbürgten, allerdings unvollendeten Experiment zu Beginn der siebziger Jahre - von dem großangelegten Versuch, die chilenische Wirtschaft durch rechnergestützte Vernetzung und Kontrolle flexibler, effizienter, produktiver zu gestalten, und zwar in Echtzeit. "Der Strombedarf jedes Verpackungsautomaten, der Anpressdruck jeder Blechpresse, die Laufgeschwindigkeit jedes Förderbandes: Wir sind die Schaltstelle, bei der alle diese Daten landen", so beschreibt Stanley Baud, der wissenschaftliche Projektleiter, das staatlich initiierte Vorhaben. "Cybernet bringt sie miteinander in Verbindung, so unscheinbar sie auch sein mögen, und stimmt sie optimal aufeinander ab. We are the brain of the whole enterprise."

Den wissenschaftlichen Hintergrund für dieses umfassende Steuerungssystem liefert die Kybernetik, das Ungetüm von Riesenrechner kommt von IBM. Der aus Deutschland stammende Protagonist und Erzähler des Romans, der junge Industriedesigner Hans Everding (für den es ebenso ein reales Vorbild gibt wie für den britischen Projektleiter), wird mit der Einrichtung und Gestaltung eines Kontrollzentrums betraut, das nicht nur funktional, sondern auch futuristisch, visionär und bei all dem lässig anmuten soll - ein Design, das nicht von ungefähr ans Raumschiff Enterprise denken lässt. Kurioserweise muss für diese Anmutung auf ziemlich rudimentäre Mittel zurückgegriffen werden: Für die Herstellung der Dias zur Visualisierung der Datensätze braucht es Karton, Skalpell und Bastelkleber; für die kantenfreien Kontrollsessel aus weißglänzendem Kunstharz, an denen Getränkehalter und Aschenbecher nicht fehlen dürfen (Baud: "Damit man sich wohl fühlt!"), wird ein eigenbrötlerischer Bootsbauer aus der Provinz engagiert.

Hans, berauscht von der kollektiven Allende-Begeisterung, zugleich verstört von den politischen Spannungen im Land, die sich immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen, geht seine neue Aufgabe mit Idealismus und Enthusiasmus an. Nachdem der "Beat" der Achtundsechziger-Revolten in Deutschland endgültig verklungen war, hatte sich der Ernüchterte für eine Tätigkeit als Entwicklungshelfer in Chile entschieden; als Dozent an der Universität unterrichtet er zunächst eine Gruppe von Studenten im kostengünstigen und zweckmäßigen Entwurf von Landmaschinen, Steingutgeschirr, Kofferplattenspielern. Aber erst als Mitarbeiter des sogenannten "Corfo"-Teams, das für den Aufbau des "Cybernet" zuständig ist, erkennt Hans für sich die Chance, Entscheidendes zum sozialistischen Gesellschaftsaufbau beitragen zu können. Stanley beschreibt ihm das Projekt als technische Revolution von geradezu epochaler Bedeutung, gleich dem Mondflug der Amerikaner, die aber weder dem Profit noch der Wissenschaft verpflichtet sei: "Der Zweck ... liegt darin, dem chilenischen Volk zu dienen."

Hans' Lebensgeschichte und die Geschichte des "Cybernet" werden über weite Strecken hinweg in Rückblenden nachgezeichnet, die in scharfem Kontrast zur geschickt eingeblendeten Gegenwartserzählung stehen. Pinochets Militärputsch, der am 11. September 1973 beginnt, ist bereits in vollem Gange. Hans und mit ihm die anderen Projektmitarbeiter müssen um ihr Leben fürchten. Zugleich versuchen sie unter den chaotischen Zuständen, die von ihnen angelegte Datensammlung wegzuschaffen: Die auf den Magnetbändern in "unfehlbaren binären Signaturen" verzeichneten Anhänger von Allende und der Unidad Popular wären für Pinochets Schergen per Tastendruck lokalisierbar - "überall in diesem riesigen abgelegenen Land, das die Junta mit ihren Folterhäusern überziehen würde". Das computerisierte Wirtschaftsnetzwerk droht zu einem Instrument des staatlich organisierten Terrors zu werden.

Der mitunter protokollhaft erzählte Roman, der sich in Teilen aus Hans' langen, quälenden Verhören durch einen deutschsprachigen Militär zusammensetzt, gerät im Handlungsverlauf zu einer mitreißenden Hide-and-seek-Story, die in ihren schnellen, harten Schnitten erkennbar an filmischen Erzählverfahren der Gegenwart, etwa der Serie "Homeland", orientiert ist. Dabei verbindet Reh die Kernhandlung mit einer ziemlich klischeehaften Geschichte um Liebe und Verrat in Zeiten des politischen Umbruchs; mit philosophischen Exkursen zur Dynamik gesellschaftlicher Protestbewegungen; mit wissenschaftshistorisch detaillierten Reflexionen über komplexe Systeme und theoretische Möglichkeiten ihrer Regulation.

Bei all dem muss Reh nicht angestrengt auf irgendeinen abstrakten Gegenwartsbezug pochen - er ergibt sich aus dem Stoff selbst. Die sehr weitreichenden Fragen, die in diesem Roman verhandelt werden, sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wahrscheinlich nie plastischer inszeniert worden: Lässt sich angesichts der unübersehbaren Möglichkeiten des klein- oder großangelegten Missbrauchs "Big Data" überhaupt rechtfertigen? Unter welchen meist unausgesprochenen, das heißt ideologischen Voraussetzungen sind Menschen dazu bereit, diese Risiken in Kauf zu nehmen? Und welche merkwürdige Rolle spielt hierbei die Dimension des verführerischen Designs, der anziehenden Haptik vor allem, auf die Reh so ausführlich eingeht? Ohne voreilige Antworten zu liefern, unterstreicht "Gegen die Zeit" eines jedenfalls mit Nachdruck: Mit jeder Datensammlung will man etwas, damals wie heute.

Dieser Roman ist also beides zugleich: ein eindrucksvoll recherchierter historischer Roman, der in ein weithin unbekanntes Kapitel der Zeitgeschichte einführt, und ein ebenso packendes wie gedankenreiches Stück Gegenwartsliteratur. Was daran besonders besticht, ist Rehs transnationaler Ansatz, sein Interesse an globalen Verstrickungen im Bereich von Wissenschaft, Politik und Technik; ein Interesse, das ihn eigens bis nach Chile geführt hat, wo er sich mit den ehemaligen Mitarbeitern des realhistorischen "Cybersyn"-Projekts unterhalten konnte. Das Ergebnis ist ein Roman von erstaunlicher Weltläufigkeit.

KAI SINA

Sascha Reh: "Gegen die Zeit". Roman.

Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2015. 360 S., geb., 21,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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