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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Horror, der aus dem Terror kommt – Jakob Noltes „Schreckliche Gewalten“
Die Sache mit Sofias Tätowierung ist kompliziert, wie fast alles in diesem Buch. In einem perfekten Kreis rund um ihre, auch das erfahren wir, eher kleine Brust lässt sie sich die Worte „Regina tremendae Majestatis“ tätowieren, „Königin schrecklicher Gewalten“. Wobei Sofia sich nicht sicher ist, ob das grammatikalisch ganz korrekt ist, denn bei Giuseppe Verdi, so jedenfalls glaubt Sofia fälschlicherweise, heißt es „Rex ...“, und ob die weibliche Form entsprechend verändert werden muss, weiß Sofia nicht, denn im Handelsgymnasium hatte sie Französisch und nicht Lateinisch gelernt. So oder so ist sie stolz, dass die Frakturlettern „finster und bossmäßig“ aussehen. Das muss reichen.
„Schreckliche Gewalten“, der zweite Roman des jungen Schriftstellers Jakob Nolte, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, funktioniert wie ein Hypertext. Kein Gedanke, kein Ereignis, die nicht umgehend Assoziationen und eine Kette von neuen Ereignissen auslösten. Eine Flut von Informationen, brauchbaren oder auch nutzlosen, glaubhaften oder abstrusen, überflutet ganz gezielt jeden Ansatz einer stringenten Handlung. Die wiederum ist unter dem wahnwitzigen Wortschwall, der über uns hereinbricht, trotzdem in Umrissen zu erkennen und vielleicht am Ende doch wichtiger, als es zunächst erscheinen mag. In erster Linie aber erweckt Jakob Nolte den Eindruck, als habe er sich vorgenommen, sämtliche in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorherrschenden Stilbegriffe wie Lakonie oder Erzählökonomie vom Tisch zu fegen. Über den dazu notwendigen rhetorischen Apparat verfügt er ohne Zweifel. Die Frage ist aber auch, was man dann damit anfängt.
„Schreckliche Gewalten“ setzt ein mit einer Szene wie aus einem Horrorfilm: Die Zwillinge Edvard und Iselin verlieren auf einen Schlag zugleich Vater und Mutter. Hilma Honik, die Mutter, verwandelt sich in einer Vollmondnacht des Jahres 1973 im norwegischen Bergen in einen Werwolf, zerfleischt Gabriel, den Vater, und schläft wieder ein. Ein genetischer Defekt, wie es heißt, der möglicherweise auf eines der beiden Kinder vererbt worden sein könnte. Hilma wird später aus der Einrichtung, in die man sie bringt, entkommen und ihr Leben auf der Flucht verbringen. Und auch ihre beiden Kinder werden, getrennt voneinander, eine unstete Existenz führen. Iselin als feministische Terroristin, die gemeinsam mit einer Gruppe „Mädchen im System“ Prostituierte als Geiseln nimmt, um die Prostitution abzuschaffen. Edvard dagegen reist von Norwegen aus durch diverse Sowjetrepubliken, macht Reisebekanntschaften, hat ein Coming-out und landet schließlich in Afghanistan.
All das lässt sich glatt und bruchlos nacherzählen und wird dem Roman selbst doch nur entfernt gerecht. Denn „Schreckliche Gewalten“ ist selbst ein Monstrum; ein scheinbar unkontrollierbares, aber doch, wie sich herausstellt, exakt orchestriertes Textgeflecht, das kalkuliert keine Abschweifung und auch keine Sackgasse auslässt. Naturwissenschaftlicher Jargon, Parodien auf literarische Sprech- und Schreibweisen, Kalauer, pornografische Szenen, Popkultur, Trash, Tarantino, schwarze Romantik – all das mischt Nolte zu einem wilden Gebräu zusammen. Und es ist unmöglich, die Virtuosität zu verkennen, mit der das geschieht. Nolte beherrscht sein Material und seine schier zahllosen Ausdrucksformen in vollendeter Souveränität.
Das weiß er ganz offensichtlich auch, und das ist ein Problem. Streckenweise macht dieses Pointen-Dauerfeuer in seiner überschießenden Energie und Ressourcenverschwendung Spaß. Oft aber leidet „Schreckliche Gewalten“ auch an einer Überdosis an technischer Fingerfertigkeit. Man wird den Eindruck nicht los, es mit einem klügelnden Streber zu tun zu haben, der ein Feuerwerk abbrennt, um zu zeigen, was er alles kann, nämlich alles, Taschenspielertricks inklusive.
Noltes Hang zum Brillieren produziert permanent Redundanzen. Das ist ganz sicher gewollt, aber auch auf eine unbefriedigende Weise anstrengend und angestrengt. „Edvards erste Freundin hieß Lena und war, wie ihr Name schon sagt, Lena“ ist so einer von Hunderten Sätzen, die man wahlweise erhellend, gequält lustig oder schlicht überflüssig finden kann. Oder auch Iselins Gedanken beim Betrachten von Sofias (die sich da schon Moira nennt) Augen: „Es war weniger eine Farbe als ein Schimmern, zu vergleichen mit der optischen Erscheinung, die entsteht, wenn sich Licht in Benzin auf nassem Asphalt bricht – was übrigens mit einem Effekt zusammenhängt, der Interferenz genannt wird.“
Hinter der universalen Bescheidwisserei von Noltes Hihihi-hier- und Kicher-dort-Prosa, die keinerlei Zweifel hat an sich und ihrer Wirkung, soll allerdings ein tieferer Ernst stecken. Das terroristische Jahrzehnt der Siebzigerjahre scheint in seiner ganzen Bandbreite auf: Der Vater der Zwillinge, das wird nebenbei bemerkt, war ein NS-Scherge, und überall stellt sich die Frage nach der Möglichkeit und den Mitteln von Weltveränderung und Systemumsturz: RAF, die Geiselnahme während der Olympischen Spiele 1972 – alles da. Hilmas jüdischer Familienhintergrund wiederum, inklusive Konzentrationslager, wird auf zwei, drei Seiten im gleichen flotten Tonfall abgearbeitet wie ein Kater-Kopfschmerz nach einer durchzechten Nacht.
Ist „Schreckliche Gewalten“ der Versuch, den Horror der Geschichte als Horrorroman zu erzählen? Oder ist das historische Material lediglich eines der vielen Bauklötzchen, mit denen der begabte Schriftsteller Jakob Nolte seine Türmchen baut? Die Frage ist nach der Lektüre von „Schreckliche Gewalten“ nicht zu beantworten.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 340 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Der Hang zum Brillieren
produziert permanent
Redundanz, das ist anstrengend
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