Reisen zu den Orten des Schreckens
Der sowjetische Gulag war eine der größten Tötungsmaschinen in einem Jahrhundert der Tötungsmaschinen. Niemand war sicher. Masha Gessen und Misha Friedman sind quer durch Russland gereist, zu den Orten des Schreckens, haben mit Menschen gesprochen und Schicksale rekonstruiert. Bewusst geworden ist ihnen dabei vor allem eines: Der Terror des Gulag ist nicht etwa vergessen. Man hat sich nie richtig an ihn erinnert.
Der sowjetische Gulag war eine der größten Tötungsmaschinen in einem Jahrhundert der Tötungsmaschinen. Niemand war sicher. Masha Gessen und Misha Friedman sind quer durch Russland gereist, zu den Orten des Schreckens, haben mit Menschen gesprochen und Schicksale rekonstruiert. Bewusst geworden ist ihnen dabei vor allem eines: Der Terror des Gulag ist nicht etwa vergessen. Man hat sich nie richtig an ihn erinnert.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Viktor Funk lobt Masha Gessen und Misha Friedman für ihren Versuch, russische Geschichte zu bewahren und zu verstehen. Wie in Putins Russland die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und das Gedenken an die Opfer systematisch be- und verhindert wird, zeigen Gessen und Friedman laut Rezensentin anhand von einzelnen Aspekten und Orten der Gulag-Geschichte. Dass die Ordnung der Fotos im Band nicht nachvollziehbar ist, schmälert den Erkenntnisgewinn für Funk zwar geringfügig, Gessens essayistische Texte über Putin oder Menschen, die noch immer nach ihren Angehörigen und ihren Wurzeln suchen, scheinen ihr jedoch von unwiderstehlicher Kraft und moralischer Integrität.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2019Geschichtsbild nach Moskauer Art
Masha Gessen hat erkundet, was das Gulag-System dem heutigen Russland sagt
Der Weg zum Gulag führt an drei Bächen vorbei, sie heißen „Teufel“, „Dämon“ und „Satan“. Wobei Weg nicht das richtige Wort ist, nur wenige Einheimische wissen, was da einmal gewesen ist in der Wildnis von Butugytschag an der Kolyma im äußersten Nordosten Russlands. Und wie man dort hinkommt. Wer die Strapazen auf sich nimmt, wie die Publizistin Masha Gessen und der Fotograf Misha Friedman, der sieht plötzlich eine gemauerte Plattform, vollständig bedeckt mit abgetragenen, verwitterten Schnürschuhen. Ein Bild, wie man es aus Auschwitz kennt, als Symbol für das Ausmaß des Völkermords. Die Schuhhaufen von Butugytschag „hat niemand hier aufgeschichtet, um Besucher zu beeindrucken. Butugytschag ist von selbst zum Museum geworden“, schreibt Gessen. „Nur kommt niemand dorthin, um die Ausstellung zu sehen.“ Und so soll es auch bleiben, wenn es nach Wladimir Putin geht.
Die jüngst für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ vielfach preisgekrönte Autorin hat hier einen beeindruckenden Essayband vorgelegt, der sich mit Stalins Mordmaschine im heutigen Russland befasst. Dabei führt der deutsche Titel „Vergessen“ jedoch in die Irre. Besser trifft es das englische Original: „Never remember“. Nur wenige Menschen in Russland interessieren sich für dieses Arbeitslager-Terrorsystem, mit dem die Kommunisten zwischen 1930 und 1953 die Sowjetunion überzogen und Millionen quälten und ermordeten. Eine Bürgerrechtlerin sagt dann auch zu Gessen, man könne nicht von Vergessen sprechen, denn das setze Erinnern voraus und das habe nie stattgefunden. Und so ist der Gulag heute kaum irgendwo zu greifen, es gibt nur wenige Museen. Und dort wird ein Geschichtsbild präsentiert, das besagt, der Gulag sei eben passiert, aber dies bedeute für Gegenwart und Zukunft nichts.
Die Essays handeln von mutigen Menschen, die nach den Opfern suchten und sich fürs Erinnern einsetzen. Sie handeln davon, was der Staat unternimmt, dieser Leute Arbeit zu behindern. Und sie handeln davon, dass einige dieser Leute Putin trotzdem nicht grundsätzlich schlecht finden. Weil sie auch einmal auf der Seite der Sieger sein wollen.
ROBERT PROBST
Masha Gessen (Texte) / Misha Friedman (Fotos): Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland. Aus dem Englischen von Sven Koch. dtv, München 2019. 160 Seiten, 25 Euro.
In Sandormoch war einst eine Hinrichtungsstätte, inzwischen gibt es dort eines der wenigen Gulag-Mahnmale.
Foto: Misha Friedman, aus dem Besprochenen Buch
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Masha Gessen hat erkundet, was das Gulag-System dem heutigen Russland sagt
Der Weg zum Gulag führt an drei Bächen vorbei, sie heißen „Teufel“, „Dämon“ und „Satan“. Wobei Weg nicht das richtige Wort ist, nur wenige Einheimische wissen, was da einmal gewesen ist in der Wildnis von Butugytschag an der Kolyma im äußersten Nordosten Russlands. Und wie man dort hinkommt. Wer die Strapazen auf sich nimmt, wie die Publizistin Masha Gessen und der Fotograf Misha Friedman, der sieht plötzlich eine gemauerte Plattform, vollständig bedeckt mit abgetragenen, verwitterten Schnürschuhen. Ein Bild, wie man es aus Auschwitz kennt, als Symbol für das Ausmaß des Völkermords. Die Schuhhaufen von Butugytschag „hat niemand hier aufgeschichtet, um Besucher zu beeindrucken. Butugytschag ist von selbst zum Museum geworden“, schreibt Gessen. „Nur kommt niemand dorthin, um die Ausstellung zu sehen.“ Und so soll es auch bleiben, wenn es nach Wladimir Putin geht.
Die jüngst für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ vielfach preisgekrönte Autorin hat hier einen beeindruckenden Essayband vorgelegt, der sich mit Stalins Mordmaschine im heutigen Russland befasst. Dabei führt der deutsche Titel „Vergessen“ jedoch in die Irre. Besser trifft es das englische Original: „Never remember“. Nur wenige Menschen in Russland interessieren sich für dieses Arbeitslager-Terrorsystem, mit dem die Kommunisten zwischen 1930 und 1953 die Sowjetunion überzogen und Millionen quälten und ermordeten. Eine Bürgerrechtlerin sagt dann auch zu Gessen, man könne nicht von Vergessen sprechen, denn das setze Erinnern voraus und das habe nie stattgefunden. Und so ist der Gulag heute kaum irgendwo zu greifen, es gibt nur wenige Museen. Und dort wird ein Geschichtsbild präsentiert, das besagt, der Gulag sei eben passiert, aber dies bedeute für Gegenwart und Zukunft nichts.
Die Essays handeln von mutigen Menschen, die nach den Opfern suchten und sich fürs Erinnern einsetzen. Sie handeln davon, was der Staat unternimmt, dieser Leute Arbeit zu behindern. Und sie handeln davon, dass einige dieser Leute Putin trotzdem nicht grundsätzlich schlecht finden. Weil sie auch einmal auf der Seite der Sieger sein wollen.
ROBERT PROBST
Masha Gessen (Texte) / Misha Friedman (Fotos): Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland. Aus dem Englischen von Sven Koch. dtv, München 2019. 160 Seiten, 25 Euro.
In Sandormoch war einst eine Hinrichtungsstätte, inzwischen gibt es dort eines der wenigen Gulag-Mahnmale.
Foto: Misha Friedman, aus dem Besprochenen Buch
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Gessen und Friedman haben in 'Vergessen' getan, was sie konnten: Sie haben nach Stalins Gulags in Putins Russland gesucht, um gegen das Verlöschen der Erinnerung anzukämpfen. (...) Das Buch, das dabei herausgekommen ist, wird Ihnen lange Zeit den Schlaf rauben. Malcom Jones The Daily Beast, 5. März 2018