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Die Differenz östlicher und westlicher Lebensformen steht im neuen Buch von Wolfgang Engler im Vordergrund. Als Neuankömmling in der westlichen Kultur fragt der Autor nach einer ganzen Reihe nur scheinbarer Selbstverständlichkeiten: nach der tatsächlichen Modernität einer Moderne, die mit sich fertig scheint und überdies Züge einer »bürgerlichen Ständegesellschaft« trägt; nach der Verläßlichkeit zivilisatorischer »Errungenschaften«, denen der Bauplan abhanden kam; nach der Fähigkeit der Privatleute, störanfällige Institutionen im Krisenfall wirksam zu vertreten; nach Regeln und Praktiken eines…mehr

Produktbeschreibung
Die Differenz östlicher und westlicher Lebensformen steht im neuen Buch von Wolfgang Engler im Vordergrund. Als Neuankömmling in der westlichen Kultur fragt der Autor nach einer ganzen Reihe nur scheinbarer Selbstverständlichkeiten: nach der tatsächlichen Modernität einer Moderne, die mit sich fertig scheint und überdies Züge einer »bürgerlichen Ständegesellschaft« trägt; nach der Verläßlichkeit zivilisatorischer »Errungenschaften«, denen der Bauplan abhanden kam; nach der Fähigkeit der Privatleute, störanfällige Institutionen im Krisenfall wirksam zu vertreten; nach Regeln und Praktiken eines öffentlichen Diskurses, der seine liberalen Ursprünge zunehmend verleugnet, und nach anderem mehr.

Was die einzelnen Betrachtungen zusammenhält, ist ein zeitdiagnostisches Interesse in der Art der Ethnologie der eigenen Kultur: Wer sind wir, wo stehen wir nach dem Untergang des Staatssozialismus? Wie können, wie sollen wir uns zu Traditionen und Institutionen verhalten, denen der Systemgegensatz den Anschein höherer Vernunft verlieh, die aber jetzt, ohne äußere Bedrohung, eigentümlich überholt und ratlos wirken?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Volkseigene Individualität
Wolfgang Englers komplexer Osten / Von Mark Siemons

Mit der Wiedervereinigung stieß nicht nur die östliche Verstehenskapazität an ihre Grenzen. Auch das westliche Vorstellungsvermögen kam meist nicht über die hilflose Wendung vom "real existierenden Sozialismus" hinaus, der nun der modern ausdifferenzierten, pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik Platz gemacht habe. Begriffe völlig verschiedener Sphären stießen aufeinander: Auf Marx folgt Luhmann, und den DDR-Bürgern kommt es zu, sich der überlegenen Terminologie so rasch als möglich einzugliedern.

Schon vor der Wende versuchte der Ost-Berliner Philosoph Wolfgang Engler diese Beziehungslosigkeit zu durchbrechen, indem er die Gesellschaft der DDR nicht mit den Fachausdrücken des Marxismus-Leninismus, sondern in den Kategorien westlicher Theorie, mit Norbert Elias, Foucault und Lévi-Strauss beschrieb. In einem kleinen Kunstinstitut am Prenzlauer Berg hatte er die nötige Freiheit dazu, jenseits des Zirkels von Staatsinteresse und Dissidenten-Engagement.

Nun werden die Früchte dieses Eremitendaseins sichtbar. Engler sieht den Grundfehler der westlichen Beurteilung des Ostens darin, aus dem abstrakten Begriff "Staatssozialismus" unvermittelt auf alle konkreten Umstände der Existenz zu schließen: "Man identifiziert die DDR, die Lebensverhältnisse und Lebensweisen ihrer Bewohner so sehr mit dem politischen Kalkül der Machthaber, daß kein Rest bleibt." Engler zeigt nun, daß viele Absichten in der Wirklichkeit nicht aufgingen, vielmehr geradezu paradoxe Effekte erzeugten. In seiner ersten, 1993 erschienenen Aufsatzsammlung "Die zivilisatorische Lücke" hatte er beschrieben, wie durch die frühe Austreibung des Bürgertums Stil und Formen in der DDR verfielen. Die auf Fremdzwang beruhende Ordnung, die die barbarischen neuen Funktionseliten etablierten, konnte deren Herrschaft nicht überdauern; das im Westen übliche Fremd-Selbstzwang-System, so schloß Engler mit Eliasschen Kategorien, ein anspruchsvolleres Muster der Verhaltenszivilisierung, müsse nun erst mühsam erworben werden.

Das neue Buch, "Die ungewollte Moderne", hat einen deutlich anderen Ton. Er ist gereizter, aggressiver - aber nicht gegenüber der DDR-Vergangenheit, sondern gegenüber der Gegenwart der Bundesrepublik. Er wirft den westlichen Intellektuellen vor, daß sie ihre vornehmste Aufgabe vernachlässigen: von ihrem eigenen So-Sein Abstand zu nehmen, sich selbst in die Objektivierung einzubeziehen. Sie seien derart in die harmonisch ineinandergreifenden Sphären des Luhmannschen Kosmos eingegliedert, daß sie dessen Kategorien ohne weitere Nachfragen übernehmen, wenn sie das Bild ihrer selbst "als moderne Menschen formen". Englers fremder Blick fällt nun auch auf diese westliche Gesellschaft, die er nicht länger bloß nach ihren eigenen Absichten bewerten will. Er macht Ordnungsregeln der erstarrten westlichen Diskurse aus, die allzeit "weiblich, Ich-bezogen, stark engagiert, links, mit sich selbst identisch, universell erregbar, radikal zivilisationskritisch" sein müßten. Das schlechte Gewissen der Achtundsechziger, daß sie ohne Systemwechsel heute die Gesellschaft mitgestalten, habe zu einer "notorischen Unfähigkeit, sich zu freuen" geführt.

Engler greift den träge gewordenen Überlegenheitskomplex des Westens an seiner empfindlichsten Stelle an: der "Individualisierung". Auch wenn der Westen noch so viele soziale, ökologische und persönliche Katastrophen zugestehen muß, so hält er sich doch zugute, daß dies zumindest auf höchst moderne, eben "individualistische" Weise geschieht. Die Individualisierung sieht er als eines seiner letzten verbliebenen Unterscheidungsmerkmale an. Engler zeigt nun sowohl, daß es entgegen allem Anschein Individualisierung auch im Osten gab, wie auch, daß man sie sich keineswegs immer als einen glücklichen Vorgang vorstellen muß, daß sie zur Bewältigung der modernen Probleme allein nicht hinreicht.

Wäre die DDR-Gesellschaft so konform gewesen, wie es das Selbstbild der SED und die Außenwahrnehmung des Westens wollten, wäre die Wende gar nicht zu verstehen: "Ohne Inseln unkorrumpierter Erfahrung stünden wir dem Ende der DDR wie einem Wunder gegenüber." In Wahrheit seien die Individualisierungsschübe in Osteuropa oft dramatischer verlaufen als im Westen. Schon ganz zu Beginn habe die beschleunigte Industrialisierung und Kollektivierung, mit denen die neuen Machthaber eine "Vergesellschaftung von oben" durchsetzen wollten, gewachsene Gemeinschaften und Bindungen aufgelöst und verfügbar gemacht.

Dieses eher passive "Individualisiertwerden" wurde später durch das ergänzt, was Engler "Deobjektivierung" nennt: Die Politisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Bürokratie habe noch die funktionalsten Beziehungen wie die eines Einkaufs oder eines Behördengangs unberechenbar gemacht. Damit aber wuchs den letzten Gliedern der funktionalen Ketten eine gänzlich ungeplante Bedeutung zu: Man mußte ein gutes persönliches Verhältnis zu den kleinen Beamten und Ladenmädchen entwickeln, um an die Dinge des täglichen Bedarfs zu kommen. Die Selbstversorgungsstrategien führten zu einer permanenten "Beziehungsarbeit", die im anderen am Ende weniger den Funktionsträger sah als das wankelmütige, günstig zu beeinflussende Individuum. Selbst die Verwaltung war dem Primat der Ideologie unterstellt. Persönliches Handeln, Zivilcourage gar, war daher tabu und mußte, da es doch notwendig war, um den Betrieb am Laufen zu halten, als bloßes Sichverhalten getarnt werden: Engler nennt das eine "Individualisierung von Anonymität".

Auf diese Weise konnte das schwer aufzulösende Amalgam aus Anpassung, Widerspenstigkeit und apolitischer Privatheit zustande kommen, das Außenstehende so verwirren kann. Der ständige "Nahkampf" verstellte laut Engler den Akteuren "immer wieder den Blick auf die umfassenderen Realitäten, die allein ihnen ,sagen' konnten, wo sie sich selbst gehörten und wo äußeren Determinierungen". Gleichwohl verleihe ebendiese Bewährung in "staatlich alimentierten Privatverhältnissen" den ehemaligen DDR-Bürgern heute eine spezifische Kompetenz, ein Kapital, mit dem sie im Wettbewerb mit den Westdeutschen wuchern können.

Von den Herrschaftsformeln soziologischer Wissenschaftlichkeit, mit denen sich das Buch wappnet, sollte man sich nicht einschüchtern lassen, auch nicht von manchen Sätzen, die über dem Willen zur Konzentration arg kompliziert geraten. Das ist offenbar der Preis, der für die unermüdliche Mühe der Distanzierung und Selbstdistanzierung zu zahlen war. Belohnt wird sie durch eine Fülle ironischer Beobachtungen, nicht zuletzt über das Milieu Ostberliner Intellektueller, dem der Autor selber entstammt. Als diese Dissidenten, Häretiker und Außenseiter kurz nach der Wende mit dem ganzen Schatz soziokultureller Initiativen beglückt wurden, den der Westen zu bieten hat ("Die Ostfrauen durften lernen, sich endlich wie richtige Frauen zu verhalten"), schlug die anfängliche Neugier in Trotz um. "In diesem kritischen Moment, der sie ganz auf sich zurückwarf, freuten sie sich zum ersten Mal seit langen Jahren aufrichtig. Obwohl es eigentlich verboten war, stimmten sie das Lied der guten alten Zeit an, erst einzeln und verschämt, dann lauthals und im Chor." Natürlich wurden sie bald zur Ordnung gerufen: "Seither herrscht gereiztes Schweigen."

Wolfgang Engler: "Die ungewollte Moderne". Ost-West-Passagen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 283 S., br., 19,80 DM.

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