Chesterton verteidigt die Tradition, das Wunder, die Phantasie und das Dogma, aber auf eine Art und Weise, die jedem Dogmatiker von Herzen zuwider sein muss; denn er beruft sich dabei einzig und allein auf die alltägliche Erfahrung, den common sense, die Vernunft und die Demokratie. Man kann sein Buch auch als die Autobiografie eines Abenteurers lesen, der mit zwölf ein Heide, mit sechzehn ein Agnostiker war und den einzig und allein sein wildes Denken zum Glauben führte. Chesterton wurde 1874 in London geboren und starb dort 1936. Er war Zigarrenraucher und Dialektiker, Vielschreiber und Gourmand. Er verfasste hundert Bücher.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gilbert Keith Chesterton liebt Paradoxien, und weil die Welt, das Leben und das Christentum voller Widersprüche sind, passen sie für ihn auch so gut zueinander, berichtet Elmar Schenkel. Von "Orthodoxie" hat der Autor selbst gesagt, dass es sich um eine Art lapidarer Autobiografie handelt, verrät der Rezensent. So richtig klar wird dann aber nicht, ob es wirklich eine ist - nur die Themen arbeitet Schenkel deutlich heraus. Für Chesterton weist das ganze Dasein auf das Übernatürliche hin: Die Welt "ist erstaunlich, und es kann nur eine erstaunliche Religion sein, die dieser Absurdität standhält". Während der Autor sich über allerhand Irdisches und Überirdisches wundert, teilt er ordentlich nach allen Seiten aus, berichtet der Rezensent. Neobuddhisten aufgepasst, Naturanbeter, nehmt euch in Acht - aber auch Bänker und Philosophen bekommen ihr Fett weg, warnt Schenkel. Zum Glück gibt es den modernen agnostischen Leser, der sich auch über dieses Buch wundern kann, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Vor 100 Jahren erschien Chestertons „Handreichung für Ungläubige”
Ein wirbelndes Abenteuer, eine permanente Revolution sei die Orthodoxie: Davon war Gilbert Keith Chesterton durchdrungen, als er seine „Handreichung für Ungläubige” schrieb, die heute vor 100 Jahren erstmals erschien. Die Wahrheit dieses Paradoxons illustrierte Chesterton anschaulich. Ein weißer Pfosten, den man sich selbst überlasse, werde bekanntlich bald schwarz. Wolle man unbedingt, „dass er weiß bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heißt, man muss beständig für eine Revolution sorgen. Wer den alten weißen Pfosten will, muss für einen neuen weißen Pfosten sorgen.”
Im Vorwort zur deutschen Neuübersetzung von 2000 weist Martin Mosebach darauf hin, dass Chestertons „Orthodoxie” am Ende eines Jahrhunderts entstand, „in dem der Atheismus philosophisch triumphiert hatte, und am Anfang eines Jahrhunderts, in dem er politisch triumphieren würde.” Insofern war es in mehrfacher Hinsicht verwegen, den Dernier cru des säkularen Denkens mit den Mitteln der Ironie und der Tradition lächerlich zu machen und zugleich die ausgezehrte anglikanische Kirche, der er damals noch angehörte, der Kumpanei mit dem Zeitgeist zu bezichtigen. In seiner Autobiographie bekennt Chesterton, er habe sich nicht damit abfinden wollen, dass inner- wie außerkirchlich „die Frage nach der Möglichkeit jeder Moral” diskutiert wurde. Unter Verweis auf Vererbungs- und Milieutheorien wollte man „die Frage der Verantwortlichkeit, die zuweilen die Frage des freien Willens genannt wird,” suspendieren. Da war man bei Chesterton, dem radikalen Subjektivisten im Namen radikaler Objektivität, an den Falschen geraten. Er ziehe es weiterhin vor, „als verantwortliches Wesen behandelt zu werden, nicht als Verrückter, den man für einen Tag hat laufen lassen”. Also suchte er ein „geistiges Asyl, das nicht nur ein Asyl für Verrückte wäre,” und er fand es in einer christlichen Orthodoxie.
Herz- oder Hirnerweichung
Wenngleich Chesterton 1922 – der sakramentalen Sündentilgung wegen – Katholik wurde, erfasst kein Bekenntnis seine persönliche Orthodoxie. Er sieht in ihr ein schöpferisches Veto auf dem Marsch in eine neue, durchökonomisierte, durchtechnisierte, verwissenschaftlichte Welt. Von einem realistischen Standpunkt aus, der dem Menschen alle Bosheit zutraut, begehrt Chesterton auf. Er wendet sich gegen die zweckrationale „entwurzelte Vernunft”, gegen die endlose Suche nach Fragen statt nach Antworten, gegen die Überhöhung des Ichs zum „Gott im Innern” und gegen die Politisierung des Glaubens. Unstillbar ist sein Drang nach Widerrede und Verflüssigung, so dass sein Denken in kein orthodoxes System mündet, sondern in die Aphorismen der eigenen Person: „Wer nicht zulässt, dass sein Herz weich wird, bezahlt das mit Hirnerweichung.”
Als die amerikanische „Chesterton Society” Mitte Juni drei Tage lang in St. Paul, Minnesota, über „Orthodoxie” konferierte, über deren Verhältnis zu Nietzsche und Pascal, Shakespeare, Jane Austen und dem Islam, traf man sich in der Überzeugung, der Geehrte sei „einer der tiefsten Denker, die je lebten”. Derlei Begeisterung trägt zwar Züge orthodoxen Fan-Wesens, ganz unbegründet ist sie nicht. Chestertons Ahnung, „dass die Leugnung des Übernatürlichen immer auf antidemokratischem Denken oder materialistischem Dogmatismus” beruhe, ist ebenso wenig konsensfähig wie die Befürchtung, „fast jeder heutige Versuch, Freiheit in der Kirche zu stiften”, sei nur „ein Versuch, Tyrannei in die Welt zu bringen.” Seine Beobachtung aber, jede Republik brauche Traditionen, also „Demokratie für die Toten”, trifft auch unsere Gegenwart. Und damals wie heute ist es eine anregende Zumutung, sich mit Chesterton die Orthodoxie als den einzig wahren Nährboden des Liberalismus vorzustellen – und als humorvolles Gegengift gegen Verzweiflungen und Anmaßungen jedweder Art. ALEXANDER KISSLER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de