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William T. Vollmann, der in einer Reihe mit Thomas Pynchon und David Foster Wallace steht, hat mit Europe Central ein Krieg und Frieden für das 21. Jahrhundert geschrieben – ein Epos in Übergröße, in 37 Kapiteln von fiktiven und realen Personen, Künstlern wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch oder Militärs wie General Wlassow und Friedrich Paulus, dem Verlierer von Stalingrad. Ihre Lebensgeschichten beschwören aufs Neue die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischer und deutscher Seite herauf. Aber im Zentrum des Romans steht eine Liebe: die bedingungslose Liebe von…mehr

Produktbeschreibung
William T. Vollmann, der in einer Reihe mit Thomas Pynchon und David Foster Wallace steht, hat mit Europe Central ein Krieg und Frieden für das 21. Jahrhundert geschrieben – ein Epos in Übergröße, in 37 Kapiteln von fiktiven und realen Personen, Künstlern wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch oder Militärs wie General Wlassow und Friedrich Paulus, dem Verlierer von Stalingrad. Ihre Lebensgeschichten beschwören aufs Neue die Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf sowjetischer und deutscher Seite herauf. Aber im Zentrum des Romans steht eine Liebe: die bedingungslose Liebe von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja. Schieben wir zur Seite, was wir über Geschichte wissen, und lassen wir uns ein auf dieses wagemutige, gewaltige, faszinierende, tiefgreifende und umfassende Werk: Europe Central. »Ein ›Krieg und Frieden‹ des 20. Jahrhunderts, mit dem sich Vollmann endgültig seinen Rang in der Weltliteratur gesichert hat.« Welt am Sonntag

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Autorenporträt
William T. Vollmann, geboren 1959 in Los Angeles, Autor zahlreicher Romane, Erzählbände und Sachbücher, mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Whiting Award; regelmäßige Veröffentlichungen in The New Yorker, New York Times Magazine, Esquire, Wall Street Journal u.a. Der Autor lebt in Kalifornien.

Robin Detje, Autor, Übersetzer, Regisseur, geboren 1964 in Lübeck, lebt in Berlin. Mit Europe Central legt er seine anspruchsvollste, umfangreichste, beste Übersetzung vor.

Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Carsten Hueck kommt aus dem Staunen nicht raus. Was dieser stark übersetzte Roman alles ist und kann: Liebesgeschichte, Künstlerroman, Historienschinken, Verhaltens- und Gewaltstudie etc. Zusammengehalten laut Hueck durch die überbordende Fantasie des William T. Vollmann. Allerdings warnt Hueck den Leser auch vor enttäuschten Erwartungen. So auf die Schnelle sei der Genuss der Vielfalt nicht zu haben, schreibt er, der Leser müsse sich Zeit nehmen. Dann aber erlebt er die ersten drei Viertel des letzten Jahrhunderts, Leningrad, Stalingrad, Dresden, Berlin und Moskau, bevölkert mit drei Dutzend (!) Hauptfiguren, Schicksalen, aus wechselnder Erzählperspektive. Klassische Erzählweisen tauscht der Rezensent da gerne gegen Fakten und Imagination in schönster Bewegung und eine Sprache, zynisch und poetisch, erschreckend und lakonisch. Fragen, wie zuletzt bei Peter Weiss und Sartre beschäftigen den Rezensenten sodann, Fragen nach dem Aggregatzustand der Identität in Extremen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2013

Wir erzählen
nur in Grau
William T. Vollmanns großer Weltkriegsroman:
Selbstbewusst, herausfordernd, quälend
VON LOTHAR MÜLLER
Am Sonntag, am frühen Abend, stand in Berlin die im November 1941 von den Deutschen im Westen Moskaus hingerichtete junge Partisanin Soja Kosmodemjanskaja wieder auf. Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann las im Kino Babylon am Rosa Luxemburg-Platz aus der Originalausgabe seines großen Romans „Europe Central“, dessen Titel in der soeben erschienenen deutschen Ausgabe beibehalten ist. Darin stirbt die Partisanin. Die Schlinge schon um den Hals, sagt sie zu den deutschen Soldaten an ihrer Seite den Satz, der in ihren Ruhm einging: „Ihr könnt nicht alle hundertneunzig Millionen Russen aufhängen.“
  In Vollmanns Roman wird Soja, deren nackte, grausam verstümmelte Leiche ein Prawda-Reporter fotografiert hat und die zur Heldin eines Films wird, zur Doppelgängerin ihrer selbst. Die junge Tote führt ihr Nachleben als Ikone der Kriegspropaganda, ihr Körper wird zum Bild der russischen Landschaft und geistert durch die Träume des Generals Wlassow, der zu den Deutschen überlaufen wird. Sie ist Teil der langen Prozession von Toten, für die dieser tausendseitige Roman zum Mausoleum wird. Sein Schauplatz ist Europa zwischen dem frühen zwanzigsten Jahrhundert und den Siebzigerjahren. In seinem Zentrum prallen das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin aufeinander, und auf der Tonspur erklingt die Musik von Dimitri Schostakowitsch.
  Der österreichische Autor Clemens Setz sitzt im Babylon Kino neben William T. Vollmann. Er gehört zu seinen Bewunderern wie der deutsche Autor Thomas Melle, der Vollmanns Bücher „Huren für Gloria“ und „Hobo Blues“ – beide sind Selbsterforschungen der amerikanischen Kultur – übersetzt hat. In den über dreitausend Seiten von „Rising Up and Rising Down“ (2004), die Vollmann der Erforschung und Kasuistik der Gewalt gewidmet hat, sieht Setz das Fundament für „Europe Central“. Aber dieser Roman hat wie sein 1959 in Los Angeles geborener Autor, zu dessen Vorfahren Deutsche gehören, auch europäische Wurzeln. Er ist Danilo Kis gewidmet, dem Autor von „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ (1976).
  Das schmale große Buch von Kis erzählt in sieben Kapiteln von Gewalt, Inquisition, Folter, Liquidierung – und von der Kunst in Zeiten des Terrors. Eine Geschichte handelt von der Folterung des Titelhelden Boris Dawidowitsch Nowskij, Vorsitzender des Volkskommissariats für Post- und Telegrafenwesen, der 1930 in der Sowjetunion verhaftet wird. Das nächtliche Klingeln von Telefonen umgibt seine Leiden. Durch Vollmanns riesiges Roman-Mausoleum hallt das Echo dieses Klingelns. Im Titel „Europe Central“ klingt zwar auch, auf den Kopf gestellt, Mitteleuropa an. Aber im Vordergrund steht die Schaltstelle Europa, die telefonische Vermittlungszentrale, im Prolog des Romans hockt auf stählernem Schreibtisch ein plumpes schwarzes Telefon, ein „Tintenfisch, dessen zehn runde Augen, jedes mit einer Ziffer drauf, durch dich hindurch starr in die Welt blicken“.
  Das Telefon ist die technologische Voraussetzung für die zentralisierte Befehlsstruktur in Stalinismus und Nationalsozialismus, es ist das Instrument der Überwachung und des Verrats. Über das Fernmeldewesen verbietet Hitler als oberster Feldherr seinen Generälen jegliches Zurückweichen, und in Leningrad muss der Komponist Schostakowitsch bei seinem Balancieren auf dem Drahtseil der Loyalität befürchten, dass ein Telefonklingeln der Vorbote seiner Verhaftung ist.
  „Zangenangriffe“ hat Vollmann den Hauptteil seines Romans überschrieben. Das zielt nicht nur auf die Manöver des Zweiten Weltkriegs, die er nachstellt, auf die Belagerung Leningrads und die Schlacht um Stalingrad, auf Moskau, Kursk, Berlin, Dresden, auf die Orte der Judenvernichtung wie Majdanek oder Auschwitz. Es zielt auch auf das literarische Verfahren, mit dem er den historischen Stoff in die Zange nimmt. Stets stellt er zwei Geschichten – manche sind nur ein paar Seiten, manche über 100 Seiten lang – als Paar zusammen, eine aus Deutschland und eine aus der Sowjetunion.
  Und stets nennt und kommentiert er die Quellen, auf die er sich bezieht, notiert skrupulös, wo er von ihnen abweicht und ein Ereignis umdatiert, ein Gespräch umschreibt oder fingiert, Begegnungen einfügt, die zwischen den historischen Figuren nicht stattgefunden haben. In der deutschen Ausgabe verweisen, anders als in der amerikanischen, Ziffern im Haupttext auf die Fußnoten und Kommentare im Anhang, und verstärken so die Suggestion, der Autor des Romans entrichte fortwährend der Zeitgeschichte seinen Tribut.
  In Wahrheit ist er ihr Rivale. Wie jeder historische Roman fordert er die Geschichtsschreibung heraus, entführt ihr die Protagonisten, macht sie den eigenen, literarischen Gesetzen dienstbar. Ja, Vollmann hat die Darstellungen der Historiker über den deutschen General Paulus und den Untergang der sechsten Armee in Stalingrad gelesen. Aber Sätze wie der folgende sind der O-Ton, den er selbst erfunden hat: „Zu Fuß gingen Paulus und Adam an die Front und stiegen über die grauen Mooskissen aus deutschen Leichen. Alles war ruhig.“
  Wer sich in dieses Roman-Ungetüm einliest, dem fügt sich dieser Satz in eine große Farbskala des Grau ein, die weit mehr umfasst als nur die Wehrmachtuniformen der Deutschen. Sie grenzt im Deutschen an das Grauen, enthält aber auch die Töne zwischen den schwarzen und weißen Klaviertasten des Komponisten Schostakowitsch, und sie spielt mit dem Schwarzweiß alter Wochenschauen und Propagandafilme. Die melodramatische erzählerische Magistrale, die Vollmann in sein Riesenmausoleum eingefügt hat, hätte das Zeug zu einem Cinemascope-Film nach Art von „Doktor Schiwago“. Aus einer der Frauen im Leben von Dimitri Schostakowitsch, von der die Zeitgeschichte nur wenig weiß, seiner Geliebten der Jahre 1934/35, Elena Konstantinowskaja, hat Vollmann eine der Hauptfiguren seines Romans gemacht. Sie wird zur lebenslangen, nie vergessenen, bis zum Tode des Komponisten im Jahr 1975 immer gegenwärtigen inneren Begleiterin. Sie wird in „Europe Central“ zur Ikone, in der sich die Spannung zwischen Kunst und Geschichte verkörpert, so wie die Partisanin Soja als Ikone des Widerstands der Russen gegen die Deutschen durch den Roman geht.
  Die Sprache aber, in der dies geschieht, ist die Sprache einer der nahezu anonymen, ideologiebefangenen Erzählerstimmen, die den Leser durch die Landschaften des Kriegs, der Judenvernichtung, der Bürokratie und der ideologischen Apparaturen führen. Diese Erzählerstimmen sind der Farbe Grau verpflichtet: „Wenn dies ein Film wäre, insbesondere einer von der Sorte, die Menschen in Kriegszeiten glücklich macht, würde er während der berühmten ,weißen Nächte’ Leningrads spielen, als Schostakowitsch in Elena Konstantinowskajas Armen lag. Leider ist dies kein Film. Und außerdem ist der Sommer die Jahreszeit, die Ariern vorbehalten bleibt, so dass diese russische Geschichte sich leider im Winter zutragen muss, wenn die Nächte Leningrads, wie auch die meisten Tage, schwarz, schwarz, schwarz sind. Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wir erzählen unsere Geschichte in Grau.“
  Dieses Grau verbindet die Geschichte von der Belagerung Leningrads, aus der die Siebte Symphonie von Schostakowitsch hervorgeht, mit der Geschichte vom Untergang der sechsten Armee der Deutschen in Stalingrad. Es ist oft die Farbe des Zynismus („Ich habe noch nie einen Zivilisten erschossen, höchstens auf Befehl“) und oft der Hoffnungslosigkeit. Es unterliegt dem Epitaph, den Vollmann mit den Steinen, die Saul Friedländers Buch ihm zur Verfügung gestellt hat, für Kurt Gerstein errichtet. Es bewahrt die Einbettung von Schostakowitschs Cellosonate op.40 in seine Liebesgeschichte vor dem Kitsch – und die Überblendung der deutschen Soldaten an der Ostfront mit der Erinnerung an die Nibelungen wie überhaupt die mythologischen Anspielungen auf die Edda und die deutschen Epen vor der Grellheit, mit der etwa in Jonathan Littells „Wohlgesinnten“ die Eumeniden im Berichte des SS-Mannes Max Aue ihren Auftritt haben. Nur beiläufig lässt Vollmann im Erzählen der Geschichte Kurt Gersteins und der blockierten Zirkulation seines quälenden Wissens über die Judenvernichtung die Erinnerung an Parzival aufblitzen.
  Das Grau trägt den Roman über manche Schwachstellen hinweg, in denen er sich mit dem schlichten Nacherzählen von Ereignissen oder Biografien begnügt, und es geht in einen der Höhepunkt des Buches ein, die Schilderung der Entstehung des Streichquartetts op.110 in der Nachkriegszeit, nach einem Besuch des Komponisten im zerstörten Dresden im Jahr 1960. „Im Dunkel sägt ein Cello einen Ton hervor, so trocken wie das Summen von Wespen in einem Schädel.“
  Dieser Roman zeugt von dem großen Selbstbewusstsein der amerikanischen Literatur. Er ist ein historischer Roman des 21. Jahrhunderts, der das Bündnis der Zeitgeschichte mit dem Film und den „history channels“ im Fernsehen herausfordert. Er ist nur Text, und dass er auch im Deutschen die Farbskala des Grau und des Grauens so reich wie quälend entfaltet, ist dem Übersetzer Robin Detje und seiner Stilsicherheit zu verdanken.
  Vollmann hat vor allem aus historischen und biografischen Quellen – etwa den Erinnerungen des Feldmarschalls Erich von Manstein – geschöpft. Detjes Übersetzung holt „Europe Central“ in die deutsche Literatur der Gegenwart hinein. In ihr steht der Roman nicht wie ein amerikanischer Solitär, der den Deutschen den Blick auf das 20. Jahrhundert erschließt. Er tritt an die Seite der Selbstbehauptung der Literatur gegenüber der Geschichtsschreibung, wie sie hierzulande Alexander Kluge im Blick auf Halberstadt und Stalingrad, Peter Weiss im Blick auf den deutschen Widerstand, Marcel Beyer im Blick auf den Führerbunker in Berlin oder Thomas Harlan im Blick auf die Schauplätze der Judenvernichtung unternommen haben.
Das Telefon ist ein Tintenfisch
mit zehn runden Augen,
jedes mit einer Ziffer darauf
Zwei Generäle stiegen
über Mooskissen aus deutschen
Leichen. Alles war ruhig
Eine russische Geschichte muss
sich im Winter zutragen, denn
schwarz sind Tage und Nächte
Diese Musik ist dem Krieg unterlegt – und das Klingeln der Telefone: Der Komponist Dimitri Schostakowitsch im Oktober 1941 im belagerten St. Petersburg. Er trägt eine Uniform der Feuerwehr.
FOTO:  BETTMANN/CORBIS
  
  
  
  
William T. Vollmann:
Europe Central. Roman.
Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2013.
1028 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2013

Das Stimmwunder aus Krieg und Diktatur

William T. Vollmanns Riesenroman "Europe Central" erzählt vom zwanzigsten Jahrhundert in Russland und Deutschland - vielstimmig, manisch und atemraubend interessant.

Es dürfte in der Weltliteratur keine 2846,82 Dollar geben, die besser angelegt wurden als von William T. Vollmann. Denn für diese Summe ließ sich der amerikanische Autor die Briefe Dmitri Schostakowitschs übersetzen, die der russische Komponist in den Jahren 1934 und 1935 an seine Geliebte Elena Konstantinowskaja geschrieben hat. Der Forschung sind sie erst in den neunziger Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bekanntgeworden, als sie in London versteigert wurden. Deshalb taucht Konstantinowskajas Name in den meisten Schostakowitsch-Biographien nicht auf, und William T. Vollmann musste sich von amerikanischen Lesern seines 2005 erschienenen Romans "Europe Central" vorwerfen lassen, dass er die Dame ja nur erfunden habe.

Was wäre das für eine Erfindung gewesen! "Europe Central", jetzt endlich auf Deutsch erschienen, hat mehr als tausend Seiten, umfasst die Zeit von 1906 bis 1975, erzählt aus Russland und Deutschland in den Zeiten ihrer schwersten ideologischen Verblendung und bietet gleich mehrere prominente Lebensgeschichten. Doch im Zentrum dieses Romans von Krieg und Unfrieden steht eine Liebe: die bedingungslose von Schostakowitsch zu Elena Konstantinowskaja. Der weltberühmte Komponist, dessen Geburts- und Sterbejahre die Eckdaten der Handlung bezeichnen, steht hier sein Leben lang im Bann der schönen Frau, die er kennenlernte, als sie zwanzig Jahre alt war. Die Studentin sollte ihm Deutsch beibringen.

Die letzten beiden Fakten sind wahr, aber Vollmann übernimmt nur den Zeitpunkt der ersten Begegnung. Dass Elena die Deutschlehrerin von Schostakowitsch war, verschweigt das Buch (ein paar mal ist von Englischlektionen die Rede). Warum, wo doch das Thema von "Europe Central" der politische und ideologische Dualismus ist, der das zwanzigste Jahrhundert in dessen größte Katastrophe gestürzt hat? Die Erklärung ist einfach: Das hätte eine russisch-deutsche Komponente in die für das Buch zentrale Liebe gebracht. Doch diese Liebe ist es gerade, was im Roman gegen Russland und Deutschland steht.

Also jetzt noch einmal, aber ohne Irrealis: Was ist das für eine Erfindung, diese Elena Konstantinowskaja! Eine freie Frau, frei in der Liebe zu Männern und Frauen; frei in ihrer politischen Einstellung, die ihr unter Stalin erst Sibirien und dann den "Roten Stern für Tapferkeit" wegen ihres Einsatzes im Spanischen Bürgerkrieg einbringt; frei im Denken, im Handeln, im Sein. Und eben fast zur Gänze frei dem Kopf von William T. Vollmann entsprungen, denn außer ihrer Beziehung mit Schostakowitsch, ihrem Tod (auch sie starb 1975), einer gescheiterten Ehe mit dem russischen Dokumentarfilmer Roman Karmen und der Ordensverleihung weiß man nichts über Elena Konstantinowskaja. Es ist bislang nicht einmal ein Foto von ihr aufgetaucht.

Also steht im Zentrum der tausend Seiten ein Phantom. Doch Vollmann füllt es mit Leben, lässt auf ganzen Seiten Liebesekstasen entbrennen, folgt Elena durch ein ganzes Leben, das er ihr erdichtet hat - und hat dann doch kein Buch geschrieben, das besser "Elena Konstantinowskaja" geheißen hätte. Denn es geht tatsächlich um viel mehr, um Europa im zwanzigsten Jahrhundert - einen Kontinent, der aber von Vollmann auch einmal explizit mit Elena gleichgesetzt wird.

"Europe Central" heißt der Roman, weil die erste Metapher darin eine Telefonschaltzentrale ist. Und die wichtigste ist es auch, weil das Buch selbst sich als eine solche Zentrale versteht, denn hier laufen aus den beiden Ländern, um die es geht (in der Nachkriegszeit werden es dann drei, die Sowjetunion und beide deutsche Staaten), die unterschiedlichsten Erzählungen zusammen. Wir lernen die Schicksale der deutschen Künstlerin Käthe Kollwitz und der russischen Lyrikerin Anna Achmatowa im Totalitarismus kennen, des russischen Generals Andrej Wlassow, der als Kriegsgefangener in die Dienste Hitlers trat, und des deutschen Generals Friedrich Paulus, der es umgekehrt als Gefangener Stalins genauso hielt. Es geht um Kurt Gerstein, der als SS-Angehöriger verzweifelt versuchte, das Ausland über die Ermordung der Juden zu informieren, und um Fanny Kaplan, die als Menschewikin 1918 ein Attentat auf Lenin unternahm. Es geht aber auch um Hitler und Stalin selbst, die anfangs nur als "der Schlafwandler" und "der Realist" auftreten. Ihrem unheilvollen Zusammen- und Gegenspiel verdankt sich die Entstehung eines Leitmotivs: "Der Schlafwandler ist ganz Auge; der Realist ist ganz Ohr; indem sie sich paaren, erschaffen sie das Telefon."

Man muss für solche frühen Sätze in Vollmanns Roman selbst Auge und Ohr haben, denn sie bereiten vor, was auf den vielen hundert Seiten danach noch folgt. Die "Paarung", hier noch metaphorisch, wird wenig später ganz konkret, wenn das Liebesspiel zwischen Schostakowitsch und Elena beginnt. Krieg (mit Menschen und mit Kunst) und Liebe (zu Menschen und zur Kunst) stehen sich permanent gegenüber und werden fokussiert in der Person Schostakowitschs, auf dessen Leben und Schaffen allein schon ein Drittel der Handlung entfällt. Man erfährt von dem sorgfältigen Rechercheur Vollmann nicht nur auf erzählerisch hinreißende Art, wie Schostakowitsch gelebt hat, sondern auch, wie man ihn hören kann. "Europe Central" ist nebenbei und vollkommen unaufdringlich auch eine musikästhetische Programmschrift.

Und es ist selbst ein hochmusikalisches Buch. Vollmann hat es entsprechend komponiert, ohne dass er dabei einem der gängigen Schemata der Klassik gefolgt wäre, wie es etwa Heimito von Doderer in einigen seiner Romane versucht hat. Das rechte Vorbild für "Europe Central" ist natürlich Schostakowitsch selbst, der vor allem in seinen Streichquartetten, aber auch den Sinfonien und Sonaten immer wieder mit der Tradition gebrochen hat - gegen die Erwartungen eines Regimes, das für solchen Individualismus, der als "Formalismus" denunziert wurde, nichts übrighatte außer Repression.

Drei Kompositionen von Schostakowitsch sind für die Handlung (und auch die Struktur des Buchs) besonders wichtig: die Cellosonate op. 40 (1934), die siebte Sinfonie (1942) und das achte Streichquartett (1960). Sie stehen für den Beginn der Liebe zu Elena, für den Höhepunkt des Krieges, als Schostakowitsch aus dem belagerten Leningrad hinter den Ural gebracht wird, und für die Zeit nach der Entstalinisierung. Das Streichquartett, gewidmet den Opfern von Krieg und Faschismus, ist nach Vollmanns Deutung die Bilanz Europas im zwanzigsten Jahrhundert, mit all den Stimmen, Klagelauten und Schmerzensschreien der Opfer, auch derer Stalins.

"Europe Central" buchstabiert dieses Prinzip nun gleichfalls aus, und das nach strengsten formalen Kriterien. Nach einer Exposition, mit der die Telefonzentralemetapher eingeführt wird, folgt eine Serie von achtzehn Kapitelpaaren, deren Zusammenhalt und Balance manchmal ganz leicht zu erkennen sind (Wlassow und Paulus bilden eines dieser Paare und bekommen jeweils ein fast hundert Seiten langes Kapitel), doch weitaus häufiger übernimmt Vollmann das Schostakowitsch-Prinzip des kontrastiven Komponierens, aus dessen Reibepunkten sich erst das Überraschende generiert.

So schwanken nicht nur die Kapitellängen zwischen drei und 135 Seiten, mehr noch tut es die Erzählperspektive. Es gibt kein eindeutiges "Ich" wie in Jonathan Littells von Thema und akribischer Herangehensweise so ähnlichem Roman "Die Wohlgesinnten", der 2006 in Frankreich erschien, ein Jahr nach "Europe Central", dessen Rang dadurch in Europa zunächst übersehen wurde. Vollmann erzählt mit zahlreichen Ichs, doch alle haben sie eines gemeinsam (auch mit Maximilian Aue aus "Die Wohlgesinnten"): Sie sind Überzeugungstäter und bleiben es. Wir bekommen also die Sowjetunion und das "Dritte Reich" aus den Augen von Parteigängern vorgeführt. Das muss man aushalten, auch die implizite Gleichsetzung. Auf der deutschen Seite erzählen hochrangige Militärs, die nie beim Namen genannt werden, auf der russischen Mitglieder der Nomenklatura, die sich vor allem mit Überwachung beschäftigen. Ein einziger Erzähler, "Genosse Alexandrow", wird in einer der Anmerkungen von Vollmann identifiziert, aber er taucht an anderer Stelle im Roman mehrfach als handelnde Person im Blick eines weiteren Ichs auf. Bisweilen wechseln die Erzähler sogar innerhalb des Kapitels. Und diverse Male greift auch Vollmann selbst in der Handlung ein, zum Beispiel, wenn ein Erzähler, der eben noch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschildert hat, plötzlich in Klammern einschiebt: "Ich schreibe im Jahr 2002."

Diesen Kriegsausbruch erlebt der Adolf Hitler des Romans übrigens in Berlin, nicht in München, und solche Freiheiten nimmt sich Vollmann häufiger. Da ist Platz für Ironie, wenn Stalins Antisemitismuskampagne 1949 darauf zurückgeführt wird, dass er nun vielleicht Zeit gefunden habe, "Mein Kampf" zu lesen. Bisweilen lenkt Vollmann auch bewusst auf falsche Spuren, so schon auf Seite 14, wo er Göring ein Rendezvous mit der Schauspielerin Lida Baarová andichtet, die ja als Goebbels-Geliebte bekannt ist. 270 Seiten später erwähnt er sie ein zweites Mal, diesmal dann an der Seite des Propagandaministers. Dazu gibt es keine Fußnote, die ansonsten vielhundertfach den Roman durchziehen; der Anhang dazu umfasst allein schon achtzig Seiten.

Aber auch die sollte man lesen, denn vieles im Roman entschlüsselt sich erst dadurch, und vor allem erkennt man dann an den dort durchgeführten discours de la méthode, was für eine Leistung die Zusammenführung dieser Stofffülle darstellt. Das Buch ist durchwoben von wiederkehrenden Begriffen oder Dingen, die einzelne Gedanken und Schicksale miteinander verzahnen. Es ist erkennbar eine Lebensliebe von William T. Vollmann, ein manisches Stück Literatur, das eher als mit Littells "Wohlgesinnten" mit Thomas Pynchons "Enden der Parabel" oder der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss zu vergleichen ist, weil auch in diesen Romanen trotz der überreichen Materialsammlung jeweils ein strenges formales Prinzip waltet. (Und wer in sein Buch so viele Raketendiskurse oder auch einmal die Bemerkung einflicht: "Wie also war er? Ich sehe in ihm die zentrale Figur einer Parabel", der verweist sehr deutlich auf die Leitmetaphorik von Pynchon.)

Es ist also ein höchst ausgefuchstes Stück Literatur, was hier aufgeführt wird - und das große Glück der deutschen Ausgabe ist, dass Robin Detje mit der Hilfe einer Assistentin anderthalb Jahre daran übersetzen konnte, so dass die zahlreichen einmontierten Quellenpassagen auch jeweils nachrecherchiert werden konnten. Ein einziger drastischer Fehler ist ins Buch gerutscht (Stalingrad soll im August 1943 von den Russen eingekesselt worden sein, da war es längst zurückerobert). Und es ist vor allem der von Detje bewahrten Rhythmisierung der Form zu verdanken, dass selbst die schwächeren Passagen des Buchs, wo zu sehr ereignisorientiert oder banal-biographisch erzählt wird, nie die Lesespannung mindern. Meisterhaft kristallisiert sich nämlich immer wieder aus dem Textgebirge dieses Buchs das funkelnde Kunststück von Schostakowitschs Lebensliebe heraus - ein Roman im Roman, der zum Eindrucksvollsten zählt, was über die Ambivalenz von Kunst und Macht, von Leben, Liebe und Tod geschrieben worden ist. "Europe Central" steht im Zentrum dessen, was Literatur zu leisten versteht.

ANDREAS PLATTHAUS

William T. Vollmann: "Europe Central". Roman.

Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 1028 S., geb., 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»... das Erlebnis einer gelungenen Verschmelzung von Liebesgeschichte, Künstlerroman, Historienpanorama und anthropologischer Erkundung durch eine entfesselte, egozentrische Erzählerphantasie.« Carsen Hueck Neue Zürcher Zeitung 20130813