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"Ein Glanzstück essayistischer Gelegenheitsprosa und zugleich ein klassisches Meisterwerk." (FAZ)
Als die holländische Aufführung des Skandalstücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" vorbereitet wird, gehört Herbert Althans zu den leidenschaftlichsten Warnern vor einem neuen Antisemitismus. Er erhält einen Drohbrief; wird entführt und verletzt aufgefunden. Die Premiere platzt. Doch dann kommt ein ungeheurer Verdacht auf: Hat Althans alles nur fingiert?

Produktbeschreibung
"Ein Glanzstück essayistischer Gelegenheitsprosa und zugleich ein klassisches Meisterwerk." (FAZ)
Als die holländische Aufführung des Skandalstücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" vorbereitet wird, gehört Herbert Althans zu den leidenschaftlichsten Warnern vor einem neuen Antisemitismus. Er erhält einen Drohbrief; wird entführt und verletzt aufgefunden. Die Premiere platzt. Doch dann kommt ein ungeheurer Verdacht auf: Hat Althans alles nur fingiert?
Autorenporträt
Geboren am 29.Juli 1927 in Haarlem, Sohn eines ehemaligen Offiziers aus Österreich-Ungarn, welcher im Zweiten Weltkieg mit den deutschen Besatzern kollaborierte, und einer Jüdin aus Frankfurt; seine später geschiedenen Eltern sprachen Deutsch miteinander. Mulisch verfasste zwischen 1947 und 1959 einige Romane und literarische Artikel und Rezensionen in niederländischen Zeitungen (Berichterstatter u.a. für "Elseviers Weekblad"). Die Teilnahme am Eichmann-Prozeß verarbeitete er in der Reportage "Strafsache 40/61", das 1963 mit dem Vijverberg - Prijs ausgezeichnet wurde. Seither schrieb er Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, Opernlibretti, Essays, Manifeste und philosophische Werke. Spätestens mit seinem in sechzehn Sprachen übersetzten politischen Roman "Das Attentat" wurde er weltberühmt, die Verfilmung von Fons Rademakers erhielt einen Oscar. Für sein literarisches Schaffen erhielt er 1995 den Niederländischen Literaturpreis.Harry Mulisch starb 2010 im Alter von 83 Jahren.

Gregor Seferens, 1964 geboren, ist Übersetzer etwa von Maarten 't Hart, Geert Mak und Harry Mulisch und wurde u.a. mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Er lebt in Bonn.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2000

Dein Traum, meine Tragödie
Harry Mulisch und die wirklichen Gespenster des Antisemitismus

Dieses Buch ist die Frucht eines halb vergessenen Theaterskandals und eines nicht vergehenden Jahrhunderttraumas. Seine Vorgeschichte ist die verhinderte Rotterdamer Aufführung des Fassbinder-Stückes "Der Müll, die Stadt und der Tod" im Jahr 1987. Geschmacklos und gefährlich an Fassbinders Stück ist, so brachten die Kritiker damals vor, daß es dem antisemitischen Klischee vom "reichen Juden" unreflektiert das Wort erteilt. Der niederländische Schauspieler Jules Croiset, selbst Überlebender des Holocaust, befürchtete gar, mit dem Stück könne eine neue Pogromstimmung ausgelöst werden. Um eine gleichgültige Öffentlichkeit wachzurütteln, brachte er fingierte antisemitische Briefe in Umlauf und inszenierte seine eigene Entführung.

Zwölf Jahre später hat Harry Mulisch in dem Fall jene Mischung aus Ungereimtheit und Faszinosum erspürt, die zum literarischen Stoff taugt. Seine dankenswert rasch übersetzte Erzählung "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" handelt von einer Tragödie und steckt doch voller Erzählwitz. In den Niederlanden traf die Veröffentlichung auf den Einspruch derer, die sich seinerzeit durch die gefälschten Drohbriefe ernsthaft gefährdet sahen (F.A.Z. vom 3. Mai). Mulischs Aufarbeitung des Falles ist eigenständig und nimmt sich alle Freiheiten. In ihrem spielerischen Konstruktivismus ist seine Erzählung zugleich ein eminent politisches Werk, gerade weil sie die Fallen der Eindeutigkeit umgeht.

Die Grundidee ist von bestechender, kristallklarer Eleganz. In einer doppelten Spiegelung zerlegt Mulisch den anekdotischen Kern der Geschichte in die Konstellation zweier Paare und in die Sequenz zweier widersprüchlicher Fassungen des Geschehens. In der ersten Version legt Herbert Althans - so heißt hier der Schauspieler, der nach seinem Protest gegen das Fassbinder-Stück einer vermeintlichen Racheaktion zum Opfer fiel - auf der Trauerfeier seiner Frau Magda ein öffentliches Geständnis ab. Althans' Rede wurde zufällig auf einem Videomitschnitt festgehalten, den der befreundete Theaterautor Felix zwölf Jahre später zu Hilfe nimmt, um eine Geschichte über den Vorfall zu schreiben.

Was Althans den anwesenden Freunden, Journalisten und auch seinen beiden Kindern zu sagen hatte, verkehrt den bekannten Vorgang fast ins Gegenteil. Der Schauspieler beichtet, daß der antisemitische Drohbrief, den selbst verfaßt zu haben er längst zugab, in Wirklichkeit keineswegs erfunden war, sondern echt. Auf seine Frau habe dieser Brief derart niederschmetternd gewirkt, daß jeder Versuch, sie zu beruhigen und zu trösten, vergeblich war. Nur darum sei er, so Althans, auf den verzweifelten Einfall gekommen, den antisemitischen Angriff als selbsterfundene Kampagne auszugeben. Um diese Lüge glaubhaft anbringen zu können, setzte Althans seine Selbstentführung ins Werk. Er beging absichtlich dilettantische Fehler, wurde alsbald überführt und galt dann auch als Autor des fatalen Drohbriefes. Doch just der unwahrscheinliche Erfolg des Planes besiegelt sein Scheitern: Magda Althans, von der Lüge noch tiefer getroffen als von ihrer Angst, nimmt sich das Leben.

Für Felix, den Schriftsteller, bleiben Zweifel zurück. Nicht umsonst hat er sich lange mit Cusanus und dessen Prinzip der "coincidentia oppositorum" beschäftigt, dem Zusammenfall aller Gegensätze in Gott. Bloß, daß in Althans' Geschichte kein Gott den Widerstreit der Gegensätze entwirren kann. Auch die mit Felix befreundete Autorin Vera versucht, aus dem Stoff eine Geschichte zu machen. In literarischer Konkurrenz zu Felix entwirft sie eine zweite Version des Geschehens, in der nun Magda am Zuge ist, am Sarg des toten Herbert Althans ihr Geheimnis zu beichten. Während Herbert die Entführung zugab, bekennt sich Magda als Verfasserin des schrecklichen Briefes. Auch sie tat es allein aus Liebe, um ihrem Mann Gehör zu verschaffen, dessen Ängste zuvor niemand ernst nehmen wollte. Und auch ihr wird im Augenblick der Tat schlagartig klar, einen Fehler gemacht zu haben. Für immer würde dieses furchtbare Geheimnis zwischen ihnen stehen.

Die mehrfach geschachtelte Erzählsituation bringt es mit sich, daß jede der beiden Versionen unterschwellig ihr eigenes Dementi nahelegt. Sind am Ende auch die bewegenden Geständnisse falsch? In einer Nachbemerkung weist Mulisch eigens darauf hin, daß Magdas und Herberts Geschichte einander ausschließen. Daß sie nicht beide zugleich an des anderen Sarg stehen können, ist evident. Doch diese erzähllogische Unmöglichkeit bedeutet keineswegs, daß nicht beide Geschichten ein Körnchen Wahrheit enthalten. Denn genau da, wo Magdas Briefgeheimnis endet, beginnt die List der Selbstentführung ihres Mannes.

Notgedrungen hat Althans gegen das Fassbindersche Theater eine noch schlimmere Inszenierung gesetzt. Nichtsahnend ist Magda zur Gefangenen des eigenen Schreibens geworden. Das Theater, der Brief und die Wahrheit sind dreierlei, und das Erzählen ist nichts anderes als die Arbeit an den Gelenkstellen zwischen diesen Elementen, die Motivationen erfindet und zu vermeintlich schlüssigen Handlungen zusammensetzt. Daß diese Gelenkstellen freilich so oder anders gedreht werden können, ist der Vertracktheit einer objektiv widersprüchlichen Situation geschuldet.

Sind es die Opfer, die sich ihre Täter erträumen? Oder nehmen sie nur intuitiv vorweg, was längst wieder möglich ist? Einen Traum, so sagt Althans in seiner Beichte, kann man nicht mitteilen, sonst wird er zur Lüge. Die geträumte Gefahr aber - ist sie erst wahr als bereits geschehene Tat? Eine Tragödie, so erkennt Vera am Ende ihres Berichts, ist das "Aufeinandertreffen von zwei unvereinbaren Wahrheiten". Der Abstand von zwölf Jahren läßt, auch im Lichte der Walser-Bubis-Debatte, diese Tragödie noch schärfer hervortreten. Aus den Theater-Gespenstern von gestern ist die Gewalt von heute nicht mehr wegzudenken. So erweist sich Mulischs schmale Erzählung als Probe auf die Möglichkeiten der Literatur, den politischen Diskurs um die Wirklichkeit unserer Träume und Albträume zu bereichern. "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" ist ein Zwitter von seltener Art: ein Glanzstück essayistischer Gelegenheitsprosa und zugleich ein klassisches Meisterwerk.

ALEXANDER HONOLD

Harry Mulisch: "Das Theater, der Brief und die Wahrheit". Eine Widerrede. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens. Carl Hanser Verlag, München 2000. 104 S., geb., 26,- DM.

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