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Der Boulevard Ring ist der innerste Ring Moskaus, entstanden aus der abgetragenen Befestigungsmauer der Weißen Stadt, dem ältesten Teil der russischen Hauptstadt. Fabian Saul umrundet diesen ersten Ring immer und immer wieder. Sein passagenhafter Essay – zwischen 2016 und 2018 entstanden – spiegelt die Verwerfungen in der Wahrnehmung des Stadtraums. Saul trägt Fragment über Fragment zusammen, um das Bild einer Stadt entstehen zu lassen, in der sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Der Leser schreitet den Ring mit dem Text ab und entdeckt das Raumgefüge einer Stadt, in der alle Wege in die Irre führen.…mehr

Produktbeschreibung
Der Boulevard Ring ist der innerste Ring Moskaus, entstanden aus der abgetragenen Befestigungsmauer der Weißen Stadt, dem ältesten Teil der russischen Hauptstadt. Fabian Saul umrundet diesen ersten Ring immer und immer wieder. Sein passagenhafter Essay – zwischen 2016 und 2018 entstanden – spiegelt die Verwerfungen in der Wahrnehmung des Stadtraums. Saul trägt Fragment über Fragment zusammen, um das Bild einer Stadt entstehen zu lassen, in der sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Der Leser schreitet den Ring mit dem Text ab und entdeckt das Raumgefüge einer Stadt, in der alle Wege in die Irre führen.
Autorenporträt
Fabian Saul, geboren 1986, ist Autor, Komponist und seit 2013 Chefredakteur des Magazins Flaneur. Das Heft, das sich in jeder Ausgabe einer anderen Straße in der Welt widmet, verfolgt einen nomadischen und interdisziplinären Ansatz, der sich auch in Sauls Arbeit wiederfindet. Er studierte Kulturwissenschaft und Philosophie. Neben seiner schriftstellerischen und redaktionellen Arbeit arbeitet er seit vielen Jahren als Komponist für Filmmusik und Songwriter. Er lebt in Berlin, seine Arbeit führt ihn jedoch regelmäßig an andere Orte, zuletzt nach Moskau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Drohgebärden der Macht
Fabian Saul blickt hinter die Fassaden des neuen Moskaus

Je repressiver das Regime in Russland unter Präsident Putin wurde, desto schöner putzt sich seine Hauptstadt Moskau heraus. Während der Theaterregisseur Kirill Serebrennikow und der Memorial-Historiker Juri Dmitriew wegen fadenscheiniger Vorwürfe vor Gericht stehen, während im ganzen Land Jugendliche wegen harmloser Reposts verurteilt und Rockkonzerte abgesagt werden, gibt sich Moskau immer bürgernäher mit neuen Radwegen, verkehrsberuhigten Straßen, Plätzen mit Schaukeln für Erwachsene, die auch westliche Besucher begeistern. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, davon erzählt der Stadtkörper dem aufmerksamen und historisch informierten Besucher auf Schritt und Tritt.

Ein solcher ist der Berliner Autor und Komponist Fabian Saul, dessen Aufzeichnungen von einem Aufenthalt im Frühjahr in der Reihe Punctum bei Matthes & Seitz erschienen sind. Der Musiker und Chefredakteur des Magazins "Flaneur", der sich in der Literatur- und Kunstszene bewegt wie ein Fisch im Wasser, vermeidet aber bewusst die Zusammenschau. Saul lässt sich vielmehr von den Energien des Ortes sowie von seinen Lektüren führen und entwirft in gut zweihundert Prosafragmenten das Neurogramm eines still seine Bewohner niederkämpfenden Molochs.

Der Magnetismus der Macht formt diese Stadt, deren Name sich von einer indoeuropäischen Wurzel für "Sumpf" herleitet. Ihr Zentrum, die Kremlfestung, vergleicht der Autor mit einem auf eine Wasserfläche geworfenen Stein, der die konzentrischen Kreise der Ringstraßen aussendet, aber auch zu sich zurückfließen lässt. Besonders fasziniert Saul der innerste oder Boulevard-Ring, der seinem Textmosaik den Titel gibt und der aufwendigen kosmetischen Operationen unterzogen wurde. Die Parkanlagen und illuminierten Bäume, die hier zum Innehalten animieren, wirken auf ihn fast irreal, sein Ohr registriert das hohle Geräusch unter den oft eilig verlegten Granitplatten, die alles durchdringenden Schallwellen der Riesenglocke der Christi-Erlöser-Kathedrale.

Diese Stadt ist im Wortsinn abgehoben. Sie gehört den in ihr Herumlaufenden nicht, unter dem teuren Dekor ist überall die ursprüngliche Bedeutung des Boulevards zu spüren, nämlich das Bollwerk. So enthält das urbanistische Spektakel, das Moskau aufführt, stets auch eine Drohgebärde. Dazu gehören nicht nur die "sieben Schwestern" der spätstalinistischen Zuckerbäckerhochhäuser, die anstatt der sieben Hügel, einer Mystifikation Moskauer Stadtführer, herrisch in den Himmel ragen. Und nicht nur die Militärparaden zum Siegestag am 9. Mai, für die allein die Proben den Straßenverkehr regelmäßig lahmlegen und für die das obligatorische gute Wetter bei Bedarf künstlich geschaffen wird, was die Stadtregierung sich im Jahr gut eine Million Euro kosten lässt.

Teil der Inszenierung ist auch das Kolossalstandbild des mittelalterlichen Christianisierers von Russland, des Fürsten Wladimir, vor der Kremlmauer, der mit der Rechten das Kreuz und mit der Linken das Schwert gepackt hält. Und schließlich, ein Meisterstück des Social Engineering, die vielen neuen sauberen, komfortablen öffentlichen Räume in der Innenstadt, die flankiert werden von rigiden Antidemonstrationsgesetzen, damit die Bürger sie sich nicht zu eigen machen können.

Deren vorläufiger Höhepunkt ist der - bezeichnenderweise von einer amerikanischen Firma designte - "Sarjadje"-Park am Kremlufer mit Restaurants, Konzertsälen, einer Gletscherhöhle für Familien und einer Schwebebrücke über dem Moskwa-Fluss, dem neuen Selfie-Lieblingshintergrund. Auf kompaktem Raum sind hier Gewächse aus allen Landesteilen versammelt, einschließlich einem falschen Moskauer Miniatur-Sumpfflecken und einem ebenfalls falschen Pflasterstraßenfragment, man hat kostenloses W-Lan und wird beschallt mit Klassik-Kitsch.

Wie symbolisch erscheint es da, dass die letzte große Protestwelle, die mit der Hoffnung auf Erneuerung verbunden war, die Kundgebungen im Mai 2012 gegen Wladimir Putins Wiederwahl, auf dem Bolotnaja- (zu Deutsch dem "sumpfigen") Platz stattfand - als ob damals die Stadt gezwungenermaßen mit dem Boden der eigenen Wirklichkeit in Kontakt trat. Doch vor drei Jahren wurde auf der zum Bolotnaja-Platz führenden Steinbrücke der Oppositionspolitiker Boris Nemzow erschossen. Und die Gedenkstätte, die Moskauer Bürger für Nemzow dort immer wieder neu errichten, wird von den Stadtvätern immer wieder zerstört.

Kein Wunder, dass sich der Flaneur Fabian Saul sich im Zivilistenstrom der unterirdischen Metro-Tunnel vorkommt wie in einem Zwischenreich dahingegangener Seelen.

KERSTIN HOLM

Fabian Saul:

"Boulevard Ring".

Matthes & Seitz Verlag,

Berlin 2018.

103 S., br., 12,- [Euro].

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