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"Die vier Studien dieses Bandes behandeln alle das Problem, wie sich ein gutes Leben zu einem moralisch guten Leben verhält. Jede untersucht dieses Verhältnis von einer anderen Seite her; jede führt auf ihre Weise zu dem Schluß, daß der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem moralisch Guten weder als letztendliche Identität noch als begriffliche Priorität einer der beiden Komponenten verstanden werden darf. Zusammen bilden sie den Entwurf einer praktischen Philosophie, die die Begriffe des individuellen Guten und des moralisch Richtigen als interdependente Grundbegriffe versteht."

Produktbeschreibung
"Die vier Studien dieses Bandes behandeln alle das Problem, wie sich ein gutes Leben zu einem moralisch guten Leben verhält. Jede untersucht dieses Verhältnis von einer anderen Seite her; jede führt auf ihre Weise zu dem Schluß, daß der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem moralisch Guten weder als letztendliche Identität noch als begriffliche Priorität einer der beiden Komponenten verstanden werden darf. Zusammen bilden sie den Entwurf einer praktischen Philosophie, die die Begriffe des individuellen Guten und des moralisch Richtigen als interdependente Grundbegriffe versteht."
Autorenporträt
Seel, MartinMartin Seel ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Das Scheidungsgericht tagt
Martin Seels Versuch über das Glück / Von Dieter Thomä

Philosophen frieren oft. Schlotternd irren sie durch die Eiswüste der Abstraktion und träumen von anderen, schöneren Berufen - vor allem von dem des Heiratsvermittlers. Ihm eifern sie nach und stiften Verbindungen zwischen Begriffspaaren wie Form und Stoff, Bewußtsein und Sein - am eifrigsten aber zwischen den ungleichen und streitbaren Partnern Glück und Moral.

Ein erstes großes Rendezvous für das damals noch junge Paar arrangierte Platon. Er versprach: "Der Gute wird auch zufrieden und glückselig sein." Doch das Glück verzichtete nicht auf ungute Gelüste, und die Moral setzte ihre Gebote gerne ohne Rücksicht auf unartige, offenbar aber glückliche Leute durch. So trennte die Moderne das Glück von der Moral. "Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen", dozierte Kant, und die "eigene Glückseligkeit" galt ihm als "das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit". Auch Nietzsche sah einen Gegensatz zwischen den moralischen "Vorschriften" und dem "individuellen Glück" derer, die sich "nicht abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen"; freilich schlug er sich brüsk auf die Seite des Glücks.

Während Kant die "Glückseligkeit" - jenseits dieser Welt - dem reinen moralischen Wesen zugute kommen ließ, sah Nietzsche die "Begehrungen des Lebens" eine eigene "Tugend" schaffen. Die von Kant und Nietzsche gestifteten ungleichen Ehen aber wurden nicht glücklich: Jener verschob das Glück auf ein vollkommenes Wesen, dieser verdrehte die Tugend zum Spielball des Abenteurers.

Nun erscheint Martin Seel als philosophischer Scheidungsrichter: "Glück und Moral, dieses seltsame Paar, können nur miteinander auskommen, solange sie in Scheidung voneinander leben." Dieses Urteil begründet er in seinem Buch mit dem Titel "Versuch über die Form des Glücks".

Für Seel soll die Scheidung ein neues, posteheliches "Miteinander" von Glück und Moral ermöglichen. Der Buchtitel deutet an, daß nicht die Moral, sondern das Glück bei dieser Scheidung gewinnt. Seel überläßt es nicht denen, die sich für ihres Glückes Schmied halten. Es gelingt ihm, es als Thema der praktischen Philosophie zu rehabilitieren. Allein damit kuriert er deren unglückliche Fixierung auf Normen. Mit Normen allein müßte man kapitulieren vor den Fragen: "Will ich überhaupt so leben, daß ein moralisches ,Sollen' auf mich Eindruck macht? Wie verhält sich dieses ,Sollen' zu meinen Vorlieben und Präferenzen?"

Die andere Pointe steckt in der Wendung "Form des Glücks". Seel will das Glück nicht inhaltlich festlegen, sondern nur fragen: Wie streben wir nach Glück, welche Form muß ein Leben haben, wenn es glücklich verlaufen soll?

Seels Verfahren eines "reflektierten Subjektivismus" hat etwas von dem, was Nietzsche auch im Blick hatte, als er "mit dem Hammer philosophierte": Er klopft auf einen Begriff und lauscht dem Nachklang. Er beginnt bei der einfachen Feststellung, es sei wichtig, "daß sich nicht wenige meiner Wünsche erfüllen". Von dort gelangt man zum Vorbehalt, daß jedenfalls dort kein Glück sei, wo die Wünsche sich nicht entfalten können. Bei der "Erfüllung" aber, die den Wünschen winkt, kommt man ins Stolpern. Der berühmteste Stolperer dieser Art ist der Graf Wronskij, der Held Tolstojs, der sich nichts sehnlicher wünschte, als Anna Karenina zu besitzen, und dem, als sein Ziel erreicht war, die Wunscherfüllung fad wurde, weil er auf eine neue Wirklichkeit stieß. Da allein das Wünschen noch nicht geholfen hat, fehlt also dem Glück neben der Selbstbestimmung noch ein zweites Element: eben die Wirklichkeit, die Umstände, die Situation, in der ich mein Leben als geglückt erfahre. Neben die Selbstbestimmung tritt die "Weltoffenheit" - und dieses Duo macht nach Seel das Glück aus, dessen Entfaltung er dann in vier Dimensionen, "Arbeit, Interaktion, Spiel, Betrachtung", nachvollzieht.

Martin Seel will niemandem ein bestimmtes "Glück verschreiben"; wohl aber behauptet er mit einem "gewissen Objektivismus", ohne eine individuelle "Balance" zwischen jenen vier Dimensionen, ohne "Fähigkeit" und "Zugang" zu ihnen könne ein Leben nicht als gelungen gelten. Die Moral soll nicht "die Leute glücklich machen", sondern den "Spielraum existentiellen Gelingens" garantieren. Wenn sich aber auf diese Weise das individuelle "Glück als Pointe der Moral" entpuppt, liegt dann umgekehrt die Moral in der Logik des individuellen Glücks? Seels Antwort auf diese Frage lautet jein - und dieses Jein steht eben für die posteheliche Lebensgemeinschaft von Glück und Moral, die er als Scheidungsrichter vorschlägt.

Zu dialogischen Beziehungen, wie sie zum Glück passen, gehört eine "Anerkennung" anderer Menschen, die nach Seel immer schon "moralisch gefärbt" ist. "Wenn einer, dann alle", lautet die Forderung moralischer Anerkennung; "nicht alle, sondern nur einige", ist das Angebot, das vom Glück her allein zu begründen ist. Das Glück geht also einen Schritt auf die universalistische Moral zu, läuft aber nicht automatisch in das von ihr gesteckte Ziel ein. Als Antreiber auf den letzten Metern hin zur Moral tritt bei Seel gelegentlich ein bucklicht Männlein auf: der "Kontraktualismus", der vorsieht, daß man vertraglich zur Rücksicht nicht nur auf einige, sondern auf alle Menschen verpflichtet ist. Um ihm nicht zuviel Einfluß zu gewähren, pocht Seel darauf, daß die Moral selbst ohne Druck von außen als "eine wichtige Dimension guten Lebens" dienen könne. Wie fleißig diese Glücksquelle genutzt wird, läßt sich freilich nicht von außen festlegen. Mit dieser Offenheit muß man sich nach Seel begnügen, doch dies ist - nach dem Schlußsatz des Buches - "nicht wenig, da nicht einmal sicher ist, ob mehr nicht weniger wäre".

Der "Versuch über die Form des Glücks" ist geschrieben mit der Präzision und Schlüssigkeit, für die Martin Seel in der Zunft schon berühmt ist; vier Einwände drängen sich auf.

"Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll" (Adorno). Ist nicht blanker Luxus, in Zeiten, in denen Krieg und Elend das Lied vom Tod spielen, den Feinheiten des Glücks nachzusinnen? Nein, natürlich nicht. Wer sich vom Elend das Nachdenken über das Glück abhandeln läßt, übt vorauseilenden Gehorsam.

"O Seele, um und um verweste, / kaum lebst du noch und noch zuviel" (Benn). Ist Seel nicht schrecklich altmodisch, wenn er von Glück und Freiheit, Selbst und Welt spricht, während die Wirklichkeit von virtuellen Realitäten abgelöst wird und das Selbst sich mitsamt der Seele in Gehirnvorgängen verkrümelt? Dieser Einwand bleibt hohl, solange es bei den Menschen noch nicht aus der Mode geraten ist, glücklich sein zu wollen.

"Zum Augenblicke dürft' ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön" (Goethe). Der Augenblick, der Exzeß, die "Episode" werden von Seel zwar als etwas "Extremes", "Anarchisches" vorgestellt, aber letztlich in die Lebensgestaltung mit deren Vorhaben und Hintergedanken eingebunden. Es scheint, daß Seel damit die Spannung zwischen überwältigenden Glückserfahrungen und der alltäglichen, eben auch moralischen Lebensführung arg lindert; hierzu dient ihm der Begriff der "Situation", der doch die einzelne Begebenheit meint, den er aber als "Situation des Lebens" auf das Streckbett zwischen Geburt und Tod legt.

"Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, / Als Eure Schulweisheit sich träumt" (Shakespeare). Ist der Anspruch nicht überzogen, mit bloßer "Schulweisheit" (im Original: "philosophy") formale Strukturen des Glücks festzulegen, das allen am Herzen liegt? Es bleibt der Eindruck, daß Seel seine Theorie nicht wirklich "anthropologisch verankern" kann, daß der Mensch, den er im Blick hat, mit seiner Endlichkeit und Individualität ein Kind seiner Zeit, ein Kind der Moderne bleibt.

Eine Warnung des französischen Moralisten Chamfort lautet: "Wer sein Glück zu sehr von seiner Vernunft abhängig machen will, wer es prüft, sozusagen seine Genüsse schikaniert und nur feinsinnige Vergnügungen zuläßt, dem geht es schließlich verloren. Er gleicht dem Menschen, der fortwährend seine Matratze umkrempeln läßt; sie wird immer dünner, und am Ende liegt er auf dem Boden." Martin Seels Buch hat das höchste Kompliment verdient: Es bringt niemanden dazu, hart zu liegen.

Martin Seel: "Versuch über die Form des Glücks". Studien zur Ethik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 365 S., geb., 48,- DM.

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