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Produktdetails
Trackliste
CD
1They Who Must Die00:10:10
2You've Been Called00:06:29
3Go My Heart, Go To Heaven00:06:41
4Behold, The Deceiver00:06:01
5Run, The Darkness Will Pass00:04:09
6The Coming Of The Strange Ones00:06:28
7Beasts Too Spoke Of Suffering00:02:58
8We Will Work (On Redefining Manhood)00:05:24
9'Til The Freedom Comes Home00:07:06
10Finally, The Man Cried00:05:48
11Teach Me How To Be Vulnerable00:02:46
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2020

Ruft es von den Bergen

Männer müssen sich zu ihrer Verletzlichkeit bekennen, auch im sonischen Mahlstrom: Der Saxophonist und Klarinettist Shabaka Hutchings erneuert mit seinem Album "We Are Sent Here By History" den spirituellen Jazz.

Zurück in die Zukunft: In Westafrika leben die Griots, die Geschichte in Form von Geschichten an nachfolgende Generationen weitergeben. Die Weisheit der Vergangenheit wird von ihnen gesammelt, um Schicksale der Gegenwart und Zukunft mitbestimmen zu können. Auch nach der Entdeckung des geschriebenen Worts galten die Griots lange Zeit als die sicherste Instanz, um Wissen aufzubewahren - Schriftrollen konnten verlorengehen und Buchsammlungen in Brand geraten. Doch die erzählbaren Geschichten wurden im kollektiven Bewusstsein sicher verwahrt. Eingeschrieben in unsere Gene, konnten sie individuelle Tragödien überleben und sich in der Zeit behaupten. In diesem Sinne sind Griots viel mehr als Historiker, sie repräsentieren ganze Bibliotheken. "Unser neues Album ist der Versuch, diese Griot-Tradition in einem transatlantischen, modernen Kontext weiterzuführen", erklärt der Saxophonist und Klarinettist Shabaka Hutchings. Und doch dreht er jetzt auf "We Are Sent Here By History" (Impulse/Universal) die Perspektive um: Es ist ein Rückblick auf die Gegenwart aus einer nicht allzu weit entfernten Zukunft.

Dass die Veröffentlichung des zweiten Albums mit seiner Band The Ancestors zeitlich genau mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie zusammenfiel, ist natürlich ein Zufall - aber ein sehr aufschlussreicher: Das Album wirkt wie eine Art "akustische Zeit-Kapsel", die - im Sand vergraben - zurückgelassen wurde, um von zukünftigen Entdeckern nach der Apokalypse gefunden zu werden. Es warnt nicht länger vor einem zukünftigen Zusammenbruch, sondern versteht sich als Tatsachenbericht all der Fehler und Versäumnisse, die für den Niedergang verantwortlich waren. Oder wie Shabaka Hutchings formuliert: "In Zeiten wie diesen, in denen wir den Zusammenbruch vieler Institutionen erleben, von denen wir dachten, dass sie noch sehr lange Bestand haben würden, müssen wir anfangen zu überdenken, was es bedeutet, zu leben, was es heißt, zu helfen, und welche Bedeutung das Konzept des Fortschritts überhaupt noch hat."

In den vergangenen zehn Jahren hat kein anderer Musiker mit solch unermüdlicher Energie die Jazz-Diaspora in der englischen Hauptstadt befeuert wie Shabaka Hutchings. Er bildet das Gravitationszentrum der neu erwachten Londoner Jazzszene. Leichthändig leitet der Sechsunddreißigjährige drei Formationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Mit seinen Sons Of Kemet, einem Quartett mit Saxophon, Tuba und zwei Perkussionisten, versöhnt er die Bebop-Tradition mit dem karibischen Straßenkarneval auf Barbados, wo der britische Staatsbürger mit seinen Eltern zehn Jahre lang lebte. Das Trio The Comet Is Coming versucht sich dagegen mit elektronischen und akustischen Mitteln an einem kosmischen Space-Jazz. Doch erst Shabaka And The Ancestors, sein seit 2016 in Südafrika beheimatetes Sextett, schlägt die Brücke vom spirituellen Jazz eines John Coltrane und Pharoah Sanders über den Afro-Futurismus von Sun Ra bis zum Hip-Hop-Groove unserer Tage. Mit der Verpflichtung von Shabaka Hutchings und seinen drei Band-Projekten hat sich das renommierte amerikanische "Impulse!-Label" - Jazzheroen wie Sonny Rollins, Charlie Mingus, John Coltrane oder Archie Shepp veröffentlichten hier ihre wichtigsten Alben - wieder an die Spitze der Jazz-Avantgarde katapultiert. Danny Bennett, der Präsident des Verve-Labels, zu dem auch das Impulse!-Label gehört, erklärt denn auch selbstbewusst: "Jazz entwickelt sich gerade zur musikalischen Alternative des 21. Jahrhunderts."

"We Are Sent Here By History" funktioniert in diesem Sinne wie eine Straßenkarte für notwendige Veränderungen, getreu der Devise: "Bevor die Dinge besser werden können, müssen sie zunächst schlechter werden." Themen wie Black History, die Nachwehen der Sklaverei, Rassismus und überholte Männlichkeitsideale treiben Shabaka And the Ancestors auf ihrem neuen Album um. Der aus Johannesburg stammende Dichter und Spoken-Word-Performer Siyabonga Mthembu rezitiert zu Beginn der Hutchings-Komposition "You've Been Called" die Verse: "We are sent here by history / The lighter gave fire and was present at the burning / The burning of the republic / Burnt the names, burnt the records, burnt the archive, burnt the bills, burnt the mortage, burnt the student loans, burnt the life insurance / An act of destruction became creation." Solche Sätze sind weniger als endzeitliche Metapher, sondern vielmehr als eine Art Plädoyer für ein starkes Fundament unserer Zivilisation zu verstehen. Der dreifache Atem von Gesang, dem stupenden Altsaxophon von Mthunzi Mvubu und dem Tenor von Shabaka schafft einen gemeinschaftlichen energetischen Ausdruck.

Beständig dient der Perkussionsteppich, wie ihn Gontse Makhene und der Drummer Tumi Mogorosi knüpfen, im Verein mit dem ungemein federnden Bass-Spiel von Ariel Zamonsky als Rückhalt und Resonanzfläche für die feurigen Exkursionen der beiden Bläser. Dabei erinnern die Saxophongesänge von Mvubu und Hutchings nicht selten an die rhythmisierten Wort-Schlachten eines Rap-Duos. Während sich ein Titel wie "Beasts Too Spoke Of Suffering" zunächst als dichtes Free-Playing entpuppt, ist die kathartische Auflösung der instrumentalen Spannung nie weit. Obwohl als Konzeptalbum gedacht, als eine Art Soundtrack aktueller Überlebensstrategien, zieht die Platte wie ein sonischer Mahlstrom den Hörer in einen Strudel hypnotischer Klänge hinein: Meditationen aus der Kampfzone, durch die immer wieder gleißende, hoffnungsfrohe Lichtblitze zucken, Funken der Neuerfindung.

Shabaka hat inzwischen zu einer unverwechselbaren Tongebung und Phrasierung gefunden: In seinem perkussiven Spiel reiht er Stakkato-Kürzel aneinander, dreht und wendet sie rasend schnell hin und her und destilliert daraus neue melodische Motive. Allein im Schlusstitel des Albums "Teach Me How To Be Vulnerable" ("Männer müssen sich zu ihrer Verletzlichkeit bekennen!") entpuppt sich Hutchings mit seinem fast hingehauchten, bauchigen Ben-Webster-Ton - meditativ-samtig statt brutal rauh - als verhinderter Romantiker. Man könnte mutmaßen, ein Album dieser Komplexität würde den Zuhörer leicht überfordern und ermüden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Musik lebt aus der Freiheit eines wirbelnden Chaos von Trommeln, Saxophonen und Stimmen. Sie feiert die Schönheit der Widerstandskraft. Trotz der Atmosphäre dunkler Unergründlichkeit triumphiert letztlich die Inspiration über die Depression. Der musikalische Gestus macht dem Hörer klar, dass er mit all seiner Hoffnung, Wut und Trauer nicht allein, dass die Energie seiner Empfindungen anschlussfähig ist. Zugleich tritt das Album den Beweis an, dass jener Jazz, der über seine eigenen sozialen Bedingungen aufklärt, seine Deutungsmacht und sein Emanzipationspotential heute noch längst nicht an Rap und Hip-Hop verloren hat.

PETER KEMPER

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