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Nach jahrzehntelanger Forschung schrieb Carlo Ginzburg die Geschichte der »Hexen« neu und entfachte damit innerhalb der europäischen Dämonologie eine heftige Debatte. Ein Standardbuch moderner Geschichtsschreibung, bis heute.Den Inquisitoren erzählten die der Hexerei Angeklagten sich immer wieder ähnelnde Geschichten von nächtlichen Zusammenkünften an abgelegenen Orten, vom Flug auf Stöcken, Besen oder Tieren oder der Verwandlung in Tiere - Geständnisse, die das Sakrileg einer »Reise in die Welt der Toten« preiszugeben schienen.Der erfahrene Spurensicherer Carlo Ginzburg untersucht…mehr

Produktbeschreibung
Nach jahrzehntelanger Forschung schrieb Carlo Ginzburg die Geschichte der »Hexen« neu und entfachte damit innerhalb der europäischen Dämonologie eine heftige Debatte. Ein Standardbuch moderner Geschichtsschreibung, bis heute.Den Inquisitoren erzählten die der Hexerei Angeklagten sich immer wieder ähnelnde Geschichten von nächtlichen Zusammenkünften an abgelegenen Orten, vom Flug auf Stöcken, Besen oder Tieren oder der Verwandlung in Tiere - Geständnisse, die das Sakrileg einer »Reise in die Welt der Toten« preiszugeben schienen.Der erfahrene Spurensicherer Carlo Ginzburg untersucht Volksbräuche und die heidnische Mythologie und rekonstruiert so das Stereotyp des Hexensabbats im 15. und 16. Jahrhundert.Akribisch und dabei argumentationsscharf und zugleich phantasievoll assoziierend nutzt Ginzburg historische, soziologische und anthropologische Methoden, bezieht die Ethnologie, Religionsgeschichte und Kunstwissenschaft in seine Überlegungen ein. Ein bedeutendes Buch für die Erforschung des Hexenkults wie für die Geschichtsschreibung.
Autorenporträt
Carlo Ginzburg wurde 1939 als Sohn von Leone und Natalia Ginzburg in Turin geboren. Er lehrt Neuere Geschichte an der Universität von Bologna und der California State University in Los Angeles. Sein Werk, wovon besonders "Der Käse und die Würmer" ihm hohes Renomme unter den europäischen Historikern verschaffte, wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Salento, dem Premio Viareggio sowie dem Aby-M.-Warburg-Preis der Stadt Hamburg. Ginzburg ist Ehrenmitglied der amerikanischen Academy of Arts and Sciences.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.1999

Der Jäger des verlorenen Sagenschatzes
Hat der alte Hexenmeister sich schon wieder wegbegeben: Carlo Ginzburg bewahrt sich auch als Sechzigjähriger die jugendliche Unruhe

Die Gutenberg-Galaxis steht unter dem Regiment der linearen Zeit. Der Leser durcheilt unendliche Weiten, kehrt aber niemals an den Ursprung zurück. Moderne Gelehrte datieren ihre Schriften; die Chronologie eines wissenschaftlichen Lebenswerkes ist heutzutage über jeden Zweifel erhaben. Der Historiker, der einmal die Biographie seines Vorgängers Carlo Ginzburg schreiben will, wird keinen Anlaß haben, am Wunder dieser außerordentlichen Produktivität zu zweifeln: Der junge Ginzburg trat schon fertig vor die gelehrte Welt wie der zwölfjährige Jesus unter die Weisen im Tempel. Wäre er ein Maler und hätte der Biograph erst Ordnung in sein Werk zu bringen, dann würde man es nicht glauben: Kein Meister fällt vom Himmel, und ein komplexes und subtiles Bild kann unmöglich ein Jugendwerk sein. Doch die teleologische Illusion, die hinter solcher Aufräumarbeit steckt, hat Ginzburg in seinen "Erkundungen über Piero" entzaubern wollen: Die kühnen Innovationen der Londoner "Taufe Christi" sind kein Argument gegen eine Frühdatierung. Im Fall seines eigenen OEuvres ist an der Evidenz der Daten nicht zu rütteln. Sowohl das dreißigste Heft der zweiten Reihe der Annalen der Scuola normale superiore di Pisa als auch der siebte Band der dritten Serie der "Studi medievali" tragen Jahreszahlen; sie erschienen 1961 und 1966, als Ginzburg zweiundzwanzig respektive siebenundzwanzig Jahre alt war. Zwei Aufsätze, einer über einen Hexenprozeß in Modena im Jahre 1519, einer über die Methode der Warburg-Schule von ihrem Begründer bis zu Ernst Gombrich, enthalten schon den ganzen Ginzburg, seine Motive, Verfahren und Obsessionen.

Charakteristisch blieb auch der Wechsel zwischen der antiquarischen Versenkung in einen einzelnen Fall und der Rekonstruktion eines wissenschaftshistorischen Prozesses in philosophischer Absicht. Der Erfinder der "Microstoria" will auch den Makrokosmos begreifen wie der Held seines berühmtesten Buches, der Müller mit dem Spitznamen Menocchio, der den Inquisitoren pantheistische Lehren vortrug. Der liebe Gott steckt deshalb im Detail, weil er mit dem Universum identisch ist. Dem Direktor des Warburg-Instituts wird es nicht häufig widerfahren sein, daß ein Stipendiat seine Dankbarkeit durch eine Generalkritik der Institutsgeschichte bezeugte. Aber das "Methodenproblem", zu dem der Aufsatz von 1966 "Bemerkungen" machte, war dasjenige des Verfassers. Auch die "Holzaugen" des Sammelbandes, den der Wagenbach Verlag seinem Autor zum heutigen sechzigsten Geburtstag darbringt, blicken gebannt auf dieselbe Frage: In welchem konzeptionellen Rahmen kommen die Bilder aus der Vergangenheit am besten zur Geltung?

Panofskys Hinweis auf die Linearperspektive in der Malerei und die kritische Methode in der Historie als gleichzeitige Entdeckungen ist für Ginzburg ein unendlich suggestiver Wink: Die Erfindung der Perspektive wird ihm zum Kardinalproblem, weil sie den Historiker in seine eigene Geschichte führt, vor die Frage nach der historischen Möglichkeit seines Standpunkts stellt. Die Geschichte der Kunst fasziniert Ginzburg, weil er sich Aufschluß über die Kunst der Geschichte erhofft. Es mag dann seltsam erscheinen, daß sein Buch über Piero della Francesca sich jeder Spekulation über die historischen Bedingungen der Zentralperspektive enthält. 1966 hatte Ginzburg Gombrichs Modell einer Wechselwirkung von Funktionen und Formen als zukunftsweisend gepriesen: Neue Forderungen an die Kunst regen die Künstler zur Suche nach neuen Mitteln an. Er hatte angeregt, Gombrichs "mental set" als Inbegriff der die Wahrnehmung prägenden Haltungen und Erwartungen um politische Einstellungen und soziale Vorurteile zu erweitern. 1981 nahm er sich das Rätsel von Pieros "Geißelung" vor. Hier drängt die neue Technik das Heilsgeschehen an den Rand, vorne auf der Bühne stehen drei modern gekleidete Männer, die von den Martern des Heilands keine Notiz zu nehmen scheinen. Man meint, sie seien ins Gespräch vertieft, dabei gehen ihre Blicke aneinander vorbei. Während die Perspektive also die Augen der Betrachter auf einen einzigen Punkt lenkt, scheint die Welt der dargestellten Individuen in lauter subjektive Wirklichkeiten zu zerfallen. Welches "mental set" dieses Ineinanderspielen von Integration und Aufspaltung des Bildraums ermöglichte, wird von Ginzburg nun allerdings nicht erörtert. Ihm genügt, daß er dem Bild eine politische Aussage ablesen kann. Als Kreuzzugsaufruf spiegelt es die Absichten des von Ginzburg erschlossenen Auftraggebers, dessen Porträt er in einem der drei Herren wiederfinden möchte: Im Vordergrund steht hier der Hintermann.

Es war womöglich gar nicht im Sinne des Autors, daß Martin Warnke diesen Report vom Kunstmarkt im Vorwort zur deutschen Ausgabe als ketzerisch anpries. Ginzburg ist bei Adorno und Gramsci in die Schule gegangen; er weiß, daß die Orthodoxie eine Geisteshaltung ist, die man nicht abwirft wie eine Mönchskutte. Der rechte Glaube ist ein Regelwerk, das die Welt und die Menschen berechenbar macht. Ginzburg treibt der Verdacht um, die Wissenschaft sei zur Orthodoxie verdammt, weil sie möchte, daß es überall mit rechten Dingen zugehe. Subversiv könnte man die Methode der "Erkundungen über Piero" höchstens wegen ihrer Übererfüllung der Forderung der Regelhaftigkeit nennen. Gegen die frei assoziierende Stilkritik macht Ginzburg die Notwendigkeit eines "kontrollierten" Vorgehens geltend. So fixiert erscheint er auf diese "Kontrolle", daß man ihn für einen Sadisten halten könnte, der sich an Foucault berauscht. Wie der Auftraggeber die Phantasie des Künstlers beherrschte, so soll er sich von jenseits des Grabes den Geist des Wissenschaftlers unterwerfen. Auch der Kunsthistoriker entkommt der Zentralperspektive nicht: Der unsichtbare Patron ist der Fluchtpunkt der Bildbeschreibung. Die Hypothesen, die Ginzburg braucht, um den Glatzkopf der "Geißelung" als das Superhirn hinter Piero zu identifizieren, schießen allerdings durchaus unkontrolliert ins Kraut.

Daß der Historiker den sozialen Raum entwirft und vermißt wie ein Maler, ist für den historiographischen Konstruktivismus ein Grund, die Unerkennbarkeit der Realität zu behaupten. Ginzburg ist ein leidenschaftlicher Kritiker eines Relativismus, der zwischen dem gefundenen und dem erfundenen Bild nicht unterscheiden will; mehrere Aufsätze in "Holzaugen" führen die Auseinandersetzung mit den Jüngern Hayden Whites fort. Unter den Realisten im Methodenstreit der Historiker ist Ginzburgs Position insofern singulär, als er von einem radikalen Postulat der unvermeidlichen Parteilichkeit ausgeht: Die erste Perspektive ist für ihn immer noch der Klassenstandpunkt. Die Überlieferung ist verzerrt durch das Interesse der Oberschichten. Dabei ist diese Formulierung noch harmlos: Wir haben das unverstellte Bild nicht, das die herrschende Meinung als Fälschung entlarven könnte. Alle Techniken der Überlieferung, die Ordnung ins Chaos bringen, dienen der Stabilisierung der konzeptuellen Hierarchien. Ginzburgs Strategien zielen darauf, diesen herrschaftlichen Blick zu überlisten und seine Hegemonie durch Momentaufnahmen einer anderen Wirklichkeit zu durchbrechen.

In einem Aufsatz über die christliche Übertretung des jüdischen Bilderverbots arbeitet Ginzburg die Ambivalenz der Repräsentation heraus. Die von Origines eingeführte Unterscheidung von Götzen und Abbildern machte es einerseits möglich, die Ausgeburten der Phantasie von den Erscheinungen der Wirklichkeit zu trennen. Andererseits lieferte sie die Welt dem verdinglichenden Zugriff des Beobachters aus; die Dämonen, die man am hellichten Tag nicht mehr zu Gesicht bekommt, kehrten in der Nacht zurück. In diesem Aufsatz verweist Ginzburg auf Gombrichs Gedanken, Zeichen ohne Bedeutung machten für den Betrachter eines Bildes die Illusion perfekt, indem sie visuelle Konventionen bestätigten: Realistisch macht ein Gemälde der unscheinbare, wie zufällig dahingeworfene Gegenstand, der mit dem Thema nichts zu tun hat und so den Verdacht entkräftet, hier sei alles konstruiert. Ein Ding, das keine Bedeutungslast trägt, spiegelt dem Betrachter eine Welt vor, die seinen Interpretationen immer schon vorausliegt und sie dadurch stimuliert. An jenem Detail, das in der Kunst den Realitätseffekt verbürgt, möchte Ginzburg in der Geschichte die Realität selbst zu fassen bekommen. Die Zeichen, die scheinbar ohne Bedeutung sind, weil sie sich den herrschenden Begriffssystemen nicht fügen, gewähren dem Historiker Einblick in ein Leben, das mehr gewesen ist als Mühsal und Arbeit.

Diese radikale Hermeneutik hat Ginzburg schon in seinem allerersten Aufsatz praktiziert, jenem über den Hexenprozeß in Modena. Chiara Signorini, eine Bauersfrau, wurde des Schadenzaubers bezichtigt. Vor der Inquisition berief sie sich auf wunderbare Kräfte, die ihr die Jungfrau Maria verliehen habe. Unter dem Druck des Verhörs und der Folter paßte die Angeklagte ihre Geschichte immer mehr den Erwartungen des Inquisitors an, aus dessen Büchern hervorging, daß der Teufel dahinterstecken mußte, wo Zauberei im Spiel war. Doch Chiara verweigerte den letzten Schritt: Sie verleugnete die Jungfrau nicht. Der Sieg des offiziellen Diskurses war nicht total: Das Wissen des Inquisitors war Bücherweisheit, die Praxis der Landwirtin sah anders aus. Auch dem Historiker, der dieselben Bücher gelesen hat wie der Inquisitor, erscheint Chiaras Marienfrömmigkeit, die scheinbar ohne Beispiel ist, rätselhaft. Nun beglaubigt das abseitige Detail bei Gombrich nur deshalb die Realität des Dargestellten, weil es nicht wirklich unverständlich ist. Der Betrachter muß den Gegenstand wiedererkennen, als Einrad etwa oder als Kuh in der Haltung des Denkers von Rodin, sonst wird er ihn für einen Fehler des Malers halten. Auch Ginzburg kann nicht umhin, die seltsamen Reden der Inquisitionsopfer, die für Augenblicke die monotone Rationalität der Protokolle sprengen, als Ausdruck von Konventionen zu lesen, nur eben von Denkgewohnheiten, die quer liegen zu den Sprachregelungen von Recht, Kirche und Wissenschaft.

Ginzburgs erstes Buch handelt von den Benandanti, den "Wohlfahrenden", die den Obrigkeiten in Friaul Rätsel aufgaben. Sie erzählten, sie verließen nachts ihre Körper, um gegen die Hexen zu kämpfen, die die Fruchtbarkeit der Felder bedrohten. Im Weltbild der Inquisitoren war kein Platz für die weiße Magie. Ginzburg zeigt, daß wie Chiara Signorini auch die Nachtwandler mit der Zeit das Bild übernahmen, das sich die Verfolger von ihnen machten: Am Ende glaubten sie wirklich, sie seien selber die Hexen. Nach Ginzburg aber machten sie auf ihren Seelenwanderungen von einem archaischen Wissen Gebrauch, von dem sich in den dämonologischen Traktaten der Zeit nur solche Spuren erhalten hatten, die nicht mehr verstanden wurden und also unsichtbar waren. Die Benandanti hatten sich nicht dem Teufel verschrieben, sondern hielten sich für auserwählt von Geburt an, weil sie in der Fruchtblase zur Welt gekommen waren. Wenn sie Wunderdinge im Schlaf vollbrachten, praktizierten sie Ginzburg zufolge eine schamanistische Ekstasetechnik.

Aber wie war die Weisheit der Schamanen ins Alpenland gelangt? Mancher Leser empfand es als bizarr, daß Ginzburg als Kronzeugen einen livländischen Werwolf aufrief, der sich gleichfalls nächtlicher Verdienste in Feldschlachten gegen die Hexen rühmte. Doch die Frage nach den Übertragungswegen geht insofern an Ginzburg vorbei, als die Weitergabe des verbotenen Wissens seinen Axiomen zufolge im verborgenen geschehen muß: Wäre sie öffentlich, könnten die Mächtigen sich das Geheimnis aneignen. Zur äußersten Konsequenz trieb Ginzburg die esoterische Interpretationskunst in seinem Buch über den Müller Menocchio, der im Jahre 1600 hingerichtet wurde, weil er den Leuten in seinem Dorf erzählt hatte, nicht Gott habe die Welt geschaffen, sie sei vielmehr von selbst entstanden wie ein Käse aus geronnener Milch.

Im Singulären dieses Falls liegt für Ginzburg in Umkehrung der hergebrachten historischen Logik seine universale Bedeutsamkeit. Vielleicht ist er entzückt, vielleicht ist er bedrückt, vielleicht auch ein bißchen verrückt: Das mag sich mancher Dorfbewohner gedacht haben, wenn Menocchio seine ketzerischen Reden hielt. Die dritte dieser Möglichkeiten kommt für Ginzburg nicht in Betracht. Der Müller darf kein Außenseiter sein. Daß von keinem Standesgenossen vergleichbare Meinungen überliefert sind, beweist nur, wie gut die Repression funktioniert hat. Beim Vergleich von Menocchios Kosmologie mit den Büchern, die er gelesen hatte, stößt Ginzburg auf Elemente, die keine Lesefrüchte sind: Zeichen ohne Sinn, denen ein Sinn gegeben werden muß. Diesen sucht Ginzburg in der Tiefe. Menocchio wird zum Sprecher einer Untergrundbewegung von unzähligen, wenn auch zumeist ahnungslosen Mitgliedern, artikuliert einen Materialismus, der angeblich die natürliche Denkform des Bauern ist. Gegen Menocchios Aussage, er habe sich die Merkwürdigkeiten selbst ausgedacht, weil er mit einem subtilen Verstand geschlagen sei, erklärt Ginzburg ihn zum Treuhänder einer mündlichen Tradition.

Je weniger Fetzen dieser Tradition in schriftlichen Quellen auftauchen, lehrt Ginzburgs aberwitzige Tiefenhermeneutik, desto weiter muß man hinabsteigen, um den Strom der Überlieferung zu finden. Die nächste Spur der Kosmologie Menocchios entdeckt Ginzburg nicht bei pensionierten Käsekostern in der Schweiz, sondern Jahrhunderte vorher in Indien. Hier ist es zwar nicht Milch, die gerinnt, sondern Wasser, aber wer je "Stille Post" gespielt hat, wird die Präzision der Nachrichtenübermittlung bewundern. Man muß Ginzburg zugute halten, daß er gleich seinem Helden um die Rechtfertigung seiner eigensinnigen Konstruktionen nie verlegen ist. Aktenkundig ist seine erstaunliche Behauptung, in der Sprache der Geschichte gebe es kein Hapax legomenon, kein nur einmal belegtes und daher unübersetzbares Wort. Das Problem der Ausnahme sei falsch gestellt. "Denn wenn etwas existiert, muß es auch einen Grund dafür geben. Eigentlich gibt es in der Geschichte keine Anomalien."

Wenn ein Kapitel seiner jüngsten Monographie, der packenden "Entzifferung" des Hexensabbats, den Titel "Anomalien" trägt, zeigt das keinen Widerruf dieses rationalistischen Credos an. Die Ausnahmen ergeben sich nicht in der Geschichte, deren lückenloser Zusammenhang vorausgesetzt bleibt, sondern im Forschungsprozeß: Sie zwingen zur Revision von Thesen. Hier sind es sizilianische Funde, die zur Rücknahme der Vermutung führen, die Legenden vom Ausritt der Hexen seien keltisches Erbgut. Gleichwohl darf die Reise, die Ginzburg auf dem Wege der Selbstkorrektur über die Grenzen Europas hinaus fast bis ans Ende der Welt führt, als Versuch verstanden werden, dem eurozentrischen Rationalismus zu entkommen, und sei es auch nur im Traum. Er hat erkannt, daß der Satz vom Grunde das Gedankengebäude untergräbt, dessen Fundament er ist. Wenn nichts ohne Grund existiert, dann gibt es den göttlichen Zufall nicht, der den Realitätseffekt erzeugen sollte. Der Beobachter versteht immer schon alles und also nichts. Ginzburg möchte sich deshalb der Tyrannei der linearen Zeit entziehen und umkreist den Hexensabbat in einer morphologischen Betrachtung, die formale Ähnlichkeiten feststellen kann, ohne kausale Abhängigkeiten beweisen zu müssen. In einer Gesellschaft, die tscherkessische Flugakrobaten und rheinische Karnevalisten einschließt, nehmen sich der livländische Werwolf und die Benandanti aus Friaul tatsächlich wie nahe Verwandte aus.

Aber die letzte Beglaubigung findet Ginzburgs Geschichte des Hexensabbats nicht in irgendeiner Flaschenpost, die in Indien abgeschickt wurde und für Italien bestimmt war, sondern ebenso wie alle anderen Geschichten im Zeugnis des Erzählers. Das Buch endet mit einem Geständnis: Der Autor war selber dabei. Im Menschheitstraum der Reise zu den Toten entdeckt Carlo Ginzburg die Urszene der Historie. Moderne Hexen feiern ihre Partys nicht mehr auf dem Blocksberg, sie sitzen am Schreibtisch und fliegen im Geiste durchs Fenster.

An der Ekstase des Schamanen fasziniert Ginzburg die Einheit der äußersten Gegensätze von Ruhe und Bewegung. Der Schlafende liegt da wie tot, und würde man ihn berühren, müßte er wirklich sterben. Niemand sieht, daß er zur gleichen Zeit jede Grenze überschreitet und an Raum und Zeit nicht gebunden ist. Alles kommt für Ginzburg darauf an, daß der Hexensabbat im Kopf stattfindet: Die Benandanti waren nützliche Mitglieder der Gesellschaft, praktizierten keine Gegenreligion in revolutionärer Absicht. So stellt der Schamanismus die Form für ein Leben bereit, das nach Abbildern einer besseren Welt verlangt, ohne sich Götzen auszuliefern. Auch wenn er sich zu den kühnsten Konjekturen erhebt, bleibt Ginzburg auf dem Boden der Philologie, denn seine Tollheit hat Methode. Wenn man die dunklen Worte erwägt, in denen Ginzburg den Nachklang unerhörter Erfahrungen vernimmt, obwohl sie ein Echo von Aberglaube und Sage sind, mag man an die Pathosformeln denken, jene gefrorenen Flammen, starre Sinnbilder der Bewegung, deren Erneuerung in der Renaissance Warburg zufolge ein wirklich im Geiste der heidnischen Vorzeit leidenschaftlich und verständnisvoll nachgefühltes Erlebnis war.

Wie Proust möchte Ginzburg schreiben, bekennt er im ersten Aufsatz der "Holzaugen", mit Worten malen wie Elstir, der sich nicht nach seinem Wissen richtet, sondern nach den optischen Täuschungen des ersten Eindrucks. Aber Ginzburgs Kunst steckt nicht in seinen gelegentlichen Experimenten mit einer Collagetechnik, die zeigt, statt zu erklären. Er sieht von seinem Wissen nicht ab, sondern trägt es hinzu, gleicht eher Swann, der Odette zu lieben lernt, als er den kunsthistorischen Archetyp erkennt. Und wie die formelhafte Melancholie Botticellis in Odettes Haltung Swann das unlösbare Rätsel aufgibt, ob die Pose der Beobachteten ein Ergebnis der Beobachtung ist, so bleibt Carlo Ginzburg, wenn er die Geschichte betrachtet, gefesselt vom Geheimnis der Perspektive. PATRICK BAHNERS

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