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Von allen medialen Techniken war das Alphabet zweifellos das historisch wirkmächtigste. Es schuf Religionen, veränderte den Gemeinschaftskörper und etablierte Geschlechterbilder, die allmählich auch physiologisch "Realität" wurden. Mit jeder medialen Technik entstehen neuartige imaginäre Räume, in deren Bann der westliche Mensch gezogen wird. Verursachten diese zunächst noch Schwindelzustände, so wich die Angst allmählich einer Lust am Schwindel: einer Sucht nach immer neuen, immer besseren Simulationen, nach einem technisch beherrschbaren Zustand der Entrückung.
Christina von Braun
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Produktbeschreibung
Von allen medialen Techniken war das Alphabet zweifellos das historisch wirkmächtigste. Es schuf Religionen, veränderte den Gemeinschaftskörper und etablierte Geschlechterbilder, die allmählich auch physiologisch "Realität" wurden. Mit jeder medialen Technik entstehen neuartige imaginäre Räume, in deren Bann der westliche Mensch gezogen wird. Verursachten diese zunächst noch Schwindelzustände, so wich die Angst allmählich einer Lust am Schwindel: einer Sucht nach immer neuen, immer besseren Simulationen, nach einem technisch beherrschbaren Zustand der Entrückung.

Christina von Braun verfolgt im vorliegenden Buch zwei historische Hauptstränge in ihrer Verschränkung und Verzweigung: die Geschlechterbilder einerseits und den Vergleich zwischen jüdischen und christlichen Denkwelten andererseits. An keinem anderen Beispiel lässt sich die Wirkungs- und Wirklichkeitsmacht abendländischer Simulationstechniken besser aufzeigen. Indem die Autorin erläutert, was beispielsweise das Alphabet mit der Beschneidung zu tun hat und die Kommunikationstechniken des 18. und 19. Jahrhunderts mit der "Krankheit Onanie", eröffnet sie einen neuen Blick auf historische Zusammenhänge.
Autorenporträt
Christina von Braun, geb. 1944 in Rom, lebte bis 1981 als freie Autorin in Paris. Sie drehte etwa 50 Filmdokumentationen und Fernsehspiele und verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. Seit 1994 Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.04.2021

Gegen die Wut
Die Genderforscherin Christina von Braun hat ihre Memoiren
geschrieben – und das Porträt einer ganzen Epoche
VON AURELIE VON BLAZEKOVIC
Als Feministin wird man nicht geboren, erst recht nicht im Vatikan im Jahr 1944. Ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte Christina von Braun im Vatikan, wo die Familie gegen Ende und nach dem Krieg als Gäste des Papstes lebte, der Vater war deutscher Diplomat, wurde von den Nazis zunächst nach Äthiopien strafversetzt und dann in den Vatikan befördert, einen der wenigen Staaten, die noch Beziehungen zu Deutschland unterhielten. Von Braun hatte so eine frühe Kindheit im Frieden der vatikanischen Gärten. Hinterlassen hat das paradiesische Erinnerungen – und eine lebenslange Sehnsucht nach Italien.
Es ist nur die erste von vielen Etappen des außergewöhnlichen Lebens, auf das Christina von Braun in ihren Memoiren „Geschlecht. Eine persönliche und eine politische Geschichte“ zurückblickt. Ein Leben in vielen verschiedenen Welten, zwischen Erbe und Emanzipation, zwischen Deutschland und Frankreich. Vor allem, klar, ein Leben als Frau.
Sie wird Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Filmemacherin, in den Neunzigern brachte sie die Gender-Studies als Studiengang nach Deutschland und ist Professorin an der Humboldt-Universität in Berlin. Die Geschichten einiger Männer ihrer Familie sind ausführlich beschrieben, der bekannteste unter ihnen ist ihr Onkel, der Raketenwissenschaftler und Nazi-Kollaborateur Wernher von Braun. Ein offenbar charmanter Mann, dessen Erbe sie aber auch zutiefst beschämt. „Nie wieder hatte ich ein derartig gespaltenes Verhältnis zu irgendeinem anderen Menschen.“ Mit ihm, eine andere Episode des Buchs, nahm sie 1969 auch an einem Raketenstart der Nasa in Cape Canaveral teil, ein paar Monate vor der Mondlandung. Solche Beinahe-Begegnungen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts finden sich im Buch.
Von Christina von Brauns weiblichen Vorfahren gibt es, wie in allen Familien, sehr viel weniger Aufzeichnungen, bestenfalls Tagebücher. Und das, obwohl es mit ihrer Großmutter Hildegard Margis eine weitere direkte Verwandte von historischer Bedeutung gibt. Margis wurde in Berlin von der Gestapo verhaftet und starb 1944 im Frauengefängnis Barnimstraße, nachdem sie sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen hatte. Das Erbe von Frauen ist häufiger mündlich und damit vergänglicher, Christina von Braun beschäftigte sich mit dieser historischen Ungerechtigkeit schon in früheren Filmen und Büchern. Mit „Geschlecht“ hinterlässt sie ihren Enkelinnen und Enkeln, denen das Buch gewidmet ist, nun eine umfassende und zutiefst politische Aufzeichnung ihrer eigenen Geschichte.
In der wurden Geschlechterfragen erst ganz allmählich zum bestimmenden Motor. Natürlich gab es Achtundsechzig. Die kosmopolitisch aufgewachsene Diplomatentochter (Internatsaufenthalte in England und Norddeutschland) war als junge Intellektuelle in New York und später in Paris stets im Kontakt mit den politischen und kulturellen Eliten. Und sie wuchs in eine Frauenbewegung hinein, die an die Errungenschaften der Zwanzigerjahre direkt anschloss, an die Zeit, in der ihre Großmutter politisch aktiv war. Beide Frauen fanden sich an Zeitpunkten der Geschichte wieder, zu denen jeweils mehr möglich war als zuvor. Für die Großmutter war es nach 1918 das Wahlrecht, für Christina von Braun in den Siebzigern die Freiheit, einen Beruf auszuüben.
Ein Gut, dass sich in ihrer Generation noch erschreckend fragil anfühlte. Bei den Geburten ihrer Kinder schleppte sie Arbeitslektüre ins Krankenhaus und pausierte beruflich gerade einmal zwei Wochen – keine Ausnahme unter ihren gleichaltrigen Freundinnen. Heute, schreibt sie, wundere sie sich manchmal über ihre eigenen Erinnerungen.
Als Freiberuflerin drehte sie Filme, die, so kann sie es rückblickend einordnen, letztlich alle um eine große Frage kreisten: Wie kann es sein, dass sich in gerade mal hundert Jahren die Geschlechterverhältnisse so schnell und so gewaltig verändern konnten? In nur wenigen Generationen schließlich, im Laufe des 20. Jahrhunderts, änderte sich doch eigentlich alles zwischen den Geschlechtern.
Nach Antworten sucht und suchte Christina von Braun stets in der Geschichte, in der Geschichte der Frauenkrankheit Hysterie etwa, in der deutsch-jüdischen Geschichte, oder in der deutschen Romantik. Es ist ein beinahe archäologisches Vorgehen, das von Braun über Jahre als Autorin und später als Wissenschaftlerin entwickelt hat, ein Entblättern der Zeit, ein Forschen nach dem, was hinter einer bestimmten „Erinnerungsschicht“ noch liegt, und warum sich manches parallel entwickelte, etwa die Psychoanalyse und der Film.
So analytisch geht sie auch mit ihrer eigenen Biografie um, wenn sie Schicht für Schicht die Muster ihrer Vergangenheit freilegt.
Wie kam es also dazu, dass sie sich Geschlechterfragen verschrieb? Neben der Zeit und ihrer Herkunft, beides machte das erst möglich, aber vielleicht auch erforderlich, war der wesentliche Grund ihre Ehe. Erst im „Nahkampf“ der Beziehung zu ihrem Mann habe sie die Ohnmacht und die Wut gespürt, die für so einen Weg nötig sind. Nirgends ist das Ringen um gleichberechtigte Freiräume schließlich dringender als im eigenen Privatleben, und nichts politisiert mehr als die Erfahrung von Ungerechtigkeit am eigenen Leib. Mit ihrem Ehemann, dem Psychoanalytiker Tilo Held, ist sie mittlerweile seit 50 Jahren verheiratet.
Im Deutschland der Achtzigerjahre erlebt sie eine unangenehme Überraschung: Sie wird für ihr Familienmodell, zu dem auch eine Kinderfrau gehört, verurteilt. Die Kritik, dass Frauen wie sie für ihre feministische Arbeit letztlich immer weniger privilegierte Frauen ausbeuten würden, kennt sie gut.
Einiges änderte sich seither zwischen den Geschlechtern, doch anderes nur wenig, aber genau das macht diesen Rückblick so aufschlussreich. Eine der lustigsten Episoden des Buchs handelt davon, wie sich die ehrwürdige Académie française bis 1980 dagegen wehrte, die erste Frau in ihren Gelehrtenklub zu lassen.
Noch heute stehen auf der feministischen Agenda Forderungen nach Lohn- und Chancengleichheit ganz oben. Doch die Politisierung von Frauen geht, wohl nicht nur im Leben Christina von Brauns, viel eher auf Erlebnisse zurück, die individueller sind – bis man versteht, dass sie wohl doch nicht so individuell sind. Zum Showdown in der Ehe der Autorin kommt es, als sie 1985 ein Buch über Hysterie schreibt („Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido“). Die Erkenntnis, „dass mit dem ,hysterischen Frauenkörper‘ kein individuelles Problem verhandelt wird“, beschreibt Christina von Braun als Befreiung und schließlich auch als Beginn eines Friedens in ihrer Partnerschaft.
Tatsächlich sind die Seiten, die von den Kämpfen der Ehe handeln, besonders lehrreich. Der Fokus auf das Privatleben macht das Buch anschlussfähig an den heutigen Feminismus. Mit der Bedeutung des Geschlechts wird man erst an bestimmten Punkten im Leben konfrontiert. Oft erst dort, wo es hart auf hart kommt, wo die Einzelne Leistung zu bringen hat, Verantwortung zu übernehmen und Erwartungen zu erfüllen – in ihrer Rolle als Mutter, Partnerin oder Arbeitnehmerin.
Das Erbe von Frauen
ist häufiger mündlich und
damit vergänglicher
Im Deutschland der Achtziger
erlebt sie dann eine wirklich
unangenehme Überraschung
„Mit dem ,hysterischen‘ Frauenkörper wird kein individuelles Problem verhandelt.“ – Christina von Braun. Foto: Horst Galuschka/Imago
Christina von Braun:
Geschlecht. Eine
persönliche und politische Geschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2021.
368 Seiten, 24 Euro.
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