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Kalf, von Berufs wegen Biograph, wird mit seiner Frau nach New York eingeladen, ein berühmter Verleger will ihn kennen lernen. Eine große Ehre, die sich bald als fatale Falle herausstellt, denn Kalfs Frau wird entführt. Kalf ist völlig schokiert, unfähig, sich dem Entführer zu stellen. Er macht sich auf die Suche nach ihr und verliert und verstrickt sich immer weiter in die Vergangenheit eines gewissen Meerkatz, dessen Biographie er eigentlich hätte schreiben sollen. Dass die Entführung mit der dubiosen Vergangenheit eines Nazischergen zusammen hängt, erfährt Kalf erst sehr mühsam. Und erst am…mehr

Produktbeschreibung
Kalf, von Berufs wegen Biograph, wird mit seiner Frau nach New York eingeladen, ein berühmter Verleger will ihn kennen lernen. Eine große Ehre, die sich bald als fatale Falle herausstellt, denn Kalfs Frau wird entführt. Kalf ist völlig schokiert, unfähig, sich dem Entführer zu stellen. Er macht sich auf die Suche nach ihr und verliert und verstrickt sich immer weiter in die Vergangenheit eines gewissen Meerkatz, dessen Biographie er eigentlich hätte schreiben sollen. Dass die Entführung mit der dubiosen Vergangenheit eines Nazischergen zusammen hängt, erfährt Kalf erst sehr mühsam. Und erst am Ende kann Kalf für sich selbst die Frage beantworten, die ihn am meisten interessiert: woraus wir gemacht sind, woraus er selbst gemacht ist.
Benno Fürmann leiht diesem sanft zwischen Krimi und literarischem Roadmovie oszillierenden Roman sein unverwechselbares Timbre.
Autorenporträt
Thomas Hettche, geb. 1964 am Rand des Vogelsbergs, studierte in Frankfurt Philosophie und Germanistik. Nach Stipendienaufenthalten u.a. in Krakau, Venedig, Stuttgart, Rom und Los Angeles lebt er mit seiner Familie in Berlin. Essayistische Veröffentlichungen vor allem in der FAZ und der Neuen Zürcher Zeitung. Juror des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Herausgeber der literarischen Online-Anthologie NULL. Preise u.a.: Rauriser Literaturpreis 1990, Robert-Walser-Preis 1990, Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1994, Rom-Preis der Villa Massimo 1996, Premio Grinzane Cavour 2005.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2006

Der Herbst kann kommen
Zwischen Heimat und Hollywood: Selten war die deutschsprachige Literatur so welthaltig wie heute. Ein Ausblick auf die neuen Bücher

Sie sind alle wieder da in diesem neuesten Herbst, die alten und die neuen Protagonisten aus der Welt der deutschsprachigen Literatur. Die alten Könige, die jungen Streber, die Schaumschläger, die Eindringlinge, die ewigen Platzhirsche und die echten Revolutionäre. Während einige sich vor Jahren in einer Endlosschleife verirrt haben, aus der sie sich ein Leben lang nicht mehr herausschreiben können, jagen andere von Idee zu Idee, von Neuerfindung zu Neuerfindung.

Einer der größten Neuerfinder der deutschen Gegenwartsliteratur ist der Unternehmer und Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler (8). Der sich mit jedem neuen Buch tief in ein neues Gesellschaftssystem hineinfräst und dieses mit den Mitteln der literarischen Tradition umkreist und erleuchtet, wie es kein zweiter kann. Klingt synthetisch, ist aber ungeheuer lebendig und widerständig und klug. Dieses Mal ist es die Welt der Literatur, der sogenannte Literaturbetrieb. Ein alter, mächtiger, patriarchalischer Verleger, nach dem eine ganze Kultur benannt worden ist (wer dabei nicht an den Suhrkamp-Verleger Unseld denkt, hat die letzten zwanzig Jahre kein Feuilleton gelesen) zwingt einen freien Schriftsteller in seinen Verlag, um das Buch eines Erfolgsautors zu beenden. Er entdeckt zu spät, daß es seine eigene Lebensgeschichte ist, die ihm gestohlen wurde und die er nun unter fremdem Namen für einen Fremden fertigstellen soll. Es geht um das Verhältnis von Leben und Literatur, es geht um Macht, und es geht um uns. Daß der Verlag, in dem dieses Buch erscheint, der des einst verstoßenen Unseld-Sohnes ist, wird das Gerede des Betriebs schön am Laufen halten.

Währenddessen können wir uns schon einmal mit diesem erstaunlichen Experiment beschäftigen. 400 Seiten Roman und nur ein Mensch. Jonas erwacht eines Morgens - und ist allein auf der Welt. Menschen, Tiere, alle sind über Nacht verschwunden. Wir wissen nicht wieso und nicht wohin. Außerirdische, eine geheimnisvolle Bombe, eine Flucht von allen ins Nirgendwo? Jonas ist übriggeblieben, und sein Erfinder, der junge Wiener Autor Thomas Glavinic (6), schickt ihn auf eine Reise durch die leere Welt. Kein Romanstoff könnte langweiliger und ermüdender sein. Glavinic macht daraus ein wahnsinnig poetisches und spannendes Werk.

Auch der Österreicher Christoph Ransmayr (4), mehr als zehn Jahre liegt das Erscheinen seines letzten Romans "Morbus Kitahara" zurück, läßt seine Helden in letzte Einsamkeiten reisen. Zwei Brüder suchen in Osttibet den letzten weißen, unentdeckten Fleck der Welt, den fliegenden Berg. Sie finden ihn, sie glauben ihn zu finden, doch nur einer der beiden kehrt zurück. Die Geschichte erinnert von fern an das Drama von Ransmayrs Freund und Reisegefährten Reinhold Messner und dessen Bruder, der auf einer gemeinsamen Expedition unter noch immer ungeklärten Umständen starb. Ransmayr hat für sein Buch die Versform gewählt. 350 Seiten Verse, das klingt nach Schrecken, doch es ist die passende Form für diese Geschichte aus einer archaischen Welt der Gegenwart. Man liest sich schnell hinein.

Einige hundert Kilometer südwestlich hätte der Reisende auf den entschlossenen Reporter Helge Timmerberg (2) treffen können. Schon fast eine Legende aus alten "Tempo"- und anderen Zeiten, reist er mit seiner grauen Mähne auf knapp zweihundert Seiten durch das Indien der Gegenwart und bereitet uns auf die unübersehbare Zahl indischer Bücher zum diesjährigen Buchmesseschwerpunkt vor. "Fiction oder Non-Fiction?" fragt ihn die alte Korrespondentin, die er bei seiner Ankunft in Delhi besucht. "Non-Fiction", sagt er stolz, und sie entgegnet, oh, da müsse er sich beeilen, wenn er noch in den Himalaja wolle, die Pässe würden demnächst geschlossen. Der Nachteil der Wirklichkeitsbeschreiberei: ständig muß man hetzen.

Wie auch Thomas Meinecke (13), den man meist mit Plattenkoffer unterm Arm, unterwegs von einem "Auflegen" zum anderen, trifft. Der hat in einem neuen Erzählungsband aufs herrlichste "historische Kippmomente der sexuellen Kulturen" festgehalten und nacherzählt. Und vor allem findet der gender- und theoriebegeisterte Meinecke in diesen Geschichten über Andy Warhol, Richard Gere und Cindy Crawford zu einer theoriegrundierten, aber kaum mit Theorie prahlenden Erzählfreude wie seit langem nicht mehr.

Oooh, die Hochglanzwelt, der schwule Glamour, das ist aber nicht die Welt des Schweizer Autors Peter Stamm (18). Die Ruhe in seinen Büchern ist schon legendär. In seinem neuesten ist es wieder ganz besonders still. Er hat inzwischen fast schon so etwas wie eine Gemeinde um sich und seine Bücher versammelt. Aber auch jede Menge Feinde, die behaupten, hinter all der Stille und all den gläsernen Menschen fände sich kein Geheimnis, sondern: Nichts. Doch wir wissen, in Wahrheit ist dort: Poesie.

Und dieser frühere Poet der Stille hat als Protagonisten seines neuen Romans einen Terroristen gewählt. Christoph Peters (7) beschreibt das Leben eines gescheiterten deutschen Selbstmordattentäters in Ägypten im Jahr 1993. Peters (auf unserem Bild leider unsichtbar), der sich selbst als geläuterten "katholischen Fundamentalisten" bezeichnet, wagt viel beim Versuch, die Motive des jungen Terroristen nachvollziehbar zu machen. Im Gespräch mit dem um seine Begnadigung bemühten deutschen Botschafter, der einst RAF-Sympathisant war, entwickelt Peters eine Phänomenologie des Terrors, die er über weite Strecken überzeugend und spannend erzählt und die ihm an entscheidenden Punkten dann doch phrasenhaft und ausgedacht gerät.

Die politische Autorin und ewige Kleinschreiberin Kathrin Röggla (1) (also kathrin röggla) beschreibt in zwei Essays ihre Faszination für Katastrophen. "es ist so. mich faszinieren katastrophen . . . ganz einfach, weil ich mit dem phantasma der atomkatastrophe aufgewachsen bin und mich in diesem genre quasi zuhause fühle." Das Genre sind Katastrophenfilme, und Röggla beschreibt diese Katastrophenerfahrung als Stadterfahrung, schreibt sie, von den Baldwin Hills aus Los Angeles überblickend. Und beschwört die moderne Großstadt als Ort der "sozialen realitäten, widersprüche - also der ort der literatur und somit in doppelter hinsicht der ort meiner existenz".

Das Gegenteil dessen, was Florian Illies (14) als Sehnsuchtsort einer imaginären oder wirklichen "Vormoderne" in seinem Heimatstädtchen Schlitz erkennt. Ein Fluchtpunkt aus der Welt des Hybriden und der ewigen Beschleunigung heraus. "Die Welt rast voran, aber an der Wand neben dem Kachelofen im Schwarzen Grund 17 geht die Zeit auch schon mal rückwärts. Nicht zuletzt deshalb hat dieses Haus eine solche magnetische Anziehungskraft, die man selbst auf Satellitenbildern zu spüren meint."

Und dieser Mann blickt gerade eher in zukünftige Welten. Jakob Arjouni (16), der einst den großen Detektiv Kayankaya erfand und uns mit "Magic Hoffmann" den schönsten Wenderoman schenkte. Sein neues Buch ist ein Zukunftsroman aus dem Jahr 2064. Die Welt ist durch eine Mauer in Arm und Reich geteilt, und es regieren Terrorangst und totale Überwachung. Sehr gut gemeint und sehr ausgedacht.

Auch der Österreicher Wolf Haas (21) hatte mit einem Krimihelden geradezu kultischen Erfolg, doch nach seinem letzten "Brenner"-Roman erklärte er, damit sei jetzt Schluß. Er wolle ganz was anderes machen. Alle sagten: Das wird schwierig. Daß er es seinen Lesern aber so schwermachen würde, das ist dann doch eine Überraschung. Statt einen Roman zu schreiben, läßt er eine Dame namens "Literaturbeilage" auf mehr als zweihundert Seiten einen Romanautor namens Haas über einen Roman interviewen, von dem wir nur in Andeutungen die (sehr schöne) Handlung erfahren. Das kann man nicht wirklich durchlesen, und man hätte sich so sehr gewünscht, daß ihn irgend jemand vor dieser, ja nun: "Idee" bewahrt hätte.

Da ist der alte Erinnerungsmeister Walter Kempowski (gerade nicht im Bild) traditioneller. Er erzählt noch einmal eine Ostpreußengeschichte, eine Fluchtgeschichte, eine Geschichte vom Ende des Krieges. Alle treten noch einmal auf im alten Gut Georgenhof, SS-Männer, flüchtende Juden, Zwangsarbeiter, ahnungslose Kinder und eine gute, alte Familie, die im Angesicht des letzten Schreckens noch Silberlöffel zählt und putzt.

Ja, und unserem Nobelpreisträger war da ja noch ein kleines Lebensdetail wieder eingefallen, mit dem er den Betrieb ein weiteres Mal am Laufen hält, mit einem Buch, das in seinem endlos mäandernden Umständlichkeitsstil mehr verschweigt als verrät. Aber das mit großen Worten. Das ist aber noch längst nicht das letzte Geheimnis des Günter Grass (15). Oder wissen Sie schon, wo er eigentlich am 11. September war? Also.

Am ersten Jahrestag der Anschläge war der Held von Thomas Hettches (20) neuem Roman in New York. Er sucht die Spuren eines jüdischen Emigranten, über den er eine Biographie schreiben will, und verliert auf der Suche seine Frau. Auf der Suche nach ihr gerät er immer tiefer in das Land hinein, ins Landesinnere und in die Mythenwelt des amerikanischen Films. Es ist auch eine Suche nach sich selbst, dem eigenen Herkommen, und daß ein deutscher Autor im Jahr 2006 dies nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern eben auch in der Bilderwelt von Hollywood sucht, ist sehr erfreulich. Doch die Reise ist auch eine Reise in ein untergehendes Reich. Amerika ist das späte Rom. Präsident Bush der Claqueur des letzten Niedergangs.

Auch Helmut Krausser (12) (Jahrgang 1964, wie Hettche und Arjouni) läßt seinen Erzähler eine Auftragsbiographie schreiben. Ein sterbender Industrieller erzählt ihm die Geschichte der Liebe seines Lebens. Eine ewig verfehlte Liebe natürlich, die einst im Luftschutzkeller bei einem Fliegerangriff schüchtern begann. Dann wird ihm die Geliebte per Landverschickung entzogen, und sein Leben lang wird er sie suchen, immer wieder kurz finden, um sie schließlich endgültig zu verlieren. Wir durchstreifen die deutsche Geschichte, Studentenbewegung, RAF, Flucht in die DDR und wieder zurück. Wer hatte gesagt, daß die deutsche Gegenwartsliteratur zu wenig will, zu wenig wagt?

Alles Unsinn! Lesen Sie doch zum Beispiel einmal den neuen Roman von Bernd Schroeder (9). Das ist auch eine Jahrhundertgeschichte. Die Geschichte des Hochstaplers, Akademikers, genialen Geschichtenerfinders und möglichen Mörders Karl Hau. Der sich die Ehe mit Lina Molitor erschlich, mit ihr nach Amerika floh und - vielleicht - wenige Jahre später seine Schwiegermutter ermordete. Dafür zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haft begnadigt wurde und in der Weimarer Republik zwei sensationelle Bestseller über sein Schicksal schrieb - was für ein Buch, was für eine Geschichte!

Wie auch Felicitas Hoppe (19), die große Sprachumtänzlerin, Weltreisende im Container, aber immer frisch gebügelt. Wie sie die Geschichte von Johanna von Orléans in ihrem neuen Buch nicht erzählt, wie sie sie umspringt und weitererzählt, umerzählt, von den wahren Protokollen ihres Prozesses erschüttert, wie sie sie als Sprungbrett in eine neue Welt benutzt und sich weit hinüberschießen läßt, in ein Johanna-Universum - zum Staunen.

So wie das Strauß-Universum, die Welt von Botho Strauß (17), die eigentlich die unsrige ist, deren Bewohner er aber mit einer sonderbaren Röntgenbrille durchleuchtet. Ihre Sehnsucht, ihre Einsamkeit, die stolzen und lächerlichen Gedanken. Strauß hat einmal gesagt, er schreibe eigentlich immer nur am selben Buch. Aber dieses eine wird mit jedem Neuerscheinen besser.

Die Welt der weisen Darmstädterin Gabriele Wohmann (10) muß weniger hell durchleuchtet werden. Die Geheimnisse der langsam alternden Bewohner ihrer Geschichtenwelt liegen offen zu Tage. Und auch ihr Humor. Sie leben so lange schon zusammen, daß die ewige Frage "Heiraten oder nicht" zu einem letzten Witz geworden ist. Die Kinder sagen über ihre Vorgänger: "Meine Eltern haben eine bescheuerte Angst davor, eines schönen Tages die älteste Generation zu sein." Und die Eltern sagen: "Es wird zur Zeit zu viel gestorben."

Deshalb heißt es: lieben, was das Leben noch möglich macht. Wie Martin Walsers (5) greiser Held, der gegen Ende seines Lebens einer wahren Körpersucht erliegt und von seiner Frauengier fast getötet wird: "Er ist enttäuscht. Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu." Doch er hat sich getäuscht. Nur Lebensbereitschaft. Letzte Lebensgier.

Auch die neununddreißigjährige Annette Pehnt (11) schreibt vom Alter und von der Zeit, die ganz gewiß kein Heldentum mehr verspricht. Wenn keine Erinnerung mehr bleibt, wenn die Demenz regiert. Die Welt des Pflegeheims, des letzten Abschieds. Es ist allerdings unendlich schwer, dieser Welt des letzten Schweigens eine literarische Dramatik abzugewinnen.

Wie schön das Bild, das der Schweizer Autor Thomas Hürlimann (3) für den Beharrungswillen des Lebens gegen den Tod fand. Vierzig Rosen bekommt Marie Jahr für Jahr für Jahr von ihrem Mann. Ein ewiges Ritual gegen das Altern. Für immer vierzig. Und die Welt um sie herum, ihre Welt des Aufstiegs bis in die höchsten Staatsämter hinein, verfällt. Der Mensch verfällt. Die vierzig Rosen kommen jedes Jahr. Schön und frisch wie immer. Irgendwann erscheinen sie nur noch als Hohn. Als grausames Bild des eigenen Verfalls. Marie: "Wir haben die Zeit herausgefordert. Wir haben sie zu stauen versucht. Und jetzt, Max, jetzt demonstriert sie uns ihre Macht!"

VOLKER WEIDERMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2006

Der deutsche Dichter und sein Satan
Ein Liebling der Kritik: Thomas Hettches Roman „Woraus wir gemacht sind”, ein Produkt der Schwerarbeit an der Leichtigkeit
Der Roman „Woraus wir gemacht sind” von Thomas Hettche steht im September auf dem ersten Platz der SWR-Bestenliste: Für zweiunddreißig der bekanntesten deutschen Literaturkritiker ist es das beste literarische Werk dieses Monats. Die Jury des Deutschen Buchpreises hat den Roman in ihre „shortlist” aufgenommen, für sie zählt es gar zu den sechs besten deutschen Büchern der jüngsten Zeit. Kann es sein, dass sich so viele tüchtige Menschen irren?
Zitieren kann Willkür sein. Aber Sätze wie diese kommen nicht von ungefähr: „Die Einsamkeit stieg in ihm wie kaltes Wasser in einem Keller, der volläuft.” Vielleicht sollte man, wenn es gleich doppelt hochkommt, doch den Klempner holen. Oder: „Der Aufzug spuckte Gäste aus, als würden sie herbeigezaubert.” Es mag spuckende Aufzüge geben und herbeigezauberte Gäste. Beide Metaphern zusammen sind aber eine zuviel. Oder: „Wieder verschwand. . . in ihrem Schweigen der Hallraum des digital vermittelten Gesprächs.” Wie? Es wäre schon verwegen, wenn der Hall im Schweigen verschwände, aber gleich ein ganzer „Hallraum”?
Solche Sätze – die Reihe ließe sich beliebig verlängern – entstehen nicht aus Unvermögen. Wenn Thomas Hettche nur beschreibt, eine Landschaft, ein Auto, ein Pferd im Regen, wenn er sich ganz seinen Gegenständen überlässt, ist er anschaulich, lebendig, präzis. Leider geschieht das selten. Eine Gier sitzt ihm im Nacken, ein fataler Ehrgeiz, es nicht bei einer angemessenen Beschreibung bewenden zu lassen, sondern sie – und sich selbst – in einem fort übertreffen zu wollen: „Als er zu dem Lincoln kam. . . , schüttete der Himmel sein giftigstes Orange aus, und die Stadt dampfte das Licht ab wie ein Jogger die Hitze im Winter.” Ein Bild reicht nicht, auf jeden Vergleich türmt sich der nächste, und stets geht es schräg hinauf in die Metaphysik. Vielleicht meint Thomas Hettche, es auf diese Weise den Lakonikern unter den amerikanischen Realisten gleichtun, wie sie die Metapher als Knalleffekt benutzen zu können. Aber dieses Verfahren setzt Ruhe, Sparsamkeit und Treffsicherheit voraus. Hier aber ist ein Ungeschick aus verfehlter Ambition am Werk, und es wird geballert wie an einer Schießbude.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein deutscher Schriftsteller kommt im Herbst 2002 mit seiner Freundin nach New York. Er schreibt an der Biographie eines deutschen Physikers jüdischer Abstammung, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten geflüchtet war. Der deutsche Autor soll sich in New York mit seinem prospektiven amerikanischen Verleger treffen und einen Vortrag am Goethe-Institut halten. Im Hintergrund laufen die Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag des 11. September und die Vorbereitungen für den Krieg gegen den Irak. Dann wird die Lebensgefährtin entführt, die Erpresser verlangen Unterlagen aus dem Leben jenes Physikers, von denen der Biograph keine Ahnung hat. Unfähig, auf die Bedingungen der Entführer einzugehen, bleibt er im Land und begibt sich auf eine fast sechs Monate lange Wanderschaft über Texas nach Los Angeles, lässt sich treiben, beiläufig zwar auf der Suche nach dem Geheimnis jener Biographie, in Wirklichkeit aber, um Amerika zu erfahren. Am Ende werden die Unterlagen gefunden, es kommt zum Showdown, und der deutsche Schriftsteller tötet den Bösewicht, indem er ihm „mit einem finalen Fausthieb das Nasenbein weit in den Kopf” treibt.
Wenig ist an dieser Geschichte plausibel. Der Schriftsteller und seine Freundin werden daheim nicht vermisst, er kann einen Mietwagen mit der Kreditkarte bezahlen, ohne dass man ihm auf die Spur kommt, es gibt eine Entführung, aber alle Zeit der Welt, um die Entführte zu suchen, und über Hunderte von Seiten ist es, als würde der entlaufene Deutsche seine Lebensgefährtin gar nicht vermissen, so intensiv lässt er sich auf Land und Leute ein, die ihm scheinbar am Wegesrand begegnen, auf Frauen, die rittlings auf ihm sitzen oder ihn mit der Hand befriedigen – und wie stets in schlechten Büchern sind sie alle Teil eines großen Komplotts. Das alles aber ließe sich ertragen, wenn es nur um die paar Stunden trivialer Unterhaltung ginge. Doch dieses Buch will nicht nur sprachlich, sondern auch konzeptionell anspruchsvoll sein, es will auch intellektuell überzeugen.
Das einzige Mittel, das Thomas Hettche dafür zur Verfügung steht, ist dasselbe, das seinen Stil prägt: die immer wiede neu einsetzende Verdopplung, die permanente Überbietung. Das beginnt bei der Lebensgefährtin, die nicht nur Freundin ist, sondern auch schwanger. Das setzt sich in der Beschreibung der Vereinigten Staaten fort, die aus genau drei Landschaften bestehen: aus der großen, steilen Stadt New York, der Einöde an der mexikanischen Grenze und der großen, flachen Stadt Los Angeles. Es fehlen nur die Berge hinter Twin Peaks, und die Extreme des Landes wären abgehakt. Alamo, die Stätte der ersten Atomversuche, und Mojave Junction, der gigantische Friedhof für Flugzeuge, alle geläufigen Bilder Amerikas sind da, wie sie unter den Verehrern des Landes in den Provinzen der Welt herumgereicht werden, die sich mit solchen Versatzstücken und Erkennungsmarken, aus Prinzip verspätet und das Entscheidende immer verpassend, gegenseitig versichern, zum Kreis der Bescheidwisser und Erfahrenen zu gehören.
Die Überbietungen kulminieren in der Offenbarung, die sich in den verschwundenen Unterlagen verbirgt: nicht nur der ultimative Raketenantrieb der fünfziger Jahre, sondern auch die satanischen Sexualriten Aleister Crowleys, nicht nur der Antichrist, sondern auch ein größenwahnsinniger Filmproduzent, der mit Hilfe von Anilin und Salpetersäure die weiße Rasse auf einen fernen Planeten retten will, nicht nur der mächtigste Staat der Welt, sondern das alte Rom und das Imperium, das Zentrum der Welt und das Nichts, die transzendentale Obdachlosigkeit und der einsame Mensch, „waiting for doomsday conscious unconscious”, wie Heiner Müller zu sagen pflegte.
So überdreht ist der Plot, dass der Held der Geschichte, eben jener blasse, bis zum Ende profil- und charakterlose deutsche Schriftsteller im Angesicht des Bösen, die zu rettende, leidende Frau und das gemeinsame Kind in unmittelbarer Nachbarschaft, noch die Zeit findet, um sich über die genaue Lage eines Mondkraters namens „Parsons” zu unterhalten sowie lang und breit aus Schriften von Aleister Crowley zu zitieren. Stammten diese wüsten Phantasien von Quentin Tarantino, würde man spätestens auf halber Strecke zu lachen beginnen – irgendwann würden die Überbietungen ins Groteske kippen, die Ironie und die Selbstironie würden einziehen und den Unernst der Lage offenbaren. Und tatsächlich hat sich Thomas Hettche eines bei der „pulp fiction” abgeguckt – den Verzicht auf die Psychologie.
Auf die Philosophie hat er hingegen leider nicht verzichtet. Wenn sich bei Thomas Hettche die technischen Phantasien der Knaben mit der Geilheit eines Erwachsenen, die Lust an der Perversion mit der Kolportage aus einem imaginären, vom Film geschaffenen Amerikabildes mischen, ist die Lage so ernst, dass kein Lachen mehr hilft. „Niemand weiß, was bleiben wird. Von uns nicht und nicht von allen anderen. Eine Drift hat uns erfasst, die alles ändert, was wir kennen. Wir ahnen, daß in dieser Drift viel von dem verschwinden wird, was wir lieben. Vielleicht verschwindet sogar selbst jenes Ding, das wir Liebe nennen.”
Immer, wenn es spannend werden soll, versteigt sich Thomas Hettche in metaphysische Geimeinplätze, in einen sauren, poststrukturalistischen Kitsch, der sich seine Inspiration bei Michel Foucault abgeholt hat, in der längst bis an den Grund der Peinlichkeit zerredeten Metapher vom Menschen, der hinwegspült wird wie ein Gesicht im Sand.
Und warum schätzt die Kritik dieses Werk, dessen literarisches Verfahren auf Prahlerei beruht, auf dem Gesetz des schärferen Reizes und der Suche nach dem Extrem? Man weiß es nicht. Thomas Hettche unternimmt in diesem Buch – nicht zum ersten Mal übrigens – den Versuch, intellektuell und trivial zugleich zu sein, mit dem ganzen großen Anspruch eines deutschen Schriftstellers in die Welt der Unterhaltungsliteratur vorzudringen. Er will den Erfolg, er will ein richtiger Dichter sein, der die Massen betört. Es wird dieses Motiv sein, das die Kritik an ihm schätzt: dass es da einen gibt, der den Sprung hinaus tun will, hinaus aus dem Ernsten und Schwierigen in das Leichte und Beliebte, aber so, dass er doch den seriösen Charakter nicht ganz verliert. An der Überzogenheit dieser Anstrengung zum Tiefsinn aber geht das Buch zugrunde. Am Ende ist es weder intellektuell befriedigend noch trivial unterhaltend„Der Himmel ist leer, und wir haben nur uns”, meint der Erzähler – oder ist es der Autor? In jedem Fall ist es für ein gutes Buch zu wenig.
THOMAS STEINFELD
THOMAS HETTCHE: Woraus wir gemacht sind. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2006. 320 Seiten, 19,90 Euro.
Eine Gier sitzt Hettche im Nacken, ein fataler Ehrgeiz, sich übertreffen zu wollen.
Dieses Buch will nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich anspruchsvoll sein.
Stammten diese Phantasien von Quentin Tarantino, würde man zu lachen beginnen.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

In den Augen von Rezensent Heribert Kuhn ist Thomas Hettche mit diesem Roman gescheitert. Dessen Anliegen sieht Kuhn bereits in Hettches 1999 erschienenem Venedig-Essay "Animation" formuliert, der vom Versinken der Sprache im "Sand der Bilder" handelte. Doch als Dichter habe er diese, als Essayist so souverän formulierte Thesen nun nicht gestaltet, sondern bleibe weit dahinter zurück, meint Kuhn. Zu ihrer Demonstration habe sich Hettche hier eine Kriminal- und Suspensegeschichte erdacht, die der Rezensent jedoch für ungeeignet hält, um der "zentrale Herausforderung" des Buchs gerecht zu werden, nämlich der Tatsache, dass der Held seine Frau, sein ungeborenes Kind, die "Liebe, Geschichte und Welt" zu Gunsten eines indifferenten Zustands der Verlorenheit aufzugeben bereit ist, der sich nicht aus der Wirklichkeit, sondern den Bildarsenalen der "Fernsehsehnsuchtswelt" speist. Hier wäre nach Ansicht Kuhns auch psychologisch-lotendes Vorstellungsvermögen nötig gewesen, statt schlicht überdehnter Suspense und pseudoexistenzialistische Abgründigkeit. So wird der Plot aus Sicht des Rezensenten schließlich nur noch "von der Mechanik des Klischees vorangetrieben": Die "selbstbewusste Ankündigung" des Titels sieht er erst recht nicht eingelöst.

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»Man muss lange suchen, bis man in der jüngeren deutschen Literatur einen so starken, so gut geschriebenen Roman findet.« Frankfurter Neue Presse