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Ein kunstvoll über mehrere Zeitebenen konstruierter Roman über einen deutschen Diplomaten unter Hitler und in einem Nachkriegsdeutschland, in dem jeder das Vergangene vergessen machen will. Konrad Weber ist stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, 1943 eine scheinbar friedliche Enklave, die ihn vor dem Alltag der nationalsozialistischen Diktatur und dem Krieg schützt. Nach der Pensionierung seines Vorgesetzten wird ihm zunächst ein im diplomatischen Dienst unerfahrener, weit jüngerer NS-Gefolgsmann vor die Nase gesetzt. Dieser deckt Unstimmigkeiten in den…mehr

Produktbeschreibung
Ein kunstvoll über mehrere Zeitebenen konstruierter Roman über einen deutschen Diplomaten unter Hitler und in einem Nachkriegsdeutschland, in dem jeder das Vergangene vergessen machen will. Konrad Weber ist stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, 1943 eine scheinbar friedliche Enklave, die ihn vor dem Alltag der nationalsozialistischen Diktatur und dem Krieg schützt. Nach der Pensionierung seines Vorgesetzten wird ihm zunächst ein im diplomatischen Dienst unerfahrener, weit jüngerer NS-Gefolgsmann vor die Nase gesetzt. Dieser deckt Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern auf, die in den Verantwortungsbereich Webers fallen. Wendler, ein Bekannter von Weber, hilft ihm nicht ohne eigenen Vorteil aus der verfahrenen Situation und vermittelt ihm ein riskantes Geschäft. »Der Roman erzielt eine raffinierte Vieldeutigkeit, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Autorin ist selbst einer Schachmeisterin würdig […].« FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Nora Bossong ist die wohl begabteste Erzählerin und Lyrikerin der jüngsten Autoren-Generation und Webers Protokoll ein Roman, dessen historisches und stilistisches Bewusstsein die Bemühungen vergleichbarer Jungautoren blass aussehen lässt.« NEUE ZÜRCHER ZEITUNG »Ein spannender, fulminanter Roman. Die Sprache lebt ungemein, es ist phantastisch, wie viele Stimmen man in Webers Protokoll hört. Ein magischer Roman.« SWR 2
Autorenporträt
Nora Bossong lebt in Berlin und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Peter-Huchel-Preis und dem Roswitha-Preis. Für ihren Debütroman »Gegend« (FVA 2006) erhielt sie das Leipziger Literaturstipendium und das Prosawerk-Stipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung. 2009 folgte ihr Roman »Webers Protokoll« in der Frankfurter Verlagsanstalt. 2020 erhielt Nora Bossong für ihr Gesamtwerk den Kranichsteiner Literaturpreis, 2024 ist sie mit ihrem neuesten Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2009

Bauer im Geschichtsspiel

Aus reinem Eigennutz wird ein deutscher Diplomat im Nationalsozialismus zum Fluchthelfer von verfolgten Juden. Nora Bossong erzählt von den Falltüren der Moral und der Deutungsmacht über die Vergangenheit.

Adesso non posso più." - "Jetzt kann ich nicht mehr." Konrad Weber, einem jungen deutschen Diplomaten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, geht dieser Satz umso häufiger durch den Kopf, je enger sich ein Netz der Verzweiflung um ihn zusammenzieht. "Webers Protokoll" - der Titel von Nora Bossongs zweitem Roman suggeriert, es handele sich hier um einen schriftlichen Bericht, der Fakten zusammenträgt. Doch diese Erwartung wird sofort durchkreuzt.

Auf der Suche nach Webers Geschichte stößt die namenlose junge Ich-Erzählerin auf einen inzwischen uralten Kollegen, der Weber gekannt haben will. Im Gespräch der beiden über den einstigen Vizekonsul an der deutschen Botschaft in Italien, das die Rahmenhandlung bildet und sich im Verlauf des Romans regelrecht zu einem Streit um die Erzählhoheit auswächst, vermischen sich die gesicherten Tatsachen mit Spekulationen und Interpretationen. Im Wechsel mehrerer Zeitebenen setzt sich zwar der Ablauf der historischen Ereignisse zusammen, das Charakterbild Webers bleibt jedoch changierend.

Was hat es mit diesem Weber auf sich? Im Jahr 1943 als Diplomat in Mailand tätig und sich in Italien der direkten Beobachtung durch die nationalsozialistischen Machthaber entzogen wähnend, veruntreut er Gelder und transferiert sie in die Schweiz. Als ein junger, linientreuer Nationalsozialist sein Vorgesetzter wird und Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern bemerkt, verhilft Weber gegen Bezahlung Juden zur Flucht und muss sich, dadurch selbst immer mehr in Bedrängnis geratend, schließlich in die Schweiz absetzen. Auch nach Ende des nationalsozialistischen Regimes ziehen seine dem Eigennutz entsprungenen Handlungen weiter Kreise. Beim Versuch, im diplomatischen Dienst der neugegründeten Bundesrepublik erneut Fuß zu fassen, wird Weber von seiner Vergangenheit wieder eingeholt.

Der mutmaßlich fiktiven Figur Weber wird im Roman die historische Figur des Eugenio Pacelli gegenübergestellt, der 1917 zunächst als Botschafter des Papstes in Bayern, später als Nuntius für das gesamte Deutsche Reich tätig war, 1939 zum Papst Pius XII. erhoben wurde und dessen politische Position im Nationalsozialismus bis heute umstritten ist. Weltliche und geistliche Diplomatie sind in "Webers Protokoll" zwei Seiten einer Medaille. Das titelgebende "Protokoll", so stellt sich im Laufe der Lektüre heraus, lässt in seiner zweiten Wortbedeutung auch die Frage nach angemessenem Verhalten, nach der Moralität des Individuums und nach geschichtlicher Deutungsmacht anklingen.

Die Motive für Webers Handeln mögen verwerflich sein, ihre drastischen Konsequenzen erschüttern dennoch. Weber erscheint schwach und hilflos, allzu menschlich, "versteht man die Menschlichkeit als arithmetisches Mittel aus allem, was die Menschheit so an Handlung hervorbringt", wie der alte Diplomat es im Gespräch formuliert.

Der aus szenischen Bruchstücken und subtil beschriebenen Begegnungen spannungsreich komponierte Roman gewinnt so eine Dimension, in der die den Ereignissen zugrundeliegenden Strukturen lesbar, Muster von Machtspielen und -mechanismen, von Täuschung und Selbsttäuschung sichtbar werden.

Dabei ist gerade eine Qualität des Romans, dass gewisse Fragen offenbleiben: Ist Weber der Prototyp des nichtswürdigen Mitläufers? Einer, dessen Moral von seinem Vorteilsdenken diktiert wird? Oder ein bemitleidenswerter Bauer im Spiel der Geschichte? Der Schachmetapher kommt eine wichtige Rolle zu. An der Partie, die als "Perle von Zandvoort" Schachgeschichte geschrieben hat und die bis zum entscheidenden Zug in Webers Wohnung nachgestellt ist, wird in der Binnenhandlung das historische Geschehen "nachgespielt": Man kann hier im Spiel nachvollziehen, wie das zunächst harmlos scheinende Verhalten des Diplomaten zur Niederlage führt, er seine Geschichte auslöschen möchte, sich wünscht, "ein schwarzer Läufer auf einem schwarzen Feld zu sein, so flach an den Boden gedrückt, dass man ihn übersieht".

Das Schachspiel, ein in der Literaturgeschichte - etwa in Stefan Zweigs "Schachnovelle", Vladimir Nabokovs "Lushins Verteidigung" oder Samuel Becketts "Murphy" - wichtiges Motiv, ist nur eines von mehreren, durch die der Roman eine raffinierte Vieldeutigkeit erzielt, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Autorin ist selbst einer Schachmeisterin würdig.

"Adesso non posso più." - Nora Bossong ist in ihrem literarischen Schaffen weit von diesem Satz entfernt. Die 1982 in Bremen geborene Autorin hat mit "Webers Protokoll" die Erwartungen noch weit übertroffen, die ihr mit Kritikerlob und dem Jürgen-Ponto-Preis bedachter Romanerstling "Gegend" aus dem Jahr 2006 geweckt hat. Komponiert mit den Spannungsmomenten eines Krimis, dem Erkenntnisanspruch philosophischer Fragestellungen, mit historischer Akribie und psychologischem Spürsinn, lässt sich dieser beeindruckende Roman doch auf keines dieser Momente reduzieren. "Webers Protokoll" ist ein Buch, dem man Beachtung über einen literarischen Frühling hinaus wünscht.

BEATE TRÖGER

Nora Bossong: "Webers Protokoll". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 320 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2009

Ein deutscher Diplomat
Unter Konsuln, unter Nazis: Nora Bossongs Roman „Webers Protokoll”
Weber sieht nicht richtig, es brennt in seinen Augen, immer wieder, aber der Arzt kann auch diese Woche nichts finden. Dabei muss Weber, der sich elend fühlt, wirklich in die Schweiz zur Kur. Schon deswegen, weil er in München erwartet wird, und nicht mehr hin will. Es geht um persönliche Protokollführung beim Reichsaußenminister, der ihn für eine Konferenz benötigt, was Weber zuerst als Auszeichnung angesehen hat. Aber Rippler, den er noch aus der Zeit vor den Nazis kennt, hat Weber auf einem Empfang zugeraunt, man werde ihn in München verhaften.
Dr. Konrad Weber, die Hauptfigur von Nora Bossongs zweitem Roman, ist, man sieht es, in die deutsche Geschichte verstrickt. Auf vertrackte Weise. Als Stellvertreter des Mailänder Generalkonsuls, eines mehr oder minder honorigen alten Herrn, verachtet Weber die Nazis schon länger, doch schlimm wird es erst, als Weitkamp in Pension geht, und nicht Weber, sondern Palmer, ein junger, pöbelhafter Lackaffe mit Parteibuch und Sonnenbrille zu Weitkamps Nachfolger erkoren wird. Es wäre allerdings zu eng gedacht, dass Weber aus bloßer Frustration über einen Karriereknick zum „Judenretter” geworden ist, der vergisst, das „J” in die Pässe der Leute zu stempeln, die über die Schweizer Grenze flüchten wollen. Weber kriegt was dafür, das er dringend braucht, weil er Gelder, die für die Deutsche Schule Mailand gedacht waren, unterschlagen hat, was Palmer ahnt.
Mit erstaunlicher erzählerischer Souveränität kriecht die 1982 geborene Nora Bossong in einen Menschen und eine Zeit, die sie nur vom Hörensagen her kennen kann. Und aus einer Akte, die sie vor einigen Jahren fand. Dennoch ist „Webers Protokoll” kein dokumentarisches Stück. Mehrere Lebensläufe haben zur Unterfütterung dieser Geschichte eines deutschen Diplomaten beigetragen, die vorführt, wie man in schwierigen Zeiten zugleich vollendet medioker, ein Menschenretter und ein Krimineller werden kann.
Geschickt überbrückt Bossong die Distanz zwischen dem eigenen Leben und der beschriebenen Zeit, lässt ihre Erzählerin immer wieder mit einem „uralten Diplomaten” sprechen, der Weber noch persönlich gekannt hat. Gönnerhaft gibt der Mann der von ihm als „Mädchen” angeredeten jungen Frau gelegentlich etwas preis – doch diese versucht, ihm nicht auf den Leim zu gehen, also Schönfärberei, Selbstinszenierung und historische Wahrheit, so weit diese noch zu finden ist, auseinanderzuhalten.
Das ist schon bei Weber nicht einfach. Sein Augenleiden ist nicht ganz zufällig. Er will höchstens die Hälfte dessen sehen, was man sehen kann. Die Verbindungen, über denen er Juden und Regimegegnern zur Flucht verhilft, sind mehr als zweifelhaft. Wendler etwa, der in diesem Zusammenhang an ihn herangetreten ist, ein deutscher Wissenschaftler, scheint mit Vakuumexplosionen Experimente zu machen. An Vögeln, vielleicht aber auch an Menschen?
Mehrheitlich bleibt unklar, was mit denen, die mit Webers Pässen fliehen, wirklich geschieht. Manchmal würde man sich wünschen, dass der Roman den Nebel in Webers Gedanken etwas lüftet, doch das gehört mit zum Eintauchen in dieses halb ausgeschaltete Bewusstsein, zum Kalkül dieser Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit. Als Weber seine Haushälterin fragt, „ob sie jemanden verurteilen würde, der Menschen das Leben gerettet hat”, meint diese ahnungslos, „es kommt wohl darauf an, wie viele er umgebracht hat”.
Changiert wird auch zwischen den Zeiten, wobei Bossong zwei dominant setzt. Kursiv erfährt man Geschichten und Gedanken Webers aus der Nazi-Zeit, vor allem aus den Mailänder vierziger Jahren. Während die Gegenwart, in der die Erzählerin den alten Diplomaten interviewt, normal gedruckt ist, wie auch die Fünfziger Jahre, in denen Weber in den diplomatischen Dienst zurück will, und ein vages Heroenbild von sich kultiviert. „Nicht, dass er etwas zu verschweigen hätte! Er hat, abgesehen von einer kleinen Misslichkeit bei der Verwaltung gewisser Baugelder, seinen Dienst, solange er im Amt war, korrekt, ja gewissenhaft erledigt, er hat im August 44 mit dem Regime gebrochen, und das ist alles, was er von seiner Vergangenheit noch gibt. Mehr ist nicht nötig, denkt Weber.”
Vor dem Hintergrund seines lückenhaften Gedächtnisses ist es Weber, dem Hypochonder, der alle Fehler gern bei anderen sucht, dann auch möglich, die Gesellschaft, in die er zurück möchte, abzukanzeln. Als er 1951 aus der Schweiz, wo er als Geschäftsmann in Devisen agiert hat, nach Bonn zurückkehrt, wird er zu einem Empfang mit anderen Ehemaligen und neuen Diplomaten eingeladen: „die Männer, die in ihren feinen Manieren versinken, bis sie davon aufstoßen müssen, ordinär wie Fischfrauen (. . . ), der Empfang ist der Markt, und ihre Untergebenen, ihre Kontakte, ihre hübschen Frauen sind die stinkenden Fische für die sie ihre Anpreisung durch den Raum bellen.”
Webers Frau, muss man wohl sagen, ist nicht hübsch, sondern eine Hypothek. In ihrem schwärmerischen Katholizismus geht sie Weber, dem vagen Protestanten, zunehmend auf die Nerven. Für den Roman ist sie ein Bindeglied zu Webers Nachkriegskarriere, die beim Vatikan einen würdigen Abschluss findet. Denn Rippler, der gute Geist dieser schummrigen Biographie, treibt einen Zeitzeugen auf, derWeber zu einer Art Widerstandskämpfer macht. Doch ist dieser „kirchliche Teil” der am wenigsten überzeugende Teil des ansonsten sehr gelungenen Buches.
Die Papst-Geschichte, die natürlich auch der Einstellung von Pius XII. zu Faschismus und Nationalsozialismus nachgehen muss, hat etwas mehr Dekoratives, dringt bei weitem nicht so tief wie die feinfühlig differenzierte Erkundung der grundsätzlich ambivalenten Lebenshaltung eines mittelmäßigen Menschen, die einiges über deutsches Heldentum im zwanzigsten Jahrhundert erzählt.
HANS-PETER KUNISCH
NORA BOSSONG: Webers Protokoll. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a. Main 2009. 282 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Fall für den Augenarzt: Der Romanheld, der nicht alles sehen will, was zu sehen wäre Foto: Willy Matheisl
Nora Bossong Foto: Jürgen Bauer
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als "schillerndes Vexierspiel" beschreibt Rezensent Wend Kässens diesen aus seiner Sicht "etwas überorchestrierten" Roman der jungen Berliner Autorin, der seinen Informationen zufolge die Nazi-Verstrickung des Auswärtigen Amtes zum Thema mache. Im Zentrum stehe eine verstrickte Figur und der Versuch, ein Leben neu zu erfinden, bei dessen Komposition Nora Bossong dem Eindruck Kässens' zufolge auch ein bisschen bei Max Frisch abgeschaut hat. Denn sie erfinde eine junge Frau, die mehr über diesen Dr. Weber zu wissen vorgebe und an deren Spuren sie sich als Erzählerin hefte. Insgesamt kann er dem entstandenen labyrinthischen Entwurf aus Vor- und Rückblenden, harten Schnitten und unterschiedlichen Schrifttypen dennoch nur teilweise etwas abgewinnen - nämlich dann, wenn sich Geschehenes und Gespiegeltes zu einer Geschichte ordnet, in der der Mensch Weber erkennbar werde.

© Perlentaucher Medien GmbH