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Paul Virilio ist der Analytiker der Geschwindigkeit und technischen Beschleunigung sowie der daraus resultierenden Bedrohung der menschlichen Lebenswelt. Daß seine zivilisationskritischen Analysen von einem moralisch-politischen Impetus getragen sind, ist unverkennbar. Doch hat er ihn nie zuvor so deutlich herausgestellt wie in diesem Essayband, der wesentliche Motive seines Denkens bündelt. Der Tyrannei der Allgegenwart durch neue Formen der Telekommunikation ist für Virilio nur durch eine Ethik der Wahrnehmungsverweigerung beizukommen: durch das Recht auf Blindheit dort, wo die in Echtzeit…mehr

Produktbeschreibung
Paul Virilio ist der Analytiker der Geschwindigkeit und technischen Beschleunigung sowie der daraus resultierenden Bedrohung der menschlichen Lebenswelt. Daß seine zivilisationskritischen Analysen von einem moralisch-politischen Impetus getragen sind, ist unverkennbar. Doch hat er ihn nie zuvor so deutlich herausgestellt wie in diesem Essayband, der wesentliche Motive seines Denkens bündelt. Der Tyrannei der Allgegenwart durch neue Formen der Telekommunikation ist für Virilio nur durch eine Ethik der Wahrnehmungsverweigerung beizukommen: durch das Recht auf Blindheit dort, wo die in Echtzeit übertragenen Bilder die letzten Winkel der Lebenswelt in Beschlag nehmen; durch das hartnäckige Bestehen auf Grundzügen leibgebundener menschlicher Realität im Gegenzug zur angebotenen Flucht in virtuelle Realitäten aller Art, von der "Cybercity" bis zum "Cybersex". Dem Virtuellen gilt es die Faszination zu nehmen, die den Blick auf seine jede sinnliche Erfahrungswelt zerstörenden Potentiale verstellt.
Autorenporträt
Paul Virilio was born in 1932 and has published a wide range of books, essays, and interviews grappling with the question of speed and technology, including Speed and Politics, The Aesthetics of Disappearance, and The Accident of Art, all published by Semiotext(e).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.1997

Nicht einmal mehr Timbuktu ist ganz weit weg
Verdammt in alle Gegenwart: Paul Virilio warnt immer noch vor dem Verlust von Zeit und Raum

Paul Virilio gibt gerne Interviews. Diese Vorliebe ist Teil seiner Strategie gegen das Verschwinden der direkten Kommunikation zwischen den Menschen, die der französische Philosoph und Architekt in der Ausbreitung eines vom Datennetz diktierten Zeittakts und der kontinuierlichen Steigerung der Geschwindigkeit in der Technik begründet sieht.

Da nunmehr die moderne Medientechnik mit Lichtgeschwindigkeit arbeitet, ist die letzte Grenze gefallen, eine Steigerung des Tempos ist ebensowenig mehr möglich wie eine Beibehaltung des alten Verständnisses von Zeit. Denn jetzt ist überall "Lichtzeit". Kein Ort der Welt bleibt von der Gegenwärtigkeit eines Ereignisses verschont, wenn es über Radio, Fernsehen oder Internet verbreitet wird. In den Städten herrscht bereits die Weltzeit - ein Takt, der sich nach den Erfordernissen der Märkte richtet: eine Zeit der Mächtigen.

Diese Avanciertheit der Metropolen verschärft den Gegensatz zum noch nicht zeitsynchronisierten Umland, das sich aber gleichwohl dem Rhythmus der Weltzeit zu unterwerfen hat, will es den Anschluß an Ökonomie und globale Kommunikation nicht ganz verlieren. Die soziale Natur des Menschen bleibt dabei auf der Strecke. Wo dem Fernsten begegnet werden kann, fällt die Begegnung mit dem Nächsten aus. Die ultimative Geschwindigkeit verabschiedet die Nahethik und beschränkt die Kommunikation auf virtuelles Geplauder mit elektronisch übertragenen Stimmen. Schon vor Jahren hat Virilio für diese Theorie einen eigenen Namen geprägt: "Dromologie", was sich vom griechischen "dromeus" (Läufer) ableitet.

Die Geschwindigkeit löst danach die Vorherrschaft von Raum und Zeit ab. Sie ermöglicht die technische Durchsetzung einer Weltzeit, die nur noch Gegenwart kennt, und ebnet durch die Beseitigung der Distanzen die Dimension des Raums ein. Konnte man früher nach Timbuktu ins Exil gehen, so ist dieser einstmals fremdeste Ort heute auch nur ein Anwärter auf die "Metropolitisierung", die in vollkommener Ortlosigkeit münden wird. Die Keimzellen der Gesellschaft werden zerstört, weil die gesichtslosen Städte sie wie Wucherungen überlagern. Statt eigene Erfahrungen im Austausch mit anderen Menschen zu suchen, vertraut der Metropolenbewohner der Rückkopplung an Medien und Cyberspace. Virilio ist eine Kassandra der Kybernetik, der zur Zeit vielleicht modernste Denker ist auch der größe Skeptiker. In seiner Wohnung werden weder Fernsehen noch Computer geduldet.

Gegen den Verfall der Kommunikation hat Virilio neben dem Gespräch noch ein zweites privates Mittel parat: das Schreiben; und diese beiden Präferenzen haben dazu geführt, daß nun gleich zwei neue Bücher des Geschwindigkeitstheoretikers in Deutschland erschienen sind. Eines gibt mehrere lange Gespräche mit seiner Schülerin, der Architekturkritikerin Marianne Brausch, wieder; das andere ist ein Essay zum neuen Verständnis der Zeit unter dem Einfluß der Lichtgeschwindigkeit mit dem Titel "Fluchtgeschwindigkeit".

Diese Betitelung der deutschen Ausgabe ist korrekt, aber unglücklich, denn die Fluchtgeschwindigkeit - jene Geschwindigkeit, die vonnöten ist, um die Erdanziehungskraft zu überwinden - wird im Französischen mit "vitesse de la liberté" bezeichnet, was Virilio als willkommene Metapher dazu dient, das Paradox der wachsenden Geschwindigkeiten zu verdeutlichen, die letztlich im "rasenden Stillstand" enden, weil sie das chronologische Gefüge der Zeit außer Kraft setzen. Die "Freiheitsgeschwindigkeit" evoziert somit gerade die Unfreiheit, die durch die Eintaktung auf die computergenerierte Weltzeit erzeugt wird. Der deutsche Titel würde ein Scheitern der individuellen Flucht vor der Herrschaft der Weltzeit behaupten, aber dieser Fluchtversuch wird derzeit aus Virilios Sicht ja gar nicht erst unternommen. Deshalb ergreift er in seinen Büchern die Flucht nach vorn und schreibt für alle, die sich auf der Suche nach mißverstandener individueller Freiheit dem Rausch der Geschwindigkeit bereits ergeben haben.

Diese Taktik verlangt indes auch, daß Virilio noch schneller ist als die von ihm kritisierte Technik, daß er etwas über die Zukunft zu sagen weiß, bevor es nur noch Gegenwart gibt. Dieser Zwang zur Avantgarde hat Virilio mehrfach zu publizistischen Schnellschüssen veranlaßt, und "Fluchtgeschwindigkeit" ist nach der brillanten "Eroberung des Körpers" (1994) leider wieder einmal ein solcher. Aus seiner Liebe zum Bild der "vitesse de la liberté" heraus ist ein Buch entstanden, das wie ein Aufguß der letzten zehn Jahre und deshalb reichlich abgestanden wirkt.

Es ist der Fluch des Avantgardisten, daß seine Thesen, sind sie einmal eingetreten, banal erscheinen. Wenn in "Fluchtgeschwindigkeit" die zwölf Jahre alte These des Lichtkriegs und des Simulationsfortschritts aus "Krieg und Kino" mit den dromologischen Überlegungen aus "Der negative Horizont" (1989) und den Geistesblitzen zum Prinzip des Unfalls und der Prothese aus "Eroberung des Körpers" verbunden wird, entsteht nur ein unbefriedigender Eigeneklektizismus, der Virilio daran hindert, abermals provokant zu denken.

Die Auflösung der Familie als Folge der Außerkraftsetzung der Raumdimension mag ein neuer Gedanke sein, aber das Lamento darüber schließt doch nur an die familienfreundlichen Philippiken der Politik an. Selbst der Großmeister der Dekonstruktion, Virilios Landsmann Jacques Derrida, erhebt neuerdings die Familie als Hauseinheit in den Rang eines Bollwerks gegen die Barbarei. Beide Denker geraten damit aber in bedenkliche Nähe zu Marschall Pétains sakrosankter Trinität des État français: famille, terre, patrie. Nur das Vaterland hat in Virilio noch keinen Fürsprecher.

Wesentlich interessanter sind dagegen seine Unterhaltungen mit Marianne Brausch ausgefallen, auch wenn die Gesprächspartnerin alles tut, um nicht nur die Leser dieser "Dialektischen Lektionen", sondern auch ihren Lehrer zu langweilen. Wenn sie in koketter Eitelkeit feststellt, daß "Walter Benjamin, wie Sie wissen, eines meiner geistigen Vorbilder ist", dann weiß nicht nur Virilio längst davon, sondern auch der Leser, denn diese Floskel hatte Brausch zuvor schon mehrfach wiederholt. Immer wieder muß Virilio unpassende Eingebungen und Sprachspiele seiner Schülerin überspielen: Aus "fin" (Ende) folgt nicht notwendig eine strukturelle Ähnlichkeit mit "faim" (Hunger), doch selbst der moderate Tadel Virilios, daß Wortspiele immer Sinnspiele sein sollten, kann Brausch nicht bremsen. Leider läßt ihr Lehrer in diesen Gesprächen immer noch viel zuviel Geduld walten, doch seine Antworten und Belehrungen in den "Lektionen" sind dafür um so faszinierender.

Der Leser erhält zwar nur eine Zusammenfassung, aber diese beschränkt sich nicht bloß auf die Theorien Virilios, sondern umfaßt auch sein Leben. Anhand biographischer Stationen vollzieht der Urheber seine eigene geistige Entwicklung nach und identifiziert sich als Denker des Dritten, des Zwischenraums: Der Theoretiker Virilio behandelt die Geschwindigkeit als dritte Dimension, der Architekt konzipierte in den sechziger Jahren schräge Wohneinheiten, und der Humanist reflektiert über das Leben als Verbindung von Anfang und Ende. Es ist dieser letzte Zug, der Virilio derzeit am ehesten Möglichkeiten zur Provokation bietet.

Sein Vorschlag, in Großstädten kleine Wohneinheiten zu schaffen, sogenannte "Überlebensbojen", die sozialen Absteigern Schlaf- und elektronische Arbeitsplätze zur Verfügung stellen sollen, löste in Frankreich eine Welle des Spotts aus. Virilio aber wertet die Obdachlosigkeit als Entwicklung, die der Auflösung des Familienverbunds vergleichbar ist: Der Mensch opfert seinen sozialen Raum der Ortlosigkeit der virtuellen Kommunikation. Wer den Anschluß daran verpaßt, verliert sein Zentrum und entschwindet in die Peripherie.

Es gilt also, die Augen gegenüber der modernen technischen Entwicklung offenzuhalten, auch wenn man dem Blick nicht mehr trauen darf. In der virtuellen und hyperschnellen Welt hat der Flaneur nichts mehr verloren. Der Krieg und sein Verlangen nach Geschwindigkeit setzte der optischen zunächst die akustische Welt entgegen. Kaum eine Passage der "Lektionen" ist so lehrreich wie die, in der Virilio die Differenz zwischen den von ihm optisch wahrgenommenen deutschen Besatzungssoldaten und den unsichtbaren Alliierten aufstellt, die bis zur Invasion nur mittels Flugzeugen und Radiosendungen präsent waren.

Für das Kind Virilio lag darin der Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit; und das Mißtrauen gegen den oberflächlichen Blick hat auch den Erwachsenen nicht verlassen. Doch dank solcher Erlebnisse und der Phänomenologie Husserls konnte Virilio den Weg zur Erfahrung finden, der ihm den Einblick in die Tarnung gestattet. Somit kann er zu Recht den Kern seines Denkens in den "Lektionen" benennen: "Meine ganze Arbeit wird die eines Phänomenologen sein und sich auf den Blick stützen." Es ist aber ein skeptischer Blick, denn Virilio kennt die Doppeldeutigkeit des Begriffs "Weitsicht" nur allzu gut. ANDREAS PLATTHAUS

Paul Virilio: "Fluchtgeschwindigkeit". Essay. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Edition Akzente. Hanser Verlag, München 1996. 204 S., br., 29,80 DM.

Paul Virilio: "Dialektische Lektionen". Vier Gespräche mit Marianne Brausch. Aus dem Französischen von Bettina Aldor. Verlag Gerd Hatje, Ostfildern-Ruit 1996. 100 S., geb., 38,- DM.

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