Produktdetails
  • Verlag: Agon
  • ISBN-13: 9783897842908
  • Artikelnr.: 20829523
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2007

Das Gedächtnis des Fußballs
Hardy Grüne, Datensammler und Geschichtenerzähler, entdeckt Neues in der Vergangenheit

Die große weite Fußballwelt ist zu Hause in einer hundert Quadratmeter großen Wohnung. Im Treppenaufgang hängen Plakate vom SC Göttingen 05, einem ehemaligen Zweitligaklub, der mittlerweile unter neuem Namen in der Bezirksliga kickt. In der ersten Etage sind über der Küchenspüle 150 Tassen mit Vereinsemblemen in Regalen aufgereiht, nebenan im Archivzimmer stehen und liegen Abertausende Ausgaben von Fußball-Fachmagazinen: der "Kicker" natürlich, "France Football", "World Soccer" und was es sonst noch so gibt auf dieser Welt. Ganz oben, im ausgebauten Dachgeschoss, sind die Holzregale kaum weniger überfüllt: Fußballbücher, Reiseratgeber, Nachschlagewerke, Fanmagazine. An den anderen Wänden, allesamt Schrägen, hängen Eintrittskarten zu Fußballspielen, ebenso hinter Glas gerahmt wie einige Trikots. Mittendrin steht ein Schreibtisch mit zwei Computern, davor sitzt Hardy Grüne und erzählt vom Fußball in Bonn und in der Bretagne, in Göttingen und Guam, in Ulm und Usbekistan. "Ich bin immer neugierig gewesen auf Fußball", sagt Grüne. "Ich versuche, über den Tellerrand zu blicken und in die Tiefe zu gehen. Darin besteht mein Ruf." Und darin besteht sein Beruf: Hardy Grüne lebt nicht nur mit dem Fußball, sondern auch von ihm. Er schreibt so viele Fußballbücher wie kein Zweiter in Deutschland.

Seit 1992, als er sein Erstlingswerk "Die deutschen Vereine" im Agon-Verlag veröffentlichte, sind es knapp sechzig Bücher, die der gebürtige Westfale verfasst oder an denen er mitgearbeitet hat. Alleine im vergangenen WM-Jahr kamen drei Bücher von ihm auf den Markt; andere Angebote musste er ablehnen. Hardy Grüne schreibe "Oden in Zahlen und Fakten", wirbt sein Verlag. Der Autor selbst gibt sich etwas prosaischer: "Ich versuche, tatsächliche Ereignisse so aufzuarbeiten, dass sie Bilder ergeben, die der Leser erfassen kann." Für das Finanzamt ist Grüne ein Journalist, für seine Leser ist er ein Vielschreiber, für alle eine Autorität. Er habe wohl etwas "Meinungsbildendes", sagt der Vierundvierzigjährige. Nur der Postbote, der Tag für Tag Fachbücher und Fachzeitschriften vorbeibringt, meint manchmal etwas mehr zu wissen über den Fußball.

Grüne lebt im Grünen, in einem Dorf mit 280 Einwohnern am Südostzipfel Niedersachsens. Sein Haus liegt auf einer Anhöhe, es ist das letzte, dahinter kommt noch der Fußballplatz und dann Thüringen. Den früheren Gewerkschaftsaktivisten interessiert die Fußballwelt im Kleinen: ein Verein wie die SG Hoechst, der ohne die heimischen Farbwerke undenkbar wäre. Oder die Geschichte des SV Algermissen 1911, eines niedersächsischen Fußballklubs, der von zwei Familien gegründet wurde und in dem zunächst nur die männliche Verwandtschaft kickte. "Elstern" nannten sich die Algermissener noch, als sie 1932 in der Endrunde zur Norddeutschen Meisterschaft unglücklich am Hamburger SV scheiterten. Das alles referiert Grüne, das Gedächtnis des Fußballs, aus dem Kopf. Die Vergangenheit liege ihm am Herzen, sagt er, "denn nur wenn wir die Geschichte kennen, wissen wir, woher wir kommen".

Hardy Grüne selbst kommt aus dem Herzen des deutschen Fußballs, aus dem Ruhrgebiet. Mit zwölf Jahren hat es ihn mit dem Vater von Dortmund nach Göttingen verschlagen. Er sammelte Anstecknadeln (er besitzt etwa 4000) und wollte bald mehr über die Vereine wissen als deren Wappen. Er wühlte nach Daten in Archiven, jagte nach Fakten in Chroniken, kopierte Vereinsaufstellungen und bot sie vor zwanzig Jahren per Kleinanzeige im "Kicker" an. Bald verdiente er mit deren Verkauf mehr als jene 700 Mark, die er als Student der Geographie und Politik an Bafög erhielt. "Gewollt war das nie", sagt Grüne, der vom Fan zum Wortführer wurde. Sein Studium hängte er an den Nagel.

Zurzeit arbeitet Grüne an seinem Opus magnum, einer "Welt-Enzyklopädie des Fußballs". Seit zehn Jahren hat er sie geplant, im Herbst soll sie erscheinen. Soeben hat er die zwei Seiten über Fußball auf Guam fertiggestellt. Weil er noch ein paar Fakten prüfen will, schreibt er einen Journalisten von der westpazifischen Insel an. Gegenüber früher, als er viele Briefe schrieb und Ferngespräche führte, habe das Internet seine Arbeit erleichtert. Das Angebot an Weblogs und Online-Lexika versteht er nicht als Konkurrenz zu seinen Kompendien. Das Problem sei: "Die Leute gewöhnen sich daran, Informationen kostenlos zu bekommen."

Die Bücher, die Grüne schreibt und seine Lebensgefährtin layoutet, haben ihren Preis. Aber dafür gibt es Informationen satt. Zum Beispiel, dass es in Indonesien keine Vereine gibt, sondern nur Regionalauswahlen. Oder dass sich der Fußball in West-Papua stark entwickelt, nachdem das Land politisch lange von Indonesien unterdrückt wurde. Immer wieder fragt sich Grüne, inwieweit er die Politik berücksichtigen kann, "ohne den fußballinteressierten Leser zu nerven. Aber man kann den Fußball nie isoliert sehen, ob in Algermissen oder Afghanistan."

Jeden Tag bekommt der Heimarbeiter "neue Reiselust", aber meistens zieht es ihn nur zu seinen Lieblingsklubs: zu EA Guingamp in der Bretagne, zu den Bristol Rovers nach England. Besucht er deutsche Stadien, wird er von Lesern an seinem Fanschal in den Göttinger Vereinsfarben erkannt: Schwarz-Gelb - das muss der Grüne sein! Die Bundesliga verfolgt er mit Interesse, aber ohne Leidenschaft. "Trainerwechsel, Spielertransfers - das geht mir alles zu schnell", sagt Grüne. Dann deutet er auf ein Foto, das am Holzregal hängt. Zu sehen sind: Hardy Grüne, der Weltbeobachter aus der Provinz, und Didier Drogba, der Weltstar von der Elfenbeinküste. In Grünes Wohnung kommen sich große und kleine Fußballwelt so nah wie sonst nirgends.

THOMAS KLEMM

Mehr über den Autor und seine im Agon-Verlag erschienenen Bücher unter www.hardy-gruene.de.

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