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„Ein Himmel von fast morgenländischer Klarheit, schön, rein, leuchtend und blau wie ein Türkis aus Nischapur dehnte sich über den Häusern und Gärten der noch schlummernden Stadt. Nur das Zwitschern der Spatzen, die einander auf Dächern und den Ästen der Akazien verfolgten, und das behagliche Gurren einer Taube vom Wipfel eines Baumes störten die tiefe Ruhe des frühen Morgens. Von weitem ertönte dann und wann das ächzende Knarren eines Bauernkarrens, der langsam auf dem holprigen Pflaster der Sadowaja, der größten und elegantesten Straße der Stadt, herankam. Angrenzend an den breiten,…mehr

Produktbeschreibung
„Ein Himmel von fast morgenländischer Klarheit, schön, rein, leuchtend und blau wie ein Türkis aus Nischapur dehnte sich über den Häusern und Gärten der noch schlummernden Stadt. Nur das Zwitschern der Spatzen, die einander auf Dächern und den Ästen der Akazien verfolgten, und das behagliche Gurren einer Taube vom Wipfel eines Baumes störten die tiefe Ruhe des frühen Morgens. Von weitem ertönte dann und wann das ächzende Knarren eines Bauernkarrens, der langsam auf dem holprigen Pflaster der Sadowaja, der größten und elegantesten Straße der Stadt, herankam.
Angrenzend an den breiten, staubigen, verlassenen Domplatz umschloß eine Holzverschalung den Hof des Hotel London, dessen eintönige lange Fassade mit drei Stockwerken aus grauen Steinen, verdrießlich wie ein regnerischer Herbsttag, ohne Erker, ohne Pfeiler, ohne Säulen, schmucklos in die Sadowaja starrte.
Dieses Hotel, das erste der Stadt, war durch seine Küche berühmt. Die jeunesse dorée, Offiziere, Industrielle und Aristokraten waren die Gönner seines renommierten Restaurants, in dem ein Orchester von drei blassen Juden und zwei Kleinrussen nachmittags und bis spät in die Nacht banale Potpourris aus Eugen Onegin und Pique Dame, sentimentale Volkslieder und rhythmisch zerhackte Zigeunerweisen spielte. Wie viele fröhliche Gesellschaften, glänzende Feste und ’Orgien’ – um diesen Ausdruck zu gebrauchen, der bei uns für die Veranstaltungen des Hotel London beliebt war – hatten dessen Wände schon umschlossen!
Das Restaurant des Hotels bestand aus einem großen und einem kleineren Saal. Aber es besaß keine Separees. Daher pflegten diejenigen, die unter sich bleiben wollten, im ersten Stock des Hotels Zimmer und Salon zu nehmen, die Leo Dawidowitsch, der Portier, stets für seine Gäste reserviert hielt.“
Autorenporträt
CLAUDE ANET, eigentlich Jean Schopfer, geboren 1868 in Morges (Schweiz). Er studierte an der Sorbonne und an der École du Louvre und arbeitete als Reporter u. a. für Le Temps und Le Petit Parisien. 1892 wurde er französischer Tennismeister. Als Korrespondent des Journal wurde er 1917 Augenzeuge der Russischen Revolution in Sankt Petersburg. Neben Reiseliteratur und Theaterstücken veröffentlichte Anet mehrere Romane, darunter Ariane, jeune fille russe (1920), der für den Prix Goncourt nominiert und u. a. von Billy Wilder mit Audrey Hepburn verfilmt wurde. Claude Anet starb 1931 in Paris. KRISTIAN WACHINGER, geboren 1956, gelernter Buchhändler, studierte Germanistik und Romanistik in München, Nantes und Hamburg und arbeitete drei Jahrzehnte als Verlagslektor. Er übersetzte Werke u. a. von Giacomo Casanova, Prosper Mérimée, Georges Simenon und Laurent Binet.