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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Rolf Wiggershaus charakterisiert Leben und Werk Max Horkheimers – und verpasst das Wesentliche
Wer von „Kritischer Theorie“ etwas versteht, weiß von Max Horkheimer, ohne den es die Kritische Theorie nie gegeben hätte, wie Rolf Wiggershaus in seiner Einführung mit dem zweideutigen Untertitel „Unternehmer in Sachen ,Kritische Theorie‘“ treffend feststellt. Rolf Wiggershaus hat sich einen Namen mit seiner monumentalen Pionierstudie „Die Frankfurter Schule“ gemacht. Darin zeichnete er 1986 ein umfassendes Bild der Kritischen Theorie von den Anfängen in den zwanziger Jahren bis zur Gegenwart. Ihr Begründer Max Horkheimer war schon 1973 gestorben, seine berühmtesten Mitarbeiter Theodor W. Adorno schon 1969 und Herbert Marcuse 1979. Jürgen Habermas, der in den fünfziger und sechziger Jahren in Frankfurt gelebt und gelehrt hatte, war 1983 wieder nach Frankfurt berufen worden und hatte mit seiner eigenen Erfindung einer Tradition begonnen. Wiggershaus’ Buch, das sich in den folgenden Jahren weltweit als Standardwerk zur „Frankfurter Schule“ etablierte, passte sich nahtlos in die habermasianische Traditionserfindung ein, der sich als legitimer Erbe von Horkheimer und Adorno zu präsentieren begann.
Dieser Wissenschaftsgeschichtsschreibung standen die Fakten im Wege. Max Horkheimer hatte sich für sein in den Zwanziger Jahren begonnenes Projekt nicht den Namen „Frankfurter Schule“ gewählt, sondern erst 1937 im Exil nannte er das, was er mit seinen Mitarbeitern aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung, das inzwischen im New Yorker Exil arbeitete, vorhatte, „Kritische Theorie“, in Abgrenzung zur traditionellen Theorie, die als akademische Philosophie in Europa und Amerika etabliert war. 1924 war es gelungen, ein unabhängiges „Institut für Sozialforschung“ an der jungen Frankfurter Universität zu mit dem Geld des Getreidegroßhändlers Hermann Weil zu etablieren, der für seinen linksradikalen Sohn eine reputierliche Beschäftigung suchte. Felix Weil fand in den beiden Stuttgarter Fabrikantensöhnen Max Horkheimer und Friedrich Pollock interessierte Berater, die in einem Institut dieser Art die Basis für ein nichtakademisches Projekt in Theorie und Praxis unter dem Deckmantel einer Universität sahen. Schon in Wiggershaus’ Opus magnum geht dieser einzigartige Charakter einer Theorie verloren, die von ihren Begründern als Aktualisierung der Marxschen Theorie unter veränderten gesellschaftlichen Umständen verstanden wurde.
Auch in seiner jetzt erschienenen konventionellen Horkheimer-Biografie, die unilinear Horkheimers Lebensweg von der Wiege bis zur Bahre folgt, bleibt Wiggershaus in seiner Konstruktion einer „interdisziplinären Wissenschaft“ gefangen, die ein Modeprojekt des akademischen Betriebs der siebziger Jahre war, als Horkheimer schon auf dem Friedhof in Bern lag. Der außertheoretische Impuls der Kritischen Theorie, nämlich die Welt unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit zu beschreiben, bleibt dem Leser verborgen. Anders als bei Habermas, der seine „Theorie des Kommunikativen Handelns“ für den Wissenschaftsbetrieb in einer seltsamen Wortschöpfung „anschlußfähig“ machen wollte, wurde in Horkheimers Kritischer Theorie die Wissenschaft selbst zum Gegenstand der Kritik. Das Mitte der vierziger Jahre, im amerikanischen Exil entstandene Schlüsselwerk der Kritischen Theorie „Dialektik der Aufklärung“ lebt vom Zweifel am Fortschritt von Rationalität, nicht nur der kommunikativen.
Für den, der wenig von Kritischer Theorie weiß, kann dieses Buch nützlich sein; Rolf Wiggershaus kennt sich aus im Frankfurter Horkheimer-Archiv, aus dem er manche unbekannte Preziosen hervorholt. Horkheimer glänzt in diesen Zitaten als außerordentlicher Schriftsteller, als ein Aphorismenkünstler auf der Höhe von Schopenhauer und Nietzsche, der Lust auf mehr Lektüre macht. Diese dämpft Wiggershaus gleich wieder durch eine in Geistesgeschichte weit verbreitete Unsitte – die Paraphrase des Originalgedankens. Diese schriftstellerische Technik verleugnet die Notwendigkeit der vom paraphrasierten Autor gewählten Formulierung zugunsten einer faden Inhaltsangabe. Noch schlimmer wird es, wenn theoretisch anspruchsvolle Texte wie Horkheimers Einleitung zu „Autorität und Familie“ als Informationsquelle über das private Leben des Autors missbraucht werden. Aus einem Wald der Erkenntnis wird biografistisches Kleinholz. Im lebensgeschichtlichen Gestrüpp verpasst der Biograf das Wesentliche. Nach Horkheimers Konzeption sollte Kritische Theorie ein überindividuelles Projekt sein, das eben nicht in der Lebensgeschichte eines einsamen Denkers aufgeht.
Was Horkheimer dachte, enthüllt keine Archivarbeit, die zwischen den Textsorten nicht zu differenzieren weiß. Die neckische Bezeichnung „Unternehmer in Sachen ,Kritische Theorie‘“, die von einem bildungsbürgerlichen Ressentiment gegen angebliche Geschäftstüchtigkeit zehrt, geht daneben. Ein Geschäftsmann möchte seine Marke auf den Markt bringen, Horkheimer versuchte dagegen, vor der Öffentlichkeit die Verbindungslinien seines Projekts zur revolutionären Gesellschaftstheorie zu verbergen, ohne jedoch den Impuls zu gesellschaftlicher Veränderung zu verleugnen. Schon die Namenswahl „Kritische Theorie“ brachte für den Wissenden die Nähe zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und gleichzeitige Distanz zum Sowjetmarxismus zum Ausdruck in einer Art „Sklavensprache“ (Brecht). Bei Wiggershaus wird aus einem intellektuellen Grandseigneur, der die Schrecken des 20. Jahrhunderts eindringlich zu artikulieren weiß, ein professoraler Biedermann.
DETLEV CLAUSSEN
Rolf Wiggershaus: Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen „Kritische Theorie“ Eine Einführung. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 240 S., 9,99 Euro.
Er war ein glänzender
Aphorismenkünstler
Kritische Theorie sollte ein
überindividuelles Projekt sein
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