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Martin Dibelius (1883-1947) gibt in seiner zur Zeit der Entstehung unveröffentlicht gebliebenen Schrift eine exemplarische Konkretisierung des theologischen Schuldbegriffs in der geschichtlichen Situation der Nachkriegszeit. Ein Beispiel für eine ihre Fachgrenzen überschreitende und ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmende evangelische Theologie.

Produktbeschreibung
Martin Dibelius (1883-1947) gibt in seiner zur Zeit der Entstehung unveröffentlicht gebliebenen Schrift eine exemplarische Konkretisierung des theologischen Schuldbegriffs in der geschichtlichen Situation der Nachkriegszeit. Ein Beispiel für eine ihre Fachgrenzen überschreitende und ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmende evangelische Theologie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997

Das Böse am Guten
Martin Dibelius und die Schuldfrage / Von Heike Schmoll

Nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur in diesem Jahrhundert stellte sich die Frage, was gerade den Protestantismus trotz seines partiellen Widerstands so anfällig macht für moderne Ideologien. Während der institutionenbestimmte Katholik sich bei aller Anerkennung des staatlichen Befehls der Andersartigkeit eines durch Papst und Episkopat vermittelten göttlichen Willens bewußt ist, ist der Protestant durch seine reformatorisch bedingte Gewissensbindung um einiges gefährdeter. In seiner Abhandlung "Selbstbesinnung des Deutschen" ging der Heidelberger Neutestamentler Martin Dibelius der Frage nach der Kulturbedeutung des Christentums nach.

Die Wurzeln für die Anfälligkeit des Protestantismus für die verbrecherische Ideologie des Nationalsozialismus liegen für ihn in der alten Verbundenheit von Thron und Altar. Vor allem die der Armee nahestehenden Schichten des evangelischen Bürgertums rechtfertigten ihre Unterstützung mit einer falsch verstandenen Staatstreue, für die Luthers Zwei-Reiche-Lehre und paulinisch begründeter Obrigkeitsglaube scheinbar plausible Argumente bereithielten.

Deshalb pocht Dibelius auf die kritische Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und allem Politischen. Er erkennt zwar den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus als theologisches Problem und sieht darin den Abfall eines ganzen Volkes von Gott. Im Unterschied zu anderen Theologen macht er sich aber nicht eine religiös-moralisierende Wertung zu eigen, sondern bekräftigt die relative Autonomie des Politischen. Dibelius theologisiert den Schuldbegriff und macht ihn dadurch transparenter. "Nicht jammern sollen wir, aber überlegen und fragen: wie war das möglich? Und darum muß sehr viel von vergangenen Dingen die Rede sein, also von Geschichte und Politik", lautet der Leitgedanke dieses kurzen, überaus aktuellen Textes, der einem modernen geschichtsvergessenen Protestantismus das Gewissen schärfen könnte.

Dibelius vermeidet es sorgsam zu moralisieren und spricht allenfalls von einer Verantwortung, die sich aus der Befragung der Geschichte ergibt. Wohl ließen sich Anklagen erheben gegen die deutsch-nationale Färbung der evangelischen Kirche, niemand aber könne sagen, wo die wirkliche Schuld beginne. "Schuld hat keinen erkennbaren Anfang", beschreibt Dibelius den biblischen Sündenbegriff, der sich nicht auf die einzelne Tat bezieht, sondern auf "jenen kleinen Beisatz von Bösem, der das Gute verdirbt und sich schließlich ins Große entwickelt". Das läßt sich etwa an der Entwicklung des Antisemitismus studieren. Lange vor den Judenverfolgungen im Dritten Reich gab es jene antisemitische Haltung, welche die Juden zu Außenseitern erklärte, und die schnoddrige Verachtung der Andersdenkenden, die den Holocaust überhaupt erst möglich machte. Der Prozeß der Geschichtsbefragung führt damit in eine Zone, in der das scheinbar Gute bereits mit dem Bösen infiziert ist. Statt moralischer Verdikte oder kollektiver Schuldbekenntnisse beabsichtigt Dibelius eine ernste Selbstbesinnung, aus der die Einsicht folgen soll über die Ursachen des Geschichtsverlaufs und den Anteil, den alle Deutschen daran haben.

Martin Dibelius wurde 1883 geboren, er studierte Theologie, Philosophie und Philologie und wurde vor allem durch den Kirchenhistoriker Adolf von Harnack geprägt. Von 1915 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1947 hatte er den Lehrstuhl für Neutestamentliche Kritik und Exegese in Heidelberg inne. Der vorliegende Text entstand vermutlich zu Beginn des Jahres 1946. Dibelius' Arzt, Richard Siebeck, hatte seinem Neffen Hans Georg Siebeck das Manuskript geschickt und zur Publikation vorgeschlagen. Dazu mußte es allerdings erst die Vorzensur der französischen Zone in Baden-Baden passieren. Wesentlich schärfer als den Versailler Vertrag und die französische Politik in der Zwischenkriegszeit tadelt Dibelius die deutsche Politik seit dem Kaiserreich. Er unterschied genau zwischen dem "Geist von Potsdam" und dem aggressiven Militarismus der Nationalsozialisten. Der Bescheid der französischen Militärverwaltung ließ indes auf sich warten - eine Ablehnung wurde immer wahrscheinlicher. Nach dem Tode von Dibelius im November 1947 betrieb niemand mehr das Verfahren.

Der Augsburger Historiker und Systematiker Friedrich Wilhelm Graf hat den Text jetzt herausgegeben. In einem ausführlichen Nachwort erläutert er Dibelius' Biographie und die Entstehung der Abhandlung. Ohne den durch Graf hergestellten Zusammenhang zum Gesamtwerk des Theologen wäre die "Selbstbesinnung des Deutschen" kaum zu verstehen, zumal der Text sich einem konkreten Anlaß verdankt: Dibelius war Vorsitzender des Heidelberger "Dreizehnerausschusses", der darüber zu entscheiden hatte, wie mit nationalsozialistischen Professoren umzugehen sei. Auch wenn die einzelnen Gutachten in den Aktenbergen der amerikanischen Besatzungsmacht untergingen, führte Dibelius' Entwicklung von Beurteilungskriterien zu einer frühen und zeitlos gültigen Beschäftigung mit der Schuldfrage. Das Niveau dieses Textes war selbst der französischen Zensurstelle aufgefallen. Um so verdienstvoller ist es, daß er nun der Öffentlichkeit zugänglich ist.

Martin Dibelius: "Selbstbesinnung des Deutschen". Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1997. 96 S., geb., 39,- DM.

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