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Der grüne Heinrich ist ein Bildungsroman, einer der bedeutendsten Bildungsromane überhaupt. Er erzählt die Lebensgeschichte eines Künstlers, der sich allen äußeren Widerständen zum Trotz behaupten will und letztlich doch scheitert. Keller hat in diesem Roman wesentliche Elemente seines eigenen Lebens verarbeitet.

Produktbeschreibung
Der grüne Heinrich ist ein Bildungsroman, einer der bedeutendsten Bildungsromane überhaupt. Er erzählt die Lebensgeschichte eines Künstlers, der sich allen äußeren Widerständen zum Trotz behaupten will und letztlich doch scheitert. Keller hat in diesem Roman wesentliche Elemente seines eigenen Lebens verarbeitet.
Autorenporträt
Gottfried Keller, geboren am 19. Juli 1819 in Zürich, studierte nach einer Ausbildung zum Landschaftsmaler in Heidelberg Geschichte, Philosophie und Literatur. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der grüne Heinrich und die Novellensammlung Die Leute von Seldwyla. Gottfried Keller starb 1890 in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1996

Göttliches Federvieh
Neu kommentiert: Kellers "Grüner Heinrich" · Von Heinz Schlaffer

Es ist ein Unglück für die gegenwärtige Geltung der klassischen deutschen Literatur, daß zwei ihrer schönsten Werke mit dem abschreckenden Prädikat eines "Bildungsromans" umlaufen und deshalb bereits im Schattenreich der versäumten Lektüren umgehen: "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Der grüne Heinrich". Zwar ist der "Bildungsroman" eine germanistische Fiktion, doch reicht ihre verdämmernde Wirkung noch aus, heutige Leser fernzuhalten, denn sie hören aus jenem anspruchsvollen Gattungsbegriff die Drohung heraus, sie selbst sollten gebildet werden. Romanleser mögen sich zwar auf unterschiedlichen Niveaus vergnügen lassen, nur eines wollen sie nicht, wenn sie einen Roman lesen: gebildet werden, auch nicht auf dem leichten, beschämend leichten Weg, indem sie den anstrengenden Bildungsgang einer vorbildlichen Figur verfolgen, während sie selbst es sich gerade auf dem Sofa bequem gemacht haben.

Ein Leser, der einen sogenannten Bildungsroman in Händen hält, wird stets darauf achten, daß er keine der angeblich wichtigen Stufen im angeblich notwendigen Entwicklungsgang des Helden übersieht: Familie, Natur, Theater, Liebe, Kunst, Gesellschaft. Eingeschüchtert von unterstellten Ideen und ausgerichtet auf eine Vollendung - oder deren Scheitern - am Schluß, bringt sich dieser Leser um alle lebendige Schönheit, die Goethes und Kellers Werke jedem gewähren, der sich absichtslos den Wörtern und Bildern überläßt.

Wer den "Grünen Heinrich" einmal aus freien Stücken gelesen hat (also nicht, um eine Bildungslücke zu schließen), der wird die Erfahrung machen, daß viele Geschichten daraus so scharf umrissen im Gedächtnis bleiben, als gehörten sie zur eigenen Biographie und nicht nur zu Kellers Autobiographie. Wer den "Grünen Heinrich" mehrmals gelesen hat, der wird bemerken, daß alle Geschichten so intensiv das Vorstellungsvermögen affizieren, als sähe man sie mit eigenen Augen. Dabei muß es sich nicht um unerhörte Vorfälle handeln, die ja in einem autobiographischen, also dem wirklichen Leben verpflichteten Roman selten sind. Es genügt ein schlichter Bericht von einer kindlichen Wahrnehmung und ihrer irrtümlichen Deutung, wie sie in jedermanns Kindheit sich hätte ereignen können. Das Merkwürdige liegt für den, der genau hinsieht und sich zugleich seiner Träumerei überläßt, im Alltäglichen bereit wie die "seligen Gefilde" auf dem Kirchendach, das der kleine Heinrich vom Fenster seiner Stube aus sieht: "Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen, und diese schiefe, rotglühende Ebene über der dunklen Stadt war für mich recht eigentlich das, was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht. Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Türmchen, in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: Was ist Gott? Ist es ein Mann? Und sie antwortete: Nein, Gott ist ein Geist! Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Türmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei."

Verzauberung, Entzauberung und erneute Verzauberung wechseln in dieser Passage einander ab. Nichts Geringeres als die Entzauberung der Religion hat der Autor, Schüler Ludwig Feuerbachs, in der Beobachtung und Interpretation kindlicher Naivität versteckt: Gott ist ein leerer, durch elterliche Autorität überlieferter Name, der durch die gläubige Verknüpfung mit auffälligen, aber unerklärlichen irdischen Phänomenen den Schein einer realen Existenz gewinnt. Der Mensch ist nicht das Geschöpf, sondern der Schöpfer Gottes. Was Gott durch diese Psychologie des mythischen Denkens verliert, gewinnt der Wetterhahn: Über dem Schatten des Kirchendachs erstrahlt er, wie verzaubert, in überirdischem Glanz, als wäre er - wenigstens für diesen einen Augenblick - ewig. Die ästhetische Erfahrung ist die einzige - eine irdische - Transzendenz, die dem noch bleibt, den die aufgeklärte Einsicht in den Ursprung menschlicher Illusionen zum Verzicht auf den Glauben an eine überirdische Transzendenz gezwungen hat.

Leicht können so behäbige Kapitelüberschriften wie "Lob des Herkommens", "Vater und Mutter", "Lob Gottes und der Mutter. Vom Beten" zu dem Irrtum verleiten, Keller wolle das patriarchalische Behagen des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts bestätigen und verklären. Doch die Überschriften sind bittere Ironie, wenn nicht blanker Hohn: Von allem "Herkommen" weicht der Lebensweg des grünen Heinrichs ab, der den Vater verliert, die Mutter hintergeht, sich vom Christentum abkehrt, sich als mittelmäßiger Maler durchschlägt, Schulden macht und - in der ersten Fassung des Romans - als Selbstmörder oder - in der zweiten Fassung - als bescheidener Beamter endet.

Dennoch ist der Roman etwas ganz anderes als die Misere seines Helden: Er ist eine Apotheose des irdischen Glücks. Auf die bange Frage des 19. Jahrhunderts, wie ein Leben ohne Gott, Unsterblichkeit und Ideale möglich sei, gibt Keller eine illusionslose, doch beruhigende Antwort. Sie steht in einem Brief an Wilhelm Baumgartner (1851), in dem er auch den ersten Band des "Grünen Heinrich" ankündigt: "Wie trivial erscheint mir gegenwärtig die Meinung, daß mit dem Aufgeben der sogenannten religiösen Ideen alle Poesie und erhöhte Stimmung aus der Welt verschwinde! Im Gegenteil! Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewußtsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgend einem Winkel der Welt nachzuholen."

Diese Intensität eines ganz dem Diesseits zugehörigen Lebens vergegenwärtigt Kellers Roman. Der Erde und dem Dasein auf ihr eignen eine Schönheit, die über alles Schöne und Häßliche, über alles Glückliche und Unglückliche hinausreicht, das geschehen kann und das Kellers Erzählung nicht ausspart. In der Art, wie Keller von gelungenen oder mißlungenen Augenblicken des Lebens erzählt, wird jene grundsätzliche - man möchte paradoxerweise sagen: metaphysische - Schönheit des bloß irdischen Daseins greifbar. Was die Zeit davonträgt, dem Tode zu und, schlimmer noch, dem Vergessen, das bewahrt die Schrift des Biographen. Deshalb endet der Roman mit der Erklärung, er sei geschrieben, "um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln".

Jede Suche nach der verlorenen Zeit muß als Autobiographie unternommen werden, auch wenn es ein Roman werden soll, dem Fiktionen erlaubt sind. Moritz, Keller und Proust haben im Rückblick auf das eigene Leben dieses einer halb authentischen, halb erfundenen Gestalt übertragen, nicht aus Diskretion, sondern aus der Einsicht, daß eine wirkliche Autobiographie immer zur Anklage oder zur Entschuldigung gerät, während die größere Distanz dem autobiographischen Roman freies Bekenntnis und vorurteilsloses Verständnis aller Taten und Untaten gestattet. Diese notwendige Verbindung von wahren und fiktiven Elementen läßt die Verfasser schwanken, ob sie "ich" oder "er" sagen sollen. Bei der ersten Fassung war Keller noch unschlüssig über die Erzählweise. Er umgab die Jugendgeschichte, von Heinrich selbst niedergeschrieben, mit einem umfangreichen Rahmen, in dem der Erzähler vom weiteren Leben der Hauptfigur in der dritten Person berichtet. Erst nach 25 Jahren arbeitete Keller den "Grünen Heinrich" durchgängig in die Ich-Form um. So vieles wurde dabei geändert, daß eine Ausgabe sämtlicher Werke gut beraten ist, wenn sie beide Fassungen abdruckt. In der Edition des Deutschen Klassiker-Verlags geschieht dies wieder wie vor siebzig Jahren in der Ausgabe von Jonas Fränkel.

Lange Zeit galt die spätere Fassung als kanonisch, doch haben die Germanisten in den letzten Jahren die frühere bevorzugt, in der zwei gern beschworene Mächte deutlicher hervortreten: Eros und Tod. Der alternde Schriftsteller hat die "Nuditäten" zurückgedrängt, die in seinem Jugendwerk zwar kein emanzipatorisches Programm verkörpern, aber doch die Mitte des Glücks bezeichnen (gerade dann, wenn es verfehlt wird), für das es sich zu leben lohnt. Ähnlich schwächt er den abrupt tragischen Schluß ab, an dem sich der gescheiterte Künstler das Leben nimmt. Doch die autobiographische Aufrichtigkeit, die den "Grünen Heinrich" zu Kellers bestem Werk hat werden lassen, spricht für die Korrekturen. Das resignierte Weiterleben des Helden in der zweiten Fassung entspricht besser den eigenen Erfahrungen des Autors. Auch stimmt es zur Lebenswirklichkeit des prüdesten aller Jahrhunderte, daß die scheue Begierde des noch ganz grünen Heinrich nun nicht weiter als bis zu halb verdeckten erotischen Traumbildern reicht.

Das Erscheinen der zweiten Fassung des Romans hat bei den Herausgebern der "Sämtlichen Werke" fast so lange auf sich warten lassen wie beim Autor. Auch hier ist die Zeit nicht spurlos an der Edition vorübergegangen. Gerhard Kaisers und Thomas Bönings Nachwort von 1985 verknüpfte Psychoanalyse und Ideengeschichte, um den Familienroman des grünen Heinrich zu rekonstruieren, aus dem sich sein Lebensweg und Lebensende herleiten. Peter Villwocks Nachwort zu dem neuen Band stellt die ästhetischen Probleme heraus, in denen Kellers Roman sich verfangen hatte und aus denen er sich durch die Überarbeitung befreite, um dafür neue Widersprüche einzuhandeln. Villwocks Kommentar befaßt sich nur mit solchen Stichwörtern, die nicht schon der Kommentar zur ersten Fassung erläutert. Dennoch ergibt sich - mit einem synoptischen Schema der beiden Fassungen - ein Anhang von vierhundert Seiten. Man sollte dem Leser, der zum erstenmal auf dieses Werk trifft und aus dem gewaltigen editorischen Apparat schließen wird, daß es gewiß schwer zu verstehen sei, die heitere Zuversicht vermitteln, daß es leicht zu verstehen ist. Es mag ihn beruhigen, daß ein Kommentar existiert, aber er braucht ihn nicht, um bei der langen, nicht enden wollenden und leider doch einmal endenden Lektüre des Romans selig zu werden.

Gottfried Keller: "Der grüne Heinrich". Zweite Fassung. Sämtliche Werke, Band 3. Herausgegeben von Peter Villwock. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1996. 1251 Seiten, geb., 139,- DM.

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