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Ein Naturwissenschaftler, so leitet Keller die Rahmenhandlung des "Sinngedichts" ein, überträgt seine berufliche Haltung des forschenden Experimentierens wahl- und glücklos auf die Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht, ehe er sie in einem ebenso literarischen wie erotischen Dialog mit einer Frau von Geist und unerwarteter Selbständigkeit gründlich verlernen darf.

Produktbeschreibung
Ein Naturwissenschaftler, so leitet Keller die Rahmenhandlung des "Sinngedichts" ein, überträgt seine berufliche Haltung des forschenden Experimentierens wahl- und glücklos auf die Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht, ehe er sie in einem ebenso literarischen wie erotischen Dialog mit einer Frau von Geist und unerwarteter Selbständigkeit gründlich verlernen darf.
Autorenporträt
Gottfried Keller (19.7.1819 Zürich - 15.7.1890 Zürich) absolvierte eine Lehre als Vedutenmaler, studierte an der Münchner Kunstakademie, später Philosophie in Heidelberg. 1855 kehrte er in die Schweiz zurück und lebte zunächst ohne Einkommen bei seiner Mutter und seiner Schwester Regula, bis er 1861 Erster Stadtschreiber des Kantons Zürich wurde und ab 1876 als freier Schriftsteller lebte. Kellers Werke werden dem bürgerlichen Realismus zugeordnet, sein autobiographisch geprägter Roman »Der grüne Heinrich« führt die Tradition des Bildungsromans in skeptischer Weise weiter, sein bekanntester Novellen-Zyklus »Die Leute von Seldwyla« verbindet im »Keller-Ton« (den Ausdruck prägte Theodor Fontane) Realismus mit humorvoller Satire.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Gehorsam nur dem eigenen Atem
Europäische Ethnologie: Gottfried Kellers Novellenzyklus "Das Sinngedicht" / Von Gerhard Neumann

Seit Erich Auerbach in seinem legendären Buch "Mimesis" (1946) dem Provinzialismus der deutschen Realisten den weltläufigen Scharfblick eines Stendhal, Balzac und Flaubert oder gar die naturwissenschaftliche Präzision eines Zola entgegengestellt hatte, tat man sich schwer mit dem Wirklichkeitsgehalt der Romane des Preußen Theodor Fontane oder des Schweizers Gottfried Keller - allzu offensichtlich erschien in ihren Werken die Einschränkung des Blicks; sei es nun auf die Affären der oberen Stände einer "in der Decadence" befindlichen preußischen Sozietät, sei es auf das stille Glück im provinziellen Winkel eines schweizerischen Nirgendwo. Zur Korrektur des lange gültigen Fontane-Bildes ist anläßlich seines hundertsten Todestages viel gesagt worden. Nun kommt, wie gerufen, in ebendiesem Jahr, der erste von zweiunddreißig Bänden einer historisch-kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe auf den Markt. Ist es die List der Vernunft, die dem Publikum an der Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts in diesem Auftaktband nicht den klassischen Bildungsroman des "Grünen Heinrich" in die Hände spielt, sondern den eher unbekannten Novellenzyklus "Das Sinngedicht"? Dem geneigten Leser jedenfalls, der inzwischen gelernt hat, das bildungsbürgerliche neunzehnte Jahrhundert mit kulturwissenschaftlich erweitertem Blick wahrzunehmen, könnte es bei neuerlicher Lektüre dieses Buches wie Schuppen von den Augen fallen: Nach Goethes "Faust", der das Erbe der Aufklärung angetreten hat, ist da ja, "Gott behüte!" (wie Thomas Mann eingeflochten hätte), nunmehr aus schweizerischem Feld ein veritabler Faust des neunzehnten Jahrhunderts zu besichtigen; ein skeptischer Faust freilich, melancholisch verwickelt in die modernste Naturwissenschaft, in Materialismus und Darwinismus, in Kolonialismus, Frauenemanzipation und Kulturschock-Erfahrung!

Dieser Novellenzyklus ist ein Lebenswerk im wahrsten Sinne des Wortes. Keller hat nicht weniger als dreißig Jahre an dem "Galatea"-Projekt, wie er es gelegentlich nannte, gearbeitet und es erst 1881, als eine Art Vermächtnis, publiziert. "Das Sinngedicht" enthält im doppelten Verständnis seines Titels, der von den Sinnen und von der Sinn-Gebung redet, eine Wahrnehmungsgeschichte der Moderne. Es ist eine Prognose auf die Welt des kommenden Jahrhunderts , in dem die materialistische Naturwissenschaft an die Stelle von Mythos, Vorbestimmung und Schicksal tritt.

Die Rahmenerzählung des Zyklus beginnt im Laboratorium des jungen Naturforschers Reinhart. Er hat seine Augen durch Mikroskopieren verdorben und plant eine "Augenkur" in der freien Natur, die ihm, dem beobachtenden Wissenschaftler, zugleich eine Frau fürs Leben bescheren soll. Mit Hilfe eines Buchorakels findet er - in den Epigrammen, den "Sinngedichten" des Barockdichters Friedrich von Logau - eine stategische Formel, die ihn auf seinem Weg durch die Welt geleiten und zur Partnerwahl führen wird: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?

Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen.

Auf solche Weise gerüstet, macht Reinhart sich auf die Suche nach einer Frau, die er durch einen Kuß zu beleben vermöchte. Dieses "Galatea-Projekt" steht im Zeichen einander widersprechender Handlungsmuster: des Darwinschen Gesetzes der "Zuchtwahl", worauf gleich im ersten Satz angespielt wird, und der mythischen Formel vom antiken Bildhauer Pygmalion, der sich in eine von ihm selbst geschaffene Marmorstatur verliebt, von der Liebesgöttin deren Belebung erbittet und die lebendig Gewordene zur Frau nimmt.

Nach einer Reihe von Reiseerlebnissen trifft Reinhart auf Lucie, eine junge Schöne, deren sprechender Name "Lux" ihm jenes Licht verheißt, das seine kranken Augen heilen könnte. Er bleibt in ihrer Nähe, beide erzählen Novellen, deren letzte dann in die Verlobung der beiden Liebenden Reinhart und Lucie münden. Nur eine der zehn eingeschobenen Partnerwahl-Geschichten macht dabei einen "Wahlherrn" zum Helden, vier Geschichten dagegen stehen im Zeichen einer "Damenwahl", die restlichen kommen einer solchen recht nahe.

Doch erzählt Keller nicht als Mythologe des Geschlechterverhältnisses; er erzählt beinahe als Naturwissenschaftler. Denn der ganze Zyklus des "Sinngedichts" ist nach dem Muster eines Experiments angelegt. Die Geschichten, die von den Figuren der Rahmenhandlung vorgetragen werden, sind Proben aufs Exempel der Partnerwahl und ihrer Bestimmung als biologisches oder kulturelles Ereignis; ablesbar am Erröten der Frau als Indiz der Verwandlung von Natur in Kultur. Nicht weniger als drei der erzählten Geschichten - es herrscht der Kolonialismus der Gründerzeit - spielen in Übersee oder nehmen doch Bezug darauf. In der Novelle "Don Correa" zum Beispiel ist es ein in Afrika kolonisierender Abenteurer, der die Eingeborene Zambo, die er als lebloses Objekt kennenlernt - sie dient ihrer Königin als "Stuhl" -, allmählich zum Leben erweckt und zu seiner Frau macht. Der glückliche Schluß, den Keller seiner Geschichte gibt, täuscht freilich über den Charakter solcher Belebung aus dem Fremden in das Eigene hinweg. Das letzte Gespräch zwischen Don Correa und Zambo, der inzwischen als "Maria" Getauften, findet auf dem Stern des Schiffes statt: ",Hat das Meer auch eine Seele und ist es auch frei?' fragte die Frau. ,Nein', antwortete Don Correa, ,es gehorcht nur dem Schöpfer und den Winden, die sein Atem sind! Nun aber sage mir Maria, wenn du ehedem deine Freiheit gekannt hättest, würdest du mir auch deine Hand gereicht haben?' ,Du fragst zu spät' erwiderte sie mit einem nicht unfeinen Lächeln, ,ich bin jetzt dein und kann nicht anders, wie das Meer!'" Unmißverständlich ist damit gesagt, daß die Kluft zwischen stummer Naturgesetzlichkeit und nur scheinbar geglückter Animation der kolonialen Natur sich nicht schließen läßt. Wenn Zambo vor ihrer Belebung dem Meer geglichen hatte, das nur der Triebgewalt der Natur gehorcht, so ist sie jetzt, mit dem Übertritt in die Kultur, als "Naturwesen" dem Kolonisator erst recht entglitten. War sie zunächst als regloses Objekt einer fremden Welt, als "Stuhl" erschienen, so macht die Taufe, die Beseelung mit dem Identitätswasser der neuen Kultur, sie zwar zur "Person", entrückt sie aber ihrem fremden Ursprung. Die Kluft zwischen Zuchtwahl und Wahlfreiheit bleibt ein dunkles Rätsel.

Auch eine zweite koloniale Geschichte, die den Titel "Die Berlocken" trägt, lebt aus der Konfrontation zweier Kulturen, der europäischen und der indianischen. Ein junger Adliger, der - mit dem europäischen Verhaltensmuster der "Herrenwahl" ausgestattet - im Heer Lafayettes nach Nordamerika gelangt, läuft dort in die Falle des Begegnungs-Schocks zwischen den Kulturen: Die Gaben, mit denen er die fremde Schönheit mit dem Namen "Libelle" zu gewinnen hofft, werden unversehens zu Trophäen an der Nase von deren indianischen Stammes-Verlobten. Der pygmalionische Blick zwischen Naturkind und Kolonisator produziert nicht einmal mehr die Fiktion eines pädagogisch erzielten Mündels. Die Indianerin verweigert sich dem Rollenkonzept des europäischen Geschlechtertheaters, indem sie dessen Inszenierungsregeln gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Der Europäer erliegt dem Irrtum seiner Projektionen.

Indem Lucie und Reinhart in Kellers "Sinngedicht" einander Geschichten über die Partnerwahl als Form kulturellen Umgangs erzählen, reihen sie Experimente aneinander, in denen es um die Beziehung zum anderen Geschlecht und zur fremden Kultur geht. Aber die Animation des andersgeschlechtlichen Gegenübers im Erzählen wird in Kellers "Sinngedicht" nicht, wie in so vielen anderen Geschichten des neunzehnten Jahrhunderts über fremdkulturelles Verstehen, umstandslos als Bewältigung oder gar Lösung des Problems präsentiert. Ganz am Ende, als die Liebesgeschichte zwischen Lucie und Reinhart schon zu Einverständnis und Verlobung geführt hat, begegnet den beiden bei einem Spaziergang das bedrohliche Fremde noch einmal: im Kampf ums Überleben zwischen einem Krebs und einer Schlange am Waldbach. Zwar gelingt es den Liebenden, die ineinander verbissenen Tiere zu trennen; aber nur für einen Augenblick: "Es erfreut uns", sagt Reinhart, "in dem allgemeinen Vertilgungskriege das einzelne für den Augenblick zu schützen, soweit unsere Macht und Laune reicht, während wir gierig mitessen müssen."

So erweist sich Gottfried Keller als ein Ethnologe der europäischen Kultur, ihrer Konstruktion von Geschlechterrollen, von Beziehungsformeln und Strategien der Fremderkennung. Sein "Sinngedicht" richtet sich auf einen Ordnungskonflikt, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts drängende Aktualität gewonnen hatte: auf den Konflikt zwischen einer universalen Naturordnung, die dem blinden Gesetz des Darwinismus zu gehorchen scheint, und einer im sozialen Pakt errichteten Kulturordnung, die sich literarisch tradierter mythischer Formeln als Handlungsmuster bedient. Deren eines ist die Geschichte von Pygmalion, die ihre exemplarische Geltung als Muster des Menschenverkehrs und der Partnerwahl im bürgerlichen Bildungssystem unangefochten behauptet. Indem Keller sein Experiment auf die "Herrenwahl" Pygmalions durchexerziert, fragt er zugleich nach den Einwirkungen des zivilisatorischen Prozesses auf die Formen und Strukturen des Erzählens. Mit anderen Worten: Keller wirft die Frage nach dem Realismus in der Literatur auf. Als poetologische Fallstudie errichtet das "Sinngedicht" über dem doppelten Strom natürlicher und kultureller Reproduktion, der das soziale Leben ausmacht, drei verschiedene sinnstiftende Konstrukte: die Ordnung des exakten Experiments, das im Geltungsbereich der Naturwissenschaft angesiedelt ist; die Ordnung mythischer Erzählungen, die wie die Pygmalion-Geschichte eine strategische Formel von Lebensgestaltung enthalten; und die Ordnung schöpferischer Fiktion, die, wie in den Novellen, die Reinhart und Lucie einander mitteilen, die freie Inszenierung von Lebensgeschichten und Sinnstiftungen ermöglicht.

Reinhart, der Naturforscher, der sich im Akt der Wahrnehmung die Augen verdirbt, wiederholt und verwandelt das Rollenmuster, das bereits Goethes Faust verkörpert hatte: den Versuch, eine Liebesgeschichte mit der Karriere eines Wissenschaftlers zu verbinden. Auch dem "neuen Faust" geht es um die Frage, ob man das Spurenlesen des Naturwissenschaftlers in die Konstruktion kultureller Bedeutung verwandeln kann. Es geht ihm um die Wahrnehmung der Welt und um die Wahrnehmung der Frau. Aber diese doppelte Wahrnehmung steht nun im Zeichen einer Fremdheit, die zwischen der Gesetzmäßigkeit der moralisch-kulturellen Welt einerseits und der "Erkundung des Stofflichen und Sinnlichen" samt dem darin wirksamen "Gesetz natürlicher Zuchtwahl" andererseits eine Lücke reißt; jene Lücke, in der die Wahrnehmung der Körpergestalt des anderen Menschen stattfindet: "und zwar nicht die Gestalt in ihren zerlegten Bestandteilen", wie Reinhart auf den ersten Seiten des "Sinngedichts" feststellt, "sondern als Ganzes, wie sie schön und lieblich anzusehen ist und wohllautende Worte hören läßt".

So stellt sich Reinhart die Frage nach der naturwissenschaftlichen Lebensordnung und nach jener Kulturordnung zugleich, deren Szenario aus der Konstellation von Pygmalion und Galathee herausgetrieben wird. Auf ebendiese Überkreuzung von Natur- und Kulturordnung scheint es Keller anzukommen: die problematische Wechselerschaffung der Geschlechter in einem zugleich biologischen und kulturellen Ereignis. Keller zeigt, wie in den Gründerjahren die Erhebung der Frau zur Ebenbürtigkeit innerhalb der Vorstellung einer pädagogischen Animation des weiblichen Versuchsobjekts erfolgt, und er entlarvt diesen bildungsbürgerlichen Pygmalionismus erbarmungslos.

Gottfried Kellers Version der Pygmalion-Erzählung nimmt im langen europäischen Prozeß der Metamorphose dieses Mythos eine besondere Stelle ein. Denn indem das "Sinngedicht" die mythische Figur des Pygmalion mit der des Naturwissenschaftlers Faust kreuzt, denkt es den Schöpfer von Kultur mit dem Beobachter der Natur zusammen. Kellers Materialismus ist nicht ohne Sympathie für die Idee der Herstellbarkeit des Menschen, wie sie die Aufklärung - in Gestalt eines Boureau-Deslandes oder der Automaten des Vaucanson - zu formulieren versuchte. Der Schweizer Autor zeigt sich ebensosehr von jenem melancholischen Fatalismus angezogen, der sich im Gefolge der darwinistischen Ideen und ihres Determinismus wahrnehmen läßt. Es führt eine - wenn auch gebrochene - Linie von der düsteren Utopie der Naturmanipulation, die Mary Shelley 1818 in ihrem "Frankenstein"-Roman entwarf, zu Bernard Shaws "Pygmalion" von 1913, jener satirischen Komödie der Sprachmanipulation, die einen "neuen Menschen" hervorzutreiben sich anmaßt. Zwischen beiden steht Keller, zumindest mit seinen späten Texten aus dem "Sinngedicht": der stumme Naturkörper hier, das elaborierte Spiel der Sprache dort - und zwischen beidem der seiner Erweckung durch Erröten harrende Torso einer griechischen Statue.

Man kann den Schweizer Herausgebern der Keller-Ausgabe nicht genug dafür danken, daß sie mit dem ersten Band ihrer Edition, der außer dem "Sinngedicht" auch die "Sieben Legenden" enthält, ihren Autor nicht als betulichen Erzähler, sondern als Ethnologen der Gründerzeit, als Kulturdiagnostiker und Kulturhermeneuten in den Blick rücken. Dies geschieht in einer "mediengerechten" Edition, die neben Varianten und Stellenkommentar, ethnographischen Quellen, die Keller ausgiebig zu Rate zog, und umfänglicher literaturhistorischer Dokumentation ihr Material - samt einer faksimilierten Handschrift - zugleich auch als CD-ROM präsentiert. Man liest Gottfried Keller mit anderen Augen.

Gottfried Keller: "Das Sinngedicht. Sieben Legenden". Sämtliche Werke, Band 7. Hrsg. von Walter Morgenthaler. 431 S., geb., 118,- DM.

Band 23.1 und 23.2: Apparatbände zu Band 7. 466 S. und 477 S., geb., 118,- DM. Alle im Stroemfeld Verlag, Frankfurt und Basel 1998. Subskriptionspreis je Band 98,- DM.

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