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In Wadi Salib, einem Stadtteil Haifas, kam es 1959 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den dort wohnhaften jüdisch-marokkanischen Einwanderern und den israelischen Behörden. Das Viertel wurde damals geräumt und ist bis heute als Ruinenstätte inmitten Haifas zu erkennen. Hinter diesem bekannten Teil der Geschichte verbirgt sich ein weiterer, bis heute eher verdrängter Teil: der Umstand, dass Wadi Salib bis zum Jahr 1948 ein intaktes arabisches Wohnviertel gewesen war, aus dem dessen arabische Bewohner im Zuge des damaligen Krieges zwischen Arabern und Juden flüchteten oder vertrieben…mehr

Produktbeschreibung
In Wadi Salib, einem Stadtteil Haifas, kam es 1959 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den dort wohnhaften jüdisch-marokkanischen Einwanderern und den israelischen Behörden. Das Viertel wurde damals geräumt und ist bis heute als Ruinenstätte inmitten Haifas zu erkennen. Hinter diesem bekannten Teil der Geschichte verbirgt sich ein weiterer, bis heute eher verdrängter Teil: der Umstand, dass Wadi Salib bis zum Jahr 1948 ein intaktes arabisches Wohnviertel gewesen war, aus dem dessen arabische Bewohner im Zuge des damaligen Krieges zwischen Arabern und Juden flüchteten oder vertrieben wurden. Yfaat Weiss erzählt mehr als allein die Geschichte eines Stadtviertels und seiner Bewohner. Vielmehr handelt es sich um die Geschichte der Nationswerdung Israels, verbunden mit der Vertreibung und dem Transfer von Menschen im Kontext der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
Autorenporträt
Yfaat Weiss ist Professorin für jüdische Geschichte und leitet das Franz Rosenzweig Minerva Zentrum für deutschjüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Schlechte
Nachbarn
Wie Haifa mehr als einmal zum Schauplatz
von Vertreibungen wurde:
Yfaat Weiss’ bewegende Stadtgeschichte
VON CLAUS LEGGEWIE
Im Juni 2001 durfte ich im Rahmen einer Vorlesungsreihe am Bucerius Centre der Universität Haifa über Multikulturalität sprechen. Die Studierenden und Doktoranden waren interessiert am kulturellen Pluralismus in Deutschland, das sie fast ohne Rekurs auf seine rassistische Vergangenheit als Schmelztiegel schätzten und als Pendant ihrer eigenen polyethnischen Gesellschaft betrachteten. Nach dem Vortrag saßen wir noch in einer Kneipe auf der Ben Gurion-Straße zusammen. Meine Gastgeber stellten Haifa, die drittgrößte Stadt des Landes, als Ort vor, an dem das Zusammenleben zwischen Juden und Arabern recht normal funktioniere, wo die andernorts überhandnehmende Frömmelei weniger ausgeprägt sei und am Sabbat das öffentliche Leben weitergehe.
  Haifa liegt an einer langgezogenen Bucht am Mittelmeer, vor den Hängen des Karmel-Gebirges, zur libanesischen und syrischen Grenze ist es nicht weit. Ursprünglich eine Residenz arabischer Beduinen, wurde Haifa im 19. Jahrhundert vornehmlich durch Zuwanderung von außen urbanisiert. Internationale Bedeutung erlangte die damals modernste Stadt Palästinas als Station der Hedschasbahn Richtung Medina. Unter britischer Verwaltung war sie Etappe einer Seemacht, die damals vom Mittelmeer bis nach Indien reichte. Hafen und Raffinerie nahmen Rohöl aus dem Irak auf, jüdische und arabische Arbeitsmigranten machten Haifa in den 1930er Jahren zu etwa gleichen Teilen zur Großstadt. Sie verband nicht nur Damaskus, Kairo und Beirut, sondern auch Asien und Afrika mit Europa.
  Der Abend in der Ben Gurion-Straße war vergnügt, unsere Gastgeber lebten spürbar gerne in dieser Stadt, die ihren Kindern mehr Sicherheit bot als umstrittenere Orte des Landes. Noch im Lauf dieser Nacht wurde diese Annahme in Frage gestellt, da ganz in der Nähe eine Nagelbombe explodierte, weitere Attentate folgten, mit glimpflichen Folgen. Im Libanon-Krieg 2006 schlugen die aus dem Iran gelieferten Raketen der Hisbollah ein, der Konflikt hatte sich internationalisiert und der Gedanke der Intifada ergriff die in Israel lebenden Araber.
  Im Gegenzug traten in Haifa jüdische Fundamentalisten auf, die kompromisslos auf der Absolutheit ihres Glaubens beharren und - darin den muslimischen Fanatikern gleich, die Jerusalem ganz für sich reklamieren - einen politisch-theologischen Anspruch auf das Heilige Land anmelden und Fremden jegliche Anerkennung verweigern. Beide Lager, so verfeindet sie auch sein mögen, bekämpfen dasselbe: eine multiethnische Levante.
  Dafür stand früher ein Stadtteil Haifas namens Wadi Salib, einst nur mehr ein Trümmerareal in der Unterstadt nahe dem Ostbahnhof. Yfaat Weiss, die Leiterin des Bucerius Centre, hat eine komplizierte, für Israel und Palästina typische, ja für die gesamt Mittelmeerregion exemplarische Konstellation rekonstruiert. Ihre Geschichte der „verdrängten Nachbarn“, die 2007 auf Hebräisch, wenig später auf Englisch und nun auch auf Deutsch erschienen ist, hat ihren dramatischen Angelpunkt im Juli 1959, als aus einem lächerlichen Kneipenstreit, in dessen Folge ein Mensch mit einer Polizeipistole erschossen wurde, ein regelrechter Aufstand wurde - kein Vorläufer der Intifada, sondern ein innerjüdischer Konflikt zwischen Mizrahim, armen Flüchtlingen aus Marokko, und Ashkenasim, „alteingesessenen“, in der Mehrzahl sozialdemokratischen europäischen Juden, von denen viele auf die Orientalen herabblickten.
  Jüdisch geworden war das Viertel am 21. April 1948, als die arabischen Einwohner so brutal enteignet und vertrieben wurden, dass Golda Meir an die Shoah erinnert war: „Ich konnte nicht anders, als mir vor Augen zu führen, dass das sicher das Bild in vielen jüdischen Städtchen gewesen ist.“
  Wadi Salib wurde zur Heimstatt für marokkanische Juden durch eine ethnische Säuberung, die sich – das ist der Clou des Buches – auf Kosten eben dieser Juden zweiter Klasse elf Jahre später wiederholen sollte. Auf der Grundlage von Dokumenten und mündlicher Geschichtsschreibung und mit exzellenter Ortskenntnis hat Weiss minutiös rekonstruiert, wie die Mizrahim 1959, in Folge ihres Aufbegehrens gegen eine segregierte und ungerechte israelische Gesellschaft, an den Stadtrand evakuiert wurden. Das heißt: Sie mussten in Erez Israel, dem Gelobten Land eine neue Vertreibungsepisode durchmachen, veranlasst von den Lenkern des Staates und der Stadt aus der Holocaust-Generation.
  Gettobildung und Gentrifizierung, das zeigt die globale Stadtgeschichte, pflegt an imaginierten Volksgrenzen nicht haltzumachen. In der oftmals nach Äonen zählenden jüdischen Geschichte begann 1948 die Umkehr von 1900 Jahren mediterraner Diaspora durch die Restitution im mythisch gewordenen Herkunftsland. Doch die Fiktion ethnischer Homogenität, unterstützt durch ein exklusives, sich auf die Abstammung von einer jüdischen Mutter berufendes Staatsangehörigkeitsrecht, wurde in Wadi Salib exemplarisch aufgedeckt. Dort zeigte sich, dass Israel eben nicht allein wegen seiner arabischen Bevölkerung eine multikulturelle Gesellschaft contre coeur ist, was sich ironischerweise in ihrem hochgradig zersplitterten Parteien(un)wesen spiegelt.
  Yfaat Weiss’ Fallstudie über Haifas enteignete Erinnerung ist eine exzellente, spannend geschriebene interdisziplinäre Arbeit, die die Subgeschichte des „Nahostkonfliktes“ ans Licht hebt und zudem eine historische Soziologie der Urbanität präsentiert, die eines Tages zur Lösung des Konfliktes beitragen könnte. Haifa erlebte seine (sicher nicht problemfreie) Glanzzeit, als die Stadt offen und das Fremde in ihr eine Normalität war. Das zionistische Besiedlungsprogramm, genau wie der sich an die Scholle krallende Gegenentwurf arabischer Kollektividentität und die Paradies-Besessenheit religiöser Eiferer waren und sind anti-urbane Apartheid-Programme.
  In Wadi Salib ist nach dem Verfall des Viertels ein Gerichtskomplex entstanden, um den herum Rechtsanwaltskanzleien und Buchhaltungsbüros Grundstücke erwerben und die orientalischen Reste hübsch herausputzen. Wohnen mag hier aber niemand mehr. Als vor einigen Monaten junge Israelis auch in Haifa eine Zeltstadt errichteten, um gegen Wohnungsnot und steigende Preise zu protestieren, wurde an den Aufstand von 1959 als Mutter der Sozialproteste in Israel erinnert. Weiss hat dazu beigetragen, dass eine enteignete Erinnerung wieder angeeignet wird.
  
Yfaat Weiss: Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib. Haifas enteignete Erinnerung. Deutsch von Barbara Linner. Hamburger Edition, Hamburg 2012. 286 Seiten, 25 Euro.
Ein lächerlicher Kneipenstreit
im Juli 1959 führte zu
einem blutigen Aufstand
Die Fundamentalisten aller
Seiten betreiben anti-urbane
Apartheid-Programme
Ein Markt am Strand von Haifa. Lange hieß es, fundamentalistische Bestrebungen würden die Stadt nicht heimsuchen.
FOTO: DUBY TAL/ALBATROSS/OKAPIA
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mutig findet Joseph Croitoru dieses Buch der aus Haifa stammenden Historikerin Yfaat Weiss. Israelische Stadtgeschichte scheint dem Rezensenten ein heikles Thema zu sein. Als eine der ersten ihrer Zunft versucht Weiss, und wie der Rezensent findet: auf spannende Weise, die Geschichte des einstigen arabischen Wohnviertels Wadi Salib in Haifa genau zu rekonstruieren. Croitoru liest von sozialer Not und Zwangsumsiedlungen und lernt, dass die Geschichte des Stadtteils weniger mit ethnischen, als mit politischen und sozialen Problemen zu tun hat, und dass diese eine lange Vorgeschichte haben. Auf solche Kontinuitäten in einer an Brüchen reichen Stadtgeschichte hinzuweisen und zugleich die kulturelle Vielschichtigkeit des Viertels deutlich zu machen, scheint ihm kein kleines Verdienst zu sein.

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