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Einzigartiges literarisches und zeithistorisches Dokument Wahrscheinlich ertrage ich all das, was ich täglich sehen, hören und leiden muss, nur deshalb, weil ich gar nicht richtig glauben kann, was hier vor sich geht. Ich glaube es nicht, weil Menschen solche Dinge doch eigentlich nicht fertigbringen."
Am Morgen des 20. Oktober 1944 muss der sechzigjährige Erno Szép den Marsch in ein Arbeitslager nahe Budapest antreten. Seine Beobachtungen und Erlebnisse in den folgenden 19 Tagen hält er in dem vordergründig leichten, eleganten und damit umso verstörenderen Ton des Feuilletonisten fest.
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Produktbeschreibung
Einzigartiges literarisches und zeithistorisches Dokument
Wahrscheinlich ertrage ich all das, was ich täglich sehen, hören und leiden muss, nur deshalb, weil ich gar nicht richtig glauben kann, was hier vor sich geht. Ich glaube es nicht, weil Menschen solche Dinge doch eigentlich nicht fertigbringen."

Am Morgen des 20. Oktober 1944 muss der sechzigjährige Erno Szép den Marsch in ein Arbeitslager nahe Budapest antreten. Seine Beobachtungen und Erlebnisse in den folgenden 19 Tagen hält er in dem vordergründig leichten, eleganten und damit umso verstörenderen Ton des Feuilletonisten fest. Ungläubigkeit spricht aus seinen Zeilen, mit ironischer Distanz versucht er den alltäglichen Demütigungen zu begegnen, um seine menschliche Würde zu bewahren.

Mit einem Nachwort von Prof. Paul Lendvai und Anmerkungen von Ernö Zeltner.
Autorenporträt
Erno Zeltner, geboren 1935 im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet, zweisprachig aufgewachsen, studierte zwischen 1953 und 1956 in Budapest Ungarische und Deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft. 1956 Flucht nach Wien. Übersetzer von Sándor Márai, Miklós Vámos, Pál Závada u.a. 2010 wird Erno Zeltner für seine Verdienste um die ungarische Literatur mit der "Pro Cultura Hungariae"-Medaille geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014

Für die ist alles von mir staatsfeindlich

Der Schriftsteller Ernö Szép überlebte als ungarischer Jude die Schoa. In "Zerbrochene Welt" erzählt er davon.

Von Terézia Mora

Aufstehen, bitte sogleich aufstehen!" Der Hauskommandant des Sternhauses in der Pozsonyi-Straße in Budapest ist ein feiner Mann, sein Stellvertreter, ein Baron, ebenfalls, sie wecken die jüdischen Bewohner höflich und kümmern sich auch später um sie, holen ihnen, während sie in Reih und Glied in der Toreinfahrt auf den Abmarsch ins Arbeitslager warten, vergessene Medikamente und Zigaretten aus den Etagen. Unter den Männern, die am 20. Oktober 1944 erst in Vierer-, später in Dreierreihen stundenlang auf die Anweisungen der Pfeilkreuzler warten: der Schriftsteller Ernö Szép.

Szép wurde 1884 als Sohn eines Lehrers in einer assimilierten jüdischen Familie in Huszt, damals Ungarn, heute Ukraine geboren. Die Juden in Ungarn waren, wie der Publizist Paul Lendvai im Nachwort zu Zerbrochene Welt" anmerkt, dem Anschein nach erfolgreich integriert. Sie stellten "fast die Hälfte der Ärzte und Anwälte, über 40% der Journalisten, ein Drittel der Ingenieure und ein Viertel der Künstler und Schriftsteller". Die meisten hätten auf die Frage, als was sie sich fühlten, einfach "ein Ungar" geantwortet. Nicht nur, um für öffentliche Posten geeignet zu sein, sondern aus Patriotismus tauschten viele ihre deutsch klingenden Namen gegen ungarische. Sie hießen nun nicht mehr Schön, Stern, Glatter oder Österreicher, sondern Szép, Szerb, Radnóti oder Örkény. Um nur vier von 800 000 zu nennen.

Diese vier sind nicht zufällig gewählt. Es handelt sich dabei um Schriftsteller, deren Namen und Werke auch im deutschen Sprachraum bekannt sind. Außerdem verbindet sie, dass sie alle vier, Ernö Szép, Antal Szerb, Miklós Radnóti und István Örkény, zur gleichen Zeit, aber an verschiedenen Orten beim jüdischen Arbeitsdienst waren. Zwei haben überlebt.

István Örkénys Erinnerungen an diese Zeit sind unter dem Titel "Das Lagervolk" 2010 bei Suhrkamp erschienen. Nun bringt dtv Ernö Széps Erinnerungen heraus. Dass er erst im Herbst 1944 abgeholt wurde, zeigt, dass die ungarischen Juden auch während des Zweiten Weltkriegs noch relativ lange in "Sicherheit" oder zumindest am Leben waren. Erst mit dem Einzug der Deutschen am 19. März 1944 änderte sich das radikal, und die Verschleppung und Tötung fand mit einer umso größeren Heftigkeit und Effektivität statt. Vom Einmarsch bis zum Ende des Krieges, innerhalb von vierzehn Monaten, fanden zwei Drittel der ungarischen Juden den Tod. 560 000 Personen.

Széps Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind auf Ungarisch das erste Mal 1947 unter dem Titel "Emberszag" (etwa: "Menschengeruch") erschienen, auf Deutsch nun unter dem Titel "Zerbrochene Welt". Ein eigentlich zu pathetischer Titel für einen Szép, denn diese Aufzeichnungen sind, im Lichte der oben nur ungenügend mit ein paar Zahlen skizzierten Massenvernichtung, mit fast verstörender Leichtigkeit verfasst. Seine große Zeit hatte er in den zwanziger und dreißiger Jahren, als er zu den populärsten Autoren des Landes gehörte. Auch "Zerbrochene Welt" ist, trotz seines Sujets, elegante Prosa, insbesondere im ersten Kapitel, übertitelt mit "Das Haus in der Pozsonyi-Straße", das das Leben in dem "Sternhaus" beschreibt, in das er nach dem Einzug der Deutschen mit den Geschwistern umziehen musste.

Auch im "Judenhaus" bemühte sich Szép, soweit es ging, seine gewohnte Lebensweise aufrechtzuerhalten, indem er sein Pianino mitnahm (auf dem dann allerdings niemand mehr spielen mochte) oder weiterhin regelmäßig seine Teatime einhielt. Allerdings vermied er, das Haus zu verlassen, da es ihn zu sehr demütigte, mit dem gelben Stern auf der Brust gesehen und - als Prominenter - eventuell sogar erkannt zu werden. Statt dessen nahmen seine Schwestern diese Gänge auf sich, um den Tee und die überteuerte Butter für das Butterbrot zu besorgen. Immer weniger davon. Es sind alle schon sehr dünn geworden. Und dann nahm er diesen Tee im Dunkeln tastend zu sich, denn zum einen herrschte Verdunkelung, zum anderen versuchten in der Wohnung zwölf andere Personen zu schlafen. Neben Széps Geschwistern auch noch die Mitglieder zweier anderer Familien. Normalerweise hätte er um diese Zeit noch gelesen oder geschrieben, beides ging nun aus Mangel an Licht nicht, aber er traute sich sowieso nicht zu schreiben. "Egal, was ich schreibe, für sie ist es staatsfeindlich." Seine englischsprachigen Bücher verbrannte er, als er hörte, man könne für ihren Besitz verhaftet werden.

Einige von Széps Äußerungen muten aus siebzig Jahren Entfernung befremdlich und dünkelhaft an. Natürlich, schreibt er, finden auch im Sternhaus (und später im Lager) die zueinander, die gleichen Standes sind. Er erwähnt die anderen Herren mit Namen (Wie oft das Wort "Herr" in dem Buch vorkommt! Sehr oft) oder, wenn er die Erlaubnis dazu später nicht beschaffen konnte, zumindest mit Titel und Anfangsbuchstaben des Nachnamens. Der Herr Direktor T., der Herr Gerichtsnotar Bakonyi, der Herr Doktor Soundso. Leidensgenossen aus den einfachen Schichten bleiben hingegen namens-, gesichts- und körperlos. Szép fühlt offenbar weniger das Judentum bedroht als eine gewisse Lebensweise, die des kultivierten Bürgertums, und er wird, was das anbelangt, auch recht behalten. Die Nazis haben dem jungen Bürgertum in Ungarn den Boden unter den Füßen entzogen, den Rest haben die ihnen nachfolgenden Kommunisten erledigt. Heute leben wir, was das anbelangt, immer noch in Ruinen, beziehungsweise sind ziemlich am Anfang einer neuen bürgerlichen Entwicklung.

Interessant und heikel in diesem Zusammenhang ist, dass viele von Széps Landleuten bis heute an der Meinung festhalten, die auch er selbst in seinen Aufzeichnungen gern betont: dass das, was da gerade geschehe/geschehen ist, gar nicht das wahre Ungarn wäre. Alles Üble komme von den Deutschen, die Ungarn als solche wären nicht so radikal ihren Juden gegenüber. Tatsache ist, dass die Deportation der Juden in die Todeslager erst mit der deutschen Machtübernahme begann. Tatsache ist allerdings auch, dass es die Zwangsarbeit schon vorher gab und dass es ungarische Pfeilkreuzler, Polizisten und Militärs waren, die Szép und seine Leidensgenossen in die Lager und Waggons trieben, unterstützt von den ungarischen Ämtern und Verwaltungen.

Szép, das bedeutet "schön", und Ernö Szép scheint besonders sorgfältig darin zu sein, immer auch das Schöne zu erwähnen, wenn sich mal einer, Polizist, Militärangehöriger oder Zivilist, kulant verhält. Von Pfeilkreuzlern allerdings weiß er das in keinem einzigen Fall zu berichten. Der sechzigjährige Szép ist ganz konsterniert, wie es sein kann, dass siebzehnjährige Pfeilkreuzler-Bürschchen ehrenhafte und angesehene Herren, wie er selbst einer ist, nun herumkommandieren (und effektiv mit dem Tod bedrohen, aber das betont Szép nicht). Was ist aus dem Respekt Älteren gegenüber geworden? Man hört, es werden sogar Frauen interniert!

Széps Gruppe ist abkommandiert, um mit Spaten und Schaufeln Panzerfallen auszuheben. Viele der Gefangenen haben im Ersten Weltkrieg gedient und können sich ausrechnen, dass die Gräben, die sie da graben, zu diesem Zweck untauglich sind, dennoch klammern sie sich recht lange an die Vorstellung, die Arbeit hätte vielleicht noch einen anderen Zweck, als die Juden zu Tode zu schinden. Es entsteht sogar die absurde Situation, dass sie, als den Bewachern das Wetter zu schlecht wird, auch ohne Bewachung weiterarbeiten.

Gewiss war Szép der Absurdität gegenüber nicht blind, alles in allem bleibt er dennoch bis zum Schluss seiner vornehmen Zurückhaltung treu: Er erwähnt gerade mal so viel, wie er muss, wird kaum einmal larmoyant, und dann auch nur - und das ist wieder bezeichnend -, als er so gar nicht verstehen kann, dass auch Künstler den gelben Stern tragen müssen. Sogar Künstler! (Ob er das ironisch meint? Ich fürchte: nein.)

Nach drei Wochen kam Szép dank seines schwedischen Schutzbriefes aus dem Lager frei. Freilich hätte er da schon gestorben sein können. Gleich am ersten Tag durch Erschießen oder später an Erschöpfung, an den Folgen einer unbehandelten Krankheit. Szép hat mehr Glück als so manch anderer, Glück auch, sich die ganze Zeit das bewahren zu können, was ihm das wichtigste war: seine Haltung. Er verroht nicht, er verbittert nicht, er verzweifelt nicht, er bleibt inmitten der Barbarei so fein, wie er es eben seinem Wesen nach ist. Ein wenig Ironie erlaubt er sich manchmal, etwas feinen Humor.

Seine konsequente Haltung, nicht alles wissen und nicht alles sagen zu wollen, ist nachvollziehbar, dennoch erzeugt sie, besonders am Ende der Aufzeichnungen, eine Irritation. Die Aufzeichnungen enden mit seiner Entlassung aus dem Lager am 9. November 1944 (die Zugfahrt zurück nach Budapest mussten die Gefangenen, denen man alle Wertsachen abgenommen hatte, selbst bezahlen; auch so eine Absurdität). "Was ab dem nächsten Tag mit mir, mit uns allen geschah, berichte ich nicht mehr", schreibt Szép. "Ich meine, dies zu beschreiben und zu glauben verbietet sich."

Ich meine das nicht. Hier, was ich weiß. Genau am nächsten Tag, dem 10. November, wurde Miklós Radnóti bei Abda erschossen. Das ist sechzig Kilometer von dem Ort entfernt, in dem ich aufwuchs. Am 27. Januar 1945 wurde Antal Szerb in Balf erschlagen. Das sind zehn Kilometer. Zuvor war er in Fertorákos interniert gewesen. Hundert Meter. (Zu persönlich? Tut mir leid.) István Örkény geriet am Don in russische Gefangenschaft und kehrte 1946 nach Ungarn zurück. Er etablierte sich, anders als Szép, auch im neuen Ungarn. Szép, der sein Leben behalten, aber sein Milieu verloren hatte, starb 1953 in dem kommunistischen Land, das er ebenso kaum verstehen mochte wie das, was er während der Naziherrschaft erlebt hatte. Von seinen Werken haben die Gedichte und sein Roman "Lila ákác" (auf Deutsch: "Lila Akazien") bis heute überdauert.

Ernö Szép: "Zerbrochene Welt". Drei Wochen 1944.

Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014. 240 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die hier rezensierende Schriftstellerin Terezia Mora liest die Aufzeichnungen des ungarischen Schriftstellers Erno Szep mit gemischten Gefühlen. Einerseits bewundert sie die elegante Leichtigkeit, mit der Szep berichtet, wie er als Jude die Schoa überlebte, andererseits irritiert sie so manche Äußerung des Autors, etwa, wenn er selbst im Lager Standesdünkel erkennen lässt und um sein kultiviertes Bürgertum fürchtet. Szeps Ausblendung ungarischer Kollaboration und Zwangsarbeit und das Übertragen allen Übels auf die Deutschen, hält Mora gleichfalls für fragwürdig. Besonders gegen Ende der Lektüre gerät Mora in Rage, wenn Szep seine Aufzeichnungen mit seiner Entlassung November '44 enden lässt. Die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende, beharrt die Rezensentin, und illustriert das mit dem tragischen Schicksal anderer, ihr bekannter ungarischer Juden.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Mit ironischer Distanz begegnete er den alltäglichen Demütigungen, um seine Würde zu bewahren."
Neues Deutschland 14.01.2016