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Die Kollaboration mit deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg ist ein bis heute brisantes Problem, das weit über die Wissenschaft hinaus höchste politische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Für West- und Mitteleuropa gut erforscht, liegen zuverlässige Ergebnisse zu den 1941-1944 deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion erst seit der Öffnung der dortigen Archive vor. Um so größeres Interesse darf das neue Buch Ruth Bettina Birns beanspruchen. Die exzellente Kennerin des Terrorregimes der Höheren SS- und Polizeiführer im Osten präsentiert und analysiert erstmals einen auf den Originalquellen…mehr

Produktbeschreibung
Die Kollaboration mit deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg ist ein bis heute brisantes Problem, das weit über die Wissenschaft hinaus höchste politische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Für West- und Mitteleuropa gut erforscht, liegen zuverlässige Ergebnisse zu den 1941-1944 deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion erst seit der Öffnung der dortigen Archive vor. Um so größeres Interesse darf das neue Buch Ruth Bettina Birns beanspruchen. Die exzellente Kennerin des Terrorregimes der Höheren SS- und Polizeiführer im Osten präsentiert und analysiert erstmals einen auf den Originalquellen basierenden, ganz außergewöhnlichen Fall von Kollaboration, bei dem einheimische, nichtdeutsche Kollaborateure im Kernbereich der deutschen Herrschaftsausübung selbst aktiv waren. Es handelt sich um die Dienststelle des 'Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD Estland' in Reval. Reval (Tallinn) war Ende August 1941 von der Wehrmacht erobert worden. Ihr auf dem Fuße folgte der SS- und Polizeiapparat. Die sogleich errichtete Dienststelle des KdS Estland war durchgängig in einen deutschen und einen estnischen Teil gegliedert. Zwar dominierte wie bei der Zivilverwaltung des Generalkommissariats Estland der deutsche Part, doch ohne die über das ganze Land verteilten, in den deutschen Apparat inkorporierten estnischen Sipo-Dienststellen wäre die Praxis von Unterdrückung und Verfolgung tatsächlicher und angenommener Gegner des Besatzungsregimes eine weit weniger effektive gewesen. Die Autorin kann sich auf eine ungewöhnliche Dichte von Quellen stützen. Neben etwa 5.000 von deutschen und estnischen Sicherheitspolizisten gemeinsam bearbeiteten Fallakten im Staatsarchiv Tallinn hat sie weitere Quellen in Deutschland, Moskau, Riga, Vilnius, Washington und Jerusalem ausgewertet. Auf dieser Basis zeichnet sie ein präzises Bild der Struktur und Machtmittel des Repressionsapparates in Estland. Den Schwerpunkt des Buches bildet die Strafpraxis gegen Kommunisten, Juden, 'Zigeuner', Kriminelle und 'Asoziale', Russen und sowjetische Kriegsgefangene. Die Deutschen wie Esten gemeinsamen Feindbilder werden ebenso beleuchtet wie das Verhältnis der deutschen und estnischen Angehörigen der Sicherheitspolizei zueinander. Das Schlusskapitel lenkt den Blick auf den juristischen und vergangenheitspolitischen Umgang mit dem Thema nach 1945. Eine Pionierstudie ersten Ranges!
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2006

Rasche Folge
Kollaboration in Estland

Unter den Gletschern des Kalten Krieges lag vieles begraben, unter anderem auch einige Aktenbündel aus dem deutsch besetzten Estland. Es handelte sich um brisantes Material, kaum einer wußte davon: Deutsche und Esten, die im Dienst der deutschen Sicherheitspolizei und des SD gestanden waren, hatten akribisch Buch geführt über das, was sie in den Jahren 1941 bis 1944 taten. Ruth Bettina Birn hat diese Hinterlassenschaft im Staatsarchiv Tallinn aufgespürt. Auf ihrer Grundlage entwirft sie ein Bild der deutschen Besatzungsherrschaft "im Osten", das in seiner Präzision und seinem Detailreichtum seinesgleichen sucht. Auch in Estland, das in der rassistischen Hierarchie der deutschen Okkupanten doch einen hohen Platz einnahm, errichteten diese ein Schreckensregiment, auch hier waren es ganze Gruppen, die ihrem Rassenwahn und ihrer Intoleranz zum Opfer fielen: Juden, Kommunisten, Zigeuner, Kriegsgefangene oder jene, die man als "Asoziale" diskriminierte. Diese unbekannten Opfer erhalten nun wieder einen Namen und eine Biographie, aus "Fällen" werden Schicksale. Nicht allein dieser unverstellte Blick in den Mikrokosmos des deutschen Besatzungsalltags ist neu. Unbekannt war auch das Ausmaß der estnischen Kollaboration. Denn die Geschichte Estlands, dessen Unabhängigkeit erst 1918 begann, ist schwierig. Der Zweite Weltkrieg wurde für die kleine baltische Republik zu einem politischen Wechselbad: sowjetische (1940), deutsche (1941) und wiederum sowjetische Besatzung (1944) lösten sich in rascher Folge ab. Die Vernichtungskraft dieser totalitären Regime war groß, schon weil es ihnen gelang, vor Ort viele Kräfte zu entfesseln.

Das neue Estland trägt schwer an seiner Vergangenheit; auch das thematisiert die Autorin in ihrem klugen Fazit. Doch hat sie mehr vorgelegt als nur eine weitere Regionalstudie der deutschen Besatzungsherrschaft in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das Prinzip der Kollaboration, das erschreckend reibungslose Zusammenspiel zwischen einer fremden Besatzungsmacht und einer einheimischen Verwaltung, wurde nur selten in dieser Eindringlichkeit beschrieben.

CHRISTIAN HARTMANN

Ruth Bettina Birn: Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 286 S., 34,90 [Euro].

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