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Von der Kritik immer erhofft, von den Schriftstellern aber nie geschrieben - der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik -, hier ist er. Und vermutlich war niemand so geeignet, ihn zu schreiben, wie Fritz J. Raddatz. In Deutschland ist er der widersprüchlichste Intellektuelle seiner Generation: anziehend durch seinen Witz, distanzierend durch seinen Eigensinn, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten. Fritz J. Raddatz` Tagebücher sind Ausdruck eines Hochempfindsamen. Seine Lesung macht all diese feinen Nuancen in einer Auswahl der eindrucksvollsten Beiträge hörbar.
(2 CDs, Laufzeit: 2h 35)
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Produktbeschreibung
Von der Kritik immer erhofft, von den Schriftstellern aber nie geschrieben - der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik -, hier ist er. Und vermutlich war niemand so geeignet, ihn zu schreiben, wie Fritz J. Raddatz. In Deutschland ist er der widersprüchlichste Intellektuelle seiner Generation: anziehend durch seinen Witz, distanzierend durch seinen Eigensinn, geistreich, gebildet, streitbar und umstritten.
Fritz J. Raddatz` Tagebücher sind Ausdruck eines Hochempfindsamen. Seine Lesung macht all diese feinen Nuancen in einer Auswahl der eindrucksvollsten Beiträge hörbar.

(2 CDs, Laufzeit: 2h 35)

Autorenporträt
Fritz J. Raddatz, geb. 1931 in Berlin, gestorben 2015. 1960-69 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags, 1977-85 Feuilletonchef der Zeit, von 1969- 2011 Vorsitzender der Kurt-Tucholsky- Stiftung. 2010 wurde er mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik geehrt.
Trackliste
CD 1
11982 ("Tagebücher 1982-2001")00:03:54
21983 ("Tagebücher 1982-2001")00:08:50
31984 ("Tagebücher 1982-2001")00:09:56
41985 ("Tagebücher 1982-2001")00:13:29
51986 ("Tagebücher 1982-2001")00:11:19
61987 ("Tagebücher 1982-2001")00:08:32
71988 ("Tagebücher 1982-2001")00:15:36
81989 ("Tagebücher 1982-2001")00:06:40
CD 2
11990 ("Tagebücher 1982-2001")00:12:42
21991 ("Tagebücher 1982-2001")00:02:56
31992 ("Tagebücher 1982-2001")00:07:39
41993 ("Tagebücher 1982-2001")00:08:29
51994 ("Tagebücher 1982-2001")00:06:01
61995 ("Tagebücher 1982-2001")00:05:55
71996 ("Tagebücher 1982-2001")00:00:57
81997 ("Tagebücher 1982-2001")00:01:58
91998 ("Tagebücher 1982-2001")00:01:15
101999 ("Tagebücher 1982-2001")00:14:53
112000 ("Tagebücher 1982-2001")00:03:34
122001 ("Tagebücher 1982-2001")00:10:52
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2010

Das vierte Programm
Die Tagebücher der Jahre 1982-2001 von Fritz J. Raddatz
sind ein Gespensterroman der alten Bundesrepublik
Das wichtigste Requisit ist das private Adressbuch. Immer wieder findet es Erwähnung in den Tagebüchern des Feuilletonisten und Schriftstellers Fritz J. Raddatz aus den Jahren 1982 bis 2001. In diesem Adressbuch ist verzeichnet, wer welche Rolle spielt in der Endlos-Fortsetzungsserie „deutscher Kulturbetrieb“. Die Serie selbst bedient das Genre der Farce, als begnadeter Schaumschläger schreibt Raddatz: „Ich schwamm auf meiner eigenen Seifenoper“. Doch die Besetzung verändert sich nur in einer einzigen Hinsicht: Sie wird beständig kleiner. Von Jahr zu Jahr gilt es, wieder ein paar Namen und Telefonnummern zu streichen, und es ist nicht nur der biologische Tod, der die Reihen lichtet, sondern auch der soziale Tod. Wenn Raddatz sein Adressbuch durchsieht, nimmt er die Sense in die Hand; jeder Abtrünnige, dessen Name getilgt wird, ist für ihn gesellschaftlich gestorben.
Das Schwärzen der Namen gleicht der Unterschrift des Monarchen unter einem Todesurteil, es ist eine zutiefst autokratische Geste. Zunehmend nur noch symbolisch beschwört sie die Macht eines Feudalsystems herauf, als welches man sich das deutsche Kulturleben jener Jahre vorstellen muss. Es sind eine Handvoll Männer – Grass und Enzensberger, Rudolf Augstein und Rolf Hochhuth die wichtigsten –, welche die Deutungshoheit innehaben und wie Burgherrn die intellektuelle Landschaft unter sich aufteilen. Der Verlag bewirbt Raddatz’ Buch zutreffend als Gesellschaftsroman der Bundesrepublik, aber es ist der Roman einer geschlossenen, durch und durch inzestuösen Gesellschaft, die an ihrer Enge erstickt und doch glaubt, mit Deutschland identisch zu sein. Beklemmung und Klaustrophobie sind die vorherrschenden Gefühle bei der Lektüre.
Raddatz schildert eine Welt, die an eine Vorhölle erinnert und deren Insassen sich hingebungsvoll gegenseitig zerfleischen. Und er sieht nicht nur mit gellender Schärfe, wie sich eine Elite in eine beißwütige „Lemurenversammlung von has-beens “ verwandelt, er weiß auch genau warum, und bei diesem Warum fragt man sich, ob Dekadenz ein anderes Wort ist für innere Leere.
Immer wieder benutzt Raddatz die Spiegelmetapher, um seine Begegnungen mit den Protagonisten des kulturellen Lebens zu beschreiben: Keiner hört zu, keiner hat die Bücher oder die Artikel des anderen gelesen, alle reden nur von sich selbst, jeder sein eigener Lautsprecher und verbale Niagarafall, das Ganze „eine erstarrte Ich-Ich-Ich-Feier“. Im Grunde sind all diese Treffen karrieristisch motiviert, es geht darum, den eigenen Marktwert zu ermitteln und seinen Platz in der Hackordnung zu verteidigen. Es sind Distinktionskämpfe, und da wird selbst der Streit um das einzige Taxi zu einer Statusprobe. Mit dem Satz „Ich bin eine Berliner Institution!“, geht schließlich Otto Sander als Sieger vom Platz. Einmal wundert sich Raddatz: „Das ist schon ein seltsames Land, in dem selbst die experimentellen Dichter Landhäuser und die Avantgardisten Zweitwohnsitze haben“.
Natürlich ist Raddatz, der selbstverständlich davon ausgeht, dass ihm der Bundeskanzler zum 70. gratuliert, und der eine Rolle von Geldscheinen in der Hosentasche für die bessere Erektion hält, selbst das beste Beispiel für die Anmaßung, Geist und Geld auf sich zu vereinen. Hinter seiner Haltung „einer muss ja der Teuerste sein“ lauern aber auch immer die Panik und die Paranoia des Hochstaplers, der sein Auffliegen kommen sieht. Ein Dandy möchte er sein, subversiv und elegant, ein Luxusgeschöpf, aber links, „nicht einer dieser Stubenhocker-Literaten (und dennoch nicht dümmer als die), sondern Sport und Bordeaux und im offenen Porsche durch die Pyrenäen und Knaben und Frauen . . .“.
Je größer die innere Leere, desto wichtiger werden Äußerlichkeiten, um die Selbstzweifel niederzuringen. In den Tagebüchern spielen quantifizierbare Größen die tragenden Rollen, denn alles, die Höhe der Gagen, die Größe der Häuser, der Preis des Champagners ist ein Gradmesser und das Selbstwertgefühl eine permanente Rechenaufgabe, der Rest, der übrig bleibt, wenn man von den Einnahmen die Ausgaben abzieht. Und hinter allem die Ahnung, gehasst zu sein und abgelehnt, früher oder später kalt gestellt zu werden. „Ich bin das 4. Programm“ schreibt Raddatz über seine gefühlte Marginalisierung.
1985 wurde Fritz J. Raddatz, der neun Jahre lang Feuilletonchef der Zeit gewesen war, tatsächlich vom Thron gestoßen – seinen Sturz sah er schon zwei Jahre zuvor voraus. Das Datum ist zufällig, und doch ist Raddatz’ „beruflicher Herzinfarkt“, wie er das nennt, signifikant für das Ende einer Epoche, die so fremd erscheint wie das Pleistozän und deren Protagonisten uns so fern sind wie Dinosaurier. Vorbei sind nicht nur die Zeiten der ungebrochenen Laufbahnen, in denen man sein ganzes Berufsleben lang für einen einzigen Arbeitgeber tätig war und bis zur Rente unaufhaltsam höher stieg. Vergangenheit ist auch der Personenkult und die damit einhergehende Autoritätshörigkeit im gesellschaftlichen Diskurs. Unvorstellbar wäre es heute, dass einige wenige Stimmen in einer einzigen Zeitung die intellektuelle Öffentlichkeit monopolisieren könnten. Diese Öffentlichkeit war irgendwann tautologisch geworden, bestand nur noch aus Selbstzitaten, ein hypertrophes Soziotop, das umkippen musste – und sie war zu klein, um eine größer gewordene Welt noch fassen zu können.
In den achtziger Jahren fiel nicht nur die Mauer, es wurde auch das Privatfernsehen eingeführt, der Historikerstreit gab dem Feuilleton ein völlig neues Gesicht, und der junge Journalismus formiert sich in Organen wie Tempo . In den zwei Jahrzehnten, die Raddatz’ Tagebücher umfassen, sind viele Grenzen gefallen, zwischen Ländern und politischen Systemen, aber auch technologische, soziale und kulturelle Grenzen. All das zusammen nennt man Globalisierung, und sie ließ die einst große Welt des deutschen Feuilletons zu einer unbedeutenden Provinz schrumpfen. Mittlerweile hat es sich längst geöffnet, damals aber konnte Fritz J. Raddatz der Enge nur räumlich entfliehen, nach Paris und New York und immer wieder in seine Sylter Wohnung. CHRISTOPHER SCHMIDT
FRITZ J. RADDATZ: Tagebücher, Jahre 1982-2001. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 944 Seiten, 34,95 Euro.
Das deutsche Kulturleben:
„eine erstarrte Ich-Ich-Ich-Feier“
Das Ideal: Sport und Bordeaux
und Knaben und Frauen
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Der Mann ohne Mitte

Selten lasen sich fast tausend Seiten so spannend, so klug und so komisch - aber auch so traurig und so gnadenlos bösartig: Die Tagebücher des großen Kritikers, Lebemanns und selbsternannten Indiskretins Fritz J. Raddatz haben es in sich.

Von Elke Heidenreich

Fast tausend Seiten Tagebuch - rezensiert man nun einen Menschen oder ein Buch? Schwierig.

Die ersten Sätze, 1982: "Ein Tagebuch. Es schien mir immer eine indiskrete, voyeurhafte Angelegenheit, eine monologische auch - ich möchte nie ,hinterher, wenn die Gäste weg sind', aufschreiben, wie sich Augstein oder Biermann, Grass oder Wunderlich benommen haben."

Natürlich tut er genau das. Natürlich ist ein Tagebuch genau dafür da, nicht nur, aber auch. ("Hat es nicht etwas Unreinliches und Lächerliches zugleich, wenn ich nun hier sitze und den gestrigen Abend mit Günter Grass aufschreibe, während der seinerseits vermutlich zu ebendieser Stunde an seinem Schreibtisch sitzt, um ebendiesen Abend aufzuschreiben?") Auf Seite 821, am 1. Juni 2000, urteilt der Herausgeber dieser Zeitung, Frank Schirrmacher, schon über das, was er da vorweg auszugsweise gelesen hat: "Das ist der bundesdeutsche Gesellschaftsroman, der nie geschrieben wurde."

Ist er das? Ja und nein. Es ist eben kein Roman, es ist ein Tagebuch, sowohl ganz sicher geschönt und frisiert wie auch ganz sicher mit Lust boshaft austeilend. Fast dreißig Jahre deutscher Kultur- und Literaturbetrieb, aufgezeichnet von einem Mann, der Verleger, Feuilletonchef der "Zeit", Essayist, Romanautor war und ist und das alles in- und auswendig kennt wie kein Zweiter. Erfolgreich, angeschwärmt, verachtet, missachtet, nie genug gewürdigt, unzählige Male verletzt, als Homosexueller ausgegrenzt, als Literat nicht ernst genommen, als Freund enttäuscht. Schwankend zwischen tiefen Minderwertigkeitsgefühlen und arrogantem Hochmut - eine gefährlich explosive Mischung für alle, die da in die Nähe geraten.

Dennoch: Selten ließen sich fast tausend Seiten so rasch, so spannend, so klug, so komisch, so unfassbar traurig und so gnadenlos bösartig weglesen wie die dieses Tagebuchs. Aber Vorsicht, überall ist Gift ausgelegt, man erstickt daran. Das Gift der Überheblichkeit, der Missgunst, des bösen Klatsches. Fühlt man sich aber gerade elend, kommt wieder eine Passage von so umwerfender Komik, Eleganz und Scharfsichtigkeit, wie es eben nur FJR kann.

Ich weiß nicht, wer "die Mondäne" ist, die da durch sein Leben wirbelt, bis er ihr nach Jahrzehnten - wie irgendwann allen - die Freundschaft aufkündigt, weil sie eben nur noch eine "Geist-Ziege" ist: Zuvor schildert er ihr Flattern und Schnattern, ihr oberflächliches Nippen an Kunst, Leben, Essen, ihr Maserati-Tempo, ihr Geschrei, dieses "fliehende Pferd", das alles anknabbert und mitten im Satz schon weitergaloppiert zum nächsten Häppchen von was auch immer: "Vor Gier nach Genuß kommt sie nicht zum Genießen", und er erzählt das so wortsatt und prall, dass das allein schon ein Roman ist. "Die Mondäne" ist nun unsterblich. Wie auch Raddatz' Schwester, die unglückliche, umgetriebene "Schnecke", in deren Leben nichts klappt.

Rolf Hochhuth bekommt auch sein Denkmal, mit Schärfe und doch fast - ein Wunder bei Raddatz! - Geduld und Zuneigung. Nobel findet er seine politische Haltung und wacker, "und welch ein Unterschied zum Herrn Kohl, der sich im/beim Vatikan für ,einen gewissen deutschen Schriftsteller' entschuldigt" habe. Hochhuth, der umfassend gebildete, aber auch unerträglich verrückte, ständig redende - von sich redende - Mann, der anruft, sofort loslegt, ohne eine Frage nach dem Befinden, der in der Hotelhalle ohne Punkt und Komma plappert: "Hier gibt's keine Treppen ich verbiete mein Stück haben Sie schon mal ein Gebäude ohne Treppen gesehen die Schleef-Inscenierung ist eine Katastrophe neulich ist der Lift hier steckengeblieben haben Sie notiert (zur Concierge) daß das ZDF (es war der WDR!) die Rechnung übernimmt kennen Sie Salzburg . . . ich muß noch ein Fax mit Korrekturen nach Berlin durchgeben." Oder die Begegnung Susan Sontag - Rolf Hochhuth. Raddatz beschreibt sie so: "Er: Darf ich Ihnen meinen Namen buchstabieren? Sie: Aber ich habe einen ganzen Essay über Sie geschrieben."

Das ist einfach nur wunderbar, und viele der Urteile von Raddatz über Bücher, Stücke, Autoren sind es auch. Es gibt eine reiche Dosis Getratsche, ja, aber es gibt auch viel Einsicht in das, was er selbst den "Endlosfortsetzungsroman ,Verkommenheit des Kulturbetriebs'" nennt: wie jeder gegen jeden intrigiert, nur von sich spricht, andere fertigmacht, auf billigen Festchen böse Ränke schmiedet und wie gelogen wird, dass sich die Balken biegen.

Wir ahnten es ja, jetzt wissen wir es. Alle lügen medienwirksam und zur eigenen Gloriole. Eifersucht und Neid bis in den Tod: Hans Mayer durfte nicht bei Blochs Beerdigung reden, das tat Walter Jens, wurde daraufhin jahrelang von Mayer geschnitten. Auf Thomas Braschs Beerdigung der Verleger auf die mitfühlende Bemerkung, nun habe er aber einen großen Autor verloren: "Ich habe sooo viele wichtige Autoren." Und schmückt es Mayer, neben Brasch zu liegen, oder ist es eher umgekehrt? Überhaupt, Hans Mayer, einer der Lieblingsfeinde aus der ersten Reihe, der ihn mit einem "einstündigen Bedeutungs-Duschen-Telefonat" überfällt, ein nicht endendes Vergnügen, die Anekdoten über seine Eitelkeit zu lesen: "Hans Mayer hat Besuch. Er redet 2 Stunden ohne Unterlaß, wo er alles Vorträge gehalten und welche bedeutenden Leute er dabei getroffen hat. Nach längerem betäubtem Schweigen wird der Besucher gefragt: ,Und nun zu Ihnen - haben Sie mein neues Buch gelesen?'"

Beklemmend alles, was Raddatz zu Grass schreibt - die langjährige FeindFreundschaft, die langsam endet, obwohl der Grimmige nach dem Erhalt des Nobelpreises etwas milder wird. ("Nun die schön geschminkten Lügen mit neuer Krone: ,Ich habe nie auf den Nobelpreis gewartet', wiederholt er auf allen Sendern. Er wollte ihn immer.") Ansonsten: harsch, bärbeißig, egozentrisch, "das Ganze eine Mischung aus verschwiemelter Katholizität und Größenwahnrotz: ,Ich wünsche nicht, mit einem schlechten Gewissen zu leben - ich wünsche zu leben, wie ich will.'" Grass, der Sätze sagt wie: "Ich gebe nicht mehr, ich nehme nur noch"; Grass, der Raddatz nicht nach dessen neuem Artikel fragt, denn "da er nicht von Grass ist, ist er nicht". Und er beschreibt, wie dieser Mann kaum noch Freunde hat, wie fast alle Eingeladenen mit irgendwelchen Gründen zum sechzigsten Geburtstag absagen, aber er resümiert eben auch: " . . . was sie alle alles absagen würden, würde ein Preis winken, ein Auftrag. Sie können nicht mehr lieben, sie drehen sich um sich selber, können keine ,Gabe' mehr bringen, und sei die Gabe nur sie selber. Der Narzißmus ihrer Bücher ist Produkt einer Haltung, die in so was offenbar wird."

Bravo. Das sitzt. Klug auch die Beobachtung, dass es sich bei den überfüllten Lesungen nach dem Nobelpreis nicht mehr um Lust an Literatur handelt, sondern um "Heils- und Erlösungserwartung".

Neben fundierten Urteilen stehen indes immer auch giftige Schnellschüsse: Updike schreibt Unterhaltungsliteratur und ist damit ein "amerikanischer Walser"; Karasek ist "scheußlich"; Rühmkorf nimmt alles übel; vom "Fernsehansager Wickert" bleibt nichts, wenn man die Scheinwerfer abzieht. Nur weil er mal in Paris war, erklärt er anderen Leute, was Käse ist. Adolf Muschg ("Wie kann jemand seinen Sohn 1933 Adolf nennen? Wieso hat er nicht einen anderen Namen angenommen?") schreibt flach und nett, "ordentlich gebaute Sätze schmoren auf der Flamme der kleinen Phantasie". Peter Handke sieht einen an "wie ein ekelhaftes Insekt - man schämt sich, geboren zu sein". Was Gregor von Rezzori schrieb, war nicht als Literatur einzuordnen, sondern gehörte "eher in die Sparte Herrenoberbekleidung". Der "verdreckte und verschwitzte" Harry Rowohlt, "von Beruf Erbe", "der sich in seinem Clochard-Outfit originell vorkommt und in seinem Grobianismus witzig", trinkt doch immerhin "in 4 Minuten 7 Bier". Henri Nannen, "grob, laut, kunstunsinnig", verstand wohl auch nichts von Bildern. Siegfried Lenz hat "Cockerspanielaugen", Bucerius "weder Manieren noch Geschmack, nur Geld". Ein Stück von Botho Strauß ist "ein raffiniert angerichtetes Nichts, ein Soufflé der Pointen". Biermann attestiert er eine "säuglingshafte Egoismushaltung", als der ihm nach einem Streit ein persönliches Versöhnungsgedicht schickt und sofort bittet, das möge er doch in der "Zeit" abdrucken. Reich-Ranicki, diese "Verona Feldbusch der deutschen Literaturkritik", ist "nun vollends grauslich", Enzensberger ein "Scharlatan", ein "Nurejew der Literatur", Gaus "kann reden, aber er ist kein Herr", "und als der Herr Botschafter immer machtloser wurde (weil Helmut Schmidt an ihm vorbeiregierte), verbösartigte er sich stündlich". Der "gräßliche" Schmidt übrigens: "Spießer" und "vollmundige(r) Banause". Rowohlt-Naumann (immer nur in dieser Bezeichnung) ist "eben ein Journalist", Dürrenmatt war "etwas dumm" und der "geizig-bedürfnislose" Süskind "schlurft in Tennisschuhen durch die Welt", seine Habe in Plastiktüten.

Aber - Schlimmste von allen, Feindbild Nr. 1 neben der "dicken, geradezu viereckig gewordenen Kröte Augstein", diesem "neureichen Niemand": "die dumme Herrenreiterin", "die Kuh", "die Inge Meysel des Journalismus", "die dusselige Gräfin", "die ganz verlogene Dönhoff", bei der man "Rote Grütze aus Suppentassen" essen musste. Ach, hin ging man dann aber doch, obwohl man sie so hasste.

So in die Vollen hat noch keiner gegriffen. Er sei kein "Indiskretin"? Doch, er ist einer. Und ein Lügner, wer dergleichen - außer er kommt selbst drin vor! - nicht mit frohem Gruseln läse.

Raddatz ist scharf, aber am gnadenlosesten ist er mit sich selbst. Immer wieder versichert er sich durchaus mit Selbstbewusstsein, dass er gut ist, klug, erfolgreich, wichtig ist, etwas bewegt, geschrieben, geleistet, Autoren entdeckt, verlegt, gefördert hat: "Manchmal habe ich wirklich den Eindruck, daß man IN der Zeitung einfach nicht weiß, was und wer ich bin." Und doch immer wieder dies: 1987, 1. Januar, der erste Eintrag lautet: "Was mache ich falsch?" Er sucht nach Antworten: "Alle retteten sich ja vor mir. Es ist irgendeine ,Über'-Spannung in mir oder an mir." "Was ist es nun, was mich so furchtbar verhaßt macht? Es kann ja wohl nicht die ewig vorgehaltene Automarke, die Hemden aus England oder die Bilder an den Wänden die eine Ursache sein? Ist sogar dieser Mechanismus, der mich Fehler begehen läßt, eine Art ,Todestrieb'? Und ist die Ursache für den Haß vielgefächert? Homosexuell, jüdisch-schnell, zu sehr und zu oft Überlegenheit vorführend?"

Er notiert eine Beurteilung des "gedunsen-trunkenen" Werner Höfer: "Ich sei so irritierend begabt, so hochgezüchtet dandyhaft, daß sich neben mir jeder als Zwerg, als grob und laut und vulgär, als Mensch mit falschen Gläsern, aus denen er den falschen Wein trinkt, und in falschen Anzügen vorkäme; ,derlei macht nicht beliebt', war sein Fazit." Emile M. Cioran, der ewig Unglückliche, sagt es ihm später augenzwinkernd in Paris: "Man dürfe nie Erfolg zeigen, Zufriedenheit, nie sagen, es gehe einem gut; man müsse vielmehr stets den Eindruck erwecken: ,Der arme Cioran, er hat nichts zu beißen, und lange macht er's auch nicht mehr' - dann bliebe der beißwütige Neid aus."

Raddatz hingegen trumpft auf, schenkt kostbar, lädt gern ein, er ist wohl ein großzügiger, geschmackvoller Gastgeber, bemängelt aber im Tagebuch die mitgebrachten Blumen oder: "Als Gastgeschenk 2 Knoblauchzehen. Üppig", und rechnet hinterher auf, wie viele Flaschen Schampus ihn das nun wieder gekostet hat. Reichtum und Sammlerstolz auf wertvolle Antiquitäten und Bilder, ein luxuriöser Lebensstil mit Wohnungen in Hamburg, auf Sylt, in Nizza, Erste-Klasse-Reisen in Erste-Klasse-Hotels, geradezu lächerlich neben der Angst, im Alter arm und krank zu sein.

"Ich bin so müde, immer und allenthalben NUR für andere da zu sein - jeder will was, erwartet was, stellt sich unter das Geäst der deutschen Eiche." (Hoppla, Raddatz die deutsche Eiche?) "Ich würde so gern mal beschützt werden, spüren können, daß sich jemand UM MICH kümmert, besorgt ist. Kindliche Wünsche, die wohl auch zeigen, wie schwer es mir fällt, alt zu werden - ich erwarte noch immer, wie ein Kind, daß der Onkel oder die Tante, die zu Besuch kommen, eine Tafel Schokolade mitbringen."

Stattdessen geht er nach dem Mauerfall los und steckt jedem Trabi eine Tafel Schokolade an die Windschutzscheibe. Auch das: die Mischung aus Großzügigkeit, wirklicher Freude und kolonialem Größenwahn. Bei Raddatz hat nichts Maß. Aber: er weiß es. Er schreibt tatsächlich: "Ist das eine koloniale Geste, Glasperlen für die Neger?" Und damit hat er uns wieder. Wir können einfach sagen: ja, ist es. Und lachen.

Leitmotivisch ziehen sich durch die achtundzwanzig Jahre Tagebuch die Angst vorm Alter, vor der Armut (er hat nur 3 Tannen auf der Terrasse, Kempowski hat ein Grundstück mit 3000 Tannen! "Wie falsch muß ich investiert haben?") und: Angst vor der Einsamkeit. Großes Thema: der Kummer über das Nachlassen der Sexualität, dann wird schnell ganz grob geprotzt mit "Sex pur, aber voller Grazie" in einer Nacht mit Nurejew oder mit einer wilden "1-week-affair mit Ginsberg in New York", da werden Fickgeschichten mit eleganten (?) Schwänzen beschrieben, dass man das so eigentlich lieber nicht gelesen hätte - kurzum: der Mann schont sich, uns und alle um ihn herum nicht. Aber: immer ist er scharfer Beobachter von Lebenslügen, ob bei Augstein, Höfer oder jenem Großkritiker, dem es egal ist, dass ihn niemand liebt.

Raddatz muss die Wahrheit sagen und leidet dann am Echo. Immer ist seine politische Haltung bewundernswert gerade, seine Unverbiegbarkeit, sein klarer Blick auf Unrecht und politische Anpasserei, bei den Nazis wie in der DDR, bei Hans Mayer, Werner Höfer, Erich Kästner, Heinz Rühmann oder Hermann Kant. Und umso lächerlicher, einen Mann wie diesen wegen der Lappalie mit Goethe und dem Bahnhof - zu lächerlich, es hier noch mal nachzuerzählen - aus der "Zeit" zu werfen. Kleingeister machen einen, der ihnen haushoch überlegen ist, wegen einer dummen kleinen Unaufmerksamkeit fertig. Der rächt sich und leidet zugleich an dieser Rache und dem Echo darauf, dem Ausgestoßensein. Er schreibt von "meinen Mördern". Und: "Zu Ostern keinen EINZIGEN Gruß von irgendwem." Zum siebzigsten Geburtstag: "Hatte Sorgen, meine Vasen hier würden nicht reichen (die Hälfte blieb leer)."

Wo steht dieser Mann? Ist er glücklich oder unglücklich? Mittendrin oder am Rand? Umschwärmt oder gehasst? Wichtig oder marginal? "Der Mann ohne Mitte" nennt er sich selbst, der Mann, der soviel gelesen, geschrieben, bewegt hat und nie seine innere Balance gefunden hat. Eine Klofrau lobt ihn - er liebt sie dafür. Er giert nach Anerkennung, und eben weil er giert, versagt man sie ihm. Ob er "Pörschlein" fährt oder Jaguar, was er tut, ist falsch, weil er es als Attitüde tut. Man darf dergleichen in diesem Milieu nur, wenn es, Verzeihung, einem scheißegal ist, was andere darüber denken. Andere fahren auch Jaguar. Es bedarf keiner Rechtfertigung. Neid gibt's immer. Nebbich.

Ein unmäßiger Großer und zugleich unverhältnismäßig klein Verzagter hat hier ein Tausend-Seiten-Buch hingelegt, das es in sich hat. Es spart zwar von Gorbatschow bis Tschernobyl die Welt weitgehend aus (bis auf die Schilderung, wie er seine Wohnung schusssicher verbarrikadieren lässt, als der Osten sich öffnet, und einmal, fast unerträglich: "Derweil brennen Türken."). Aber die Verlogenheit des Literaturbetriebs, die Eitelkeit öffentlicher Primadonnen, die enttäuschend biedere Kulturlosigkeit ihrer Häuser und Wohnungen, das Getue auf den Partys, die Anbiederei, den Geiz, das alles hält Raddatz fest. Er macht sich lustig über seine eigenen edlen Möbel, Bilder, seine durchgestylte Butterdose, in der Diätmargarine ist. "Jetzt lebe ich in Suiten, fresse Austern, saufe Champagner, kaufe bei Yves Saint Laurent und bin ,berühmt'. Bin ich glücklicher?"

Es darf fast nicht wahr sein, dass ein so kluger Kopf derart Banales denkt. Seit wann macht dieser Krimskrams glücklich? Er weiß es doch. Glücklich macht nur die Arbeit, die gelingt, der Kopf, der richtig denkt. Und die Liebe, manchmal. Sehr trauert er über verlorene Lieben und ist uns da am nächsten.

Es ist zum Lachen und zum Weinen. Glänzende literarische Urteile mit sicherem Sachverstand und brillanter Formulierungskunst, die ihm keiner nachmacht, stehen neben kläglichsten Selbstzweifeln und giftigsten kleinen Stichen in unbedeutende Figuren.

Es steht Großartiges neben Banalem, Gejammer neben Lob und Analyse, er hat das strengste Augenmaß und verliert sich dann wieder in völliger Maßlosigkeit - nein, so jemanden kann man nicht leichten Herzens lieben. So jemand muss wissen, dass er immer umstritten sein wird, und muss - er wird nun achtzig! - damit eigentlich auch endlich leben können. Kann er aber nicht. Das einst ungeliebte Kind sucht immer noch. Das macht ihn bei allem, was gegen ihn spricht (ich vermeide das Wort Eitelkeit, die gehört zu jedem kreativen Prozess dazu), zu einer beeindruckenden Figur der Zeitgeschichte, die ihr eigenes Kunstwerk ist. Von der ersten Tagebucheintragung vor 28 Jahren bis zum Schluss schreibt er, wie müde und am Ende er ist, und er tobt doch durch sein Leben als eine wahre Energiebombe, "nicht in der Lage, Müßiggang zu ertragen".

Er beerdigt Brasch, Fichte, Rühmkorf, Augstein, Dönhoff, Mayer, Cioran, Mitscherlich, Brodkey, Updike. Ist immer noch da. Müde? Der nicht. Doch, vielleicht in seiner Seele, in seiner Einsamkeit, müde nach dem Verlust der großen Erfolge und der großen Lieben. Aber seine Müdigkeit ist wie der Pessimismus von Cioran: alles umsonst, aber ein Glas Wein wird man noch trinken dürfen. Das gilt selbst für den jährlichen Buchmessen-Cafard, und: "Daß wir uns nun immer alle noch nächtens oder spätestens am nächsten Morgen per Tagebuch aufspießen wie Schmetterlinge und unter dem Glas-Sturz bösartig-lauernder Eitelkeit fixieren - hat ja auch was Komisches."

Wolfgang Koeppen hat mal zum Thema Tagebuch geschrieben: "Das Tagebuch ist ein von Hiob begonnenes Gespräch, das der Autor mit sich führt oder mit Gott oder mit seiner Verzweiflung an Gott." In Tagebüchern, sagt Elias Canetti, spricht man zu sich selbst. "Wer das nicht kann, wer eine Zuhörerschaft vor sich sieht, sei es auch eine späte, sei es eine nach seinem Tod, der fälscht."

Aber er sagt auch, dass der Reiz der Fälschung von der Begabung des Fälschers abhängt. Die Tagebücher des Fritz J. Raddatz sind fabelhaft gefälscht und wollen eigentlich ein Roman sein. Lesen wir sie als den Roman unserer nach Ruhm und Aufmerksamkeit gierenden intellektuellen Gesellschaft, in der "jeder den Sisyphusstein seines kleinen Rühmchens vor sich her (rollt)".

Hätte Raddatz diese Bestandsaufnahmen in lauter einzelnen, losen Essays geschrieben und veröffentlicht, wir wären entzückt. Nun kommt es als Tagebuch daher, noch zu seinen Lebzeiten, und wir sind ein wenig betreten. Ein Kritiker schrieb mal über Fritz J. Raddatz, es scheine, dass Reibungswärme die einzige Wärme sei, die er je bekommen habe. Davon, vermute ich, gibt's jetzt reichlich.

Fritz J. Raddatz: "Tagebücher 1982 - 2001". Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 944 S., geb., 34,95 [Euro].

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