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ťDas haben wir nicht gewußtŤ - diese Antwort kriegten viele Ausländer nach dem Krieg in Deutschland zu hören. Sie wurde typisch für die Ohne-mich-Einstellung, mit der man sich 1945 der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen zu entziehen suchte: Mich hat immer interessiert, ob die Deutschen tatsächlich so unbegreiflich uninformiert gewesen sind oder ob diese Antwort eher als eine trotzige Abwehr zu verstehen ist, mit der meine Landsleute ihre Betroffenheit verbargen. Ich habe dann also, um Genaueres zu erfahren, vielen Menschen diese Schlüsselfrage gestellt: ťHaben Sie davon gewußt?Ť, und ich…mehr

Produktbeschreibung
ťDas haben wir nicht gewußtŤ - diese Antwort kriegten viele Ausländer nach dem Krieg in Deutschland zu hören. Sie wurde typisch für die Ohne-mich-Einstellung, mit der man sich 1945 der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen zu entziehen suchte: Mich hat immer interessiert, ob die Deutschen tatsächlich so unbegreiflich uninformiert gewesen sind oder ob diese Antwort eher als eine trotzige Abwehr zu verstehen ist, mit der meine Landsleute ihre Betroffenheit verbargen.
Ich habe dann also, um Genaueres zu erfahren, vielen Menschen diese Schlüsselfrage gestellt: ťHaben Sie davon gewußt?Ť, und ich war überrascht von der Freimütigkeit, mit der die Frage bejaht wurde. Vielleicht lag es an der uninquisitorischen Art, in der ich fragte, vielleicht haben die Deutschen aber auch inzwischen den Ungeheuerlichkeiten gegenüber zu einer anderen Einstellung gefunden. Ich habe die sprichwörtlich gewordene Antwort ťDavon haben wir nichts gewußtŤ jedenfalls äußerst selten zu hören bekommen. Fast jeder Befragte sagte allerdings gleich erst einmal: ťNein!Ť Und dieses ťNein!Ť sollte wohl bedeuten: Ich will nichts damit zu tun haben. Nach diesem ersten schroffen Nein gab man mir dann aber freimütig das preis, was man sich in einer immer wieder notwendig vollbrachten Denkarbeit zum Abruf zurechtgelegt hatte.
Es stimmt schon, wir wissen heute alles über die KZs der Nazis, die Literatur ist unübersehbar. Wenn ich mich dennoch entschloß, die Aussagen zu veröffentlichen, so tat ich es einerseits, um die Erinnerungen an meine eigne achtjährige Zuchthauszeit in Bautzen - beschrieben in den Büchern IM BLOCK und EIN KAPITEL FÜR SICH - gebührend zu relativieren. Andererseits dachte ich mir, wenn diese Bilder, die unsere Mitmenschen noch immer mit sich herumtragen, diese schattenhaften Eindrücke, nicht aufgeschrieben und aufgehoben werden, dann ist das Leiden all der vielen Opfer noch sinnloser, als es ohnehin schon war. Aufgeschrieben und nach Hause getragen, kann wenigstens noch das Echo der Schrecken vernommen werden, es kann zur Schärfung unseres Gewissens dienen.
Der Leser sollte von der Lektüre dieser etwa 300 Antworten, die übrigens nur eine Auswahl aus meinen Aufzeichnungen sind, kein demoskopisch exaktes, repräsentatives Ergebnis erwarten. Ähnlich wie in meinem Buch HABEN SIE HITLER GESEHEN? - das in gewisser Weise als ein Pendant zu dieser Sammlung gelten kann - hat er aber die Möglichkeit, mit einer Sonde sich Zugang zu verschaffen zum gegenwärtigen Bewußtseinsstand unseres Volkes. Dem Leser meiner Romane, dieser ťdeutschen ChronikŤ, wird durch die ťBefragungsbücherŤ, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben. Mag er die Romane für zu privat oder die ťBefragungsbücherŤ für zu allgemein halten: In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen?
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Mir widerstrebte es, bei der Anordnung der vielen Antworten dramatische Prinzipien walten zu lassen. Ich wollte diese meistens in tiefem Ernst abgegebenen Antworten nicht durch eine zyklische Struktur künstlich zurichten. Am angemessensten erschien es mir, die Antworten chronologisch zu reihen, also nach dem Datum, da die Befragten für die jeweilige Erinnerung annahmen oder angaben, wobei sie sich allerdings zuweilen irrten. Ganz von selbst ergab es sich freilich, daß ich, ohne dieses Prinzip zu verlassen, Zusammengehöriges zusammenstellte.
Die der Berufsangabe folgende Jahreszahl nennt den Jahrgang des Befragten.
Walter Kempowski

1.

Nein, ich nicht nee.
Kaufmann 1928

Ob ich von KZ gehört hab'? Eigentlich weniger.
Bäcker 1917

Ich bin in einer Kleinstadt groß geworden. Ich kannte keine Juden. Wir haben mal eine Jüdin hier am Haus gehabt, die war aber lange tot, als das mit den Juden losging, das war 'ne alte Frau.
Und sonst haben wir Umgang mit Juden gar nicht gehabt.
Hausfrau 1898

Nein. Selbst durch Mundpropaganda nicht, ehrlich nicht. Da war ja jeder vorsichtig. Wenn's wirklich jemand erfahren hätte, der hätte sich gehütet, das weiterzuerzählen.
Hausfrau 1896

Gehört kaum. Bei uns in Wilhelmshaven gab's kaum Juden, die waren ganz schnell verschwunden. Von KZ hab' ich auf Ehre nichts gewußt.
Mann 1897

Das Wort ťKonzentrationslagerŤ ist mir nur im Geschichtsunterricht begegnet, und zwar im Zusammenhang mit den Buren.
Frau 1931

Was die Russen gemacht haben? - Die Nazis? - Nein. Ich bin bei der Marine gewesen, ich hab' davon nix gemerkt und erfahren.
Vertreter 1921

Ich nehme es den Leuten ab, die in Kleinstädten gewohnt haben, den Krieg über, daß sie nichts gewußt haben den Nazis sowieso, weil die nichts wissen wollten.
Lebensmittelhändler 1912

Wollen Sie auch die Behauptung von Kiesinger hören, daß er nichts gewußt hat?
Fahrer

Merkwürdig, daß uns das Ausland das nicht abnehmen will, daß wir nichts von den Vergasungen gewußt haben. Wahrscheinlich ist es in Rußland jetzt genauso oder doch so ähnlich. Jede Diktatur hat das wohl als Staatsgeheimnis, daß da Leute eingesperrt werden.
Dozent 1931

Mir ist es unverständlich, daß die ältere Generation heute immer wieder sagt, sie hätte von all diesen Geschehnissen nichts gewußt. Jeder Bürger wußte zumindest während des Krieges: wenn einer nicht spurte im Sinne der Partei, dann mußte er verschwinden und wohin, das war bestimmt jedem bekannt.
Landwirt

Nö, hab' ich nichts von gewußt. Kann ich mir auch gar nicht vorstellen, daß ein Mensch wie Hitler, der doch wirklich kinderlieb war, der sich so mit der Jugend abgegeben hat, daß das so gewesen sein soll, kann ich mir einfach nicht vorstellen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Hausfrau 1905

Schon, daß man sich vor dem bösen Nachbarn fürchtete, vor den Leuten, die einem nicht grün waren, daß man also die Klappe gehalten hat, wenn einer mit'm Ochsenauge in die Nähe kam, das spricht doch dafür, daß man etwas von der Ungesetzlichkeit geahnt hat.
Kaufmann 1931

ťDer bespitzelte Spitzel bespitzelt den bespitzelten SpitzelŤ, so sagt man heute in der DDR, und das gilt natürlich genauso für die Nazi-Zeit.
Lagerist 1918

Ich war als angehender Mediziner in einer Studentenkompanie, und diese Leute galten damals als leicht unzuverlässig, weil sie immer ein bißchen kontra waren. Wir haben uns in kleinem Kreis zusammengefunden, weil wir kontra waren, aber auf KZ ist nie das Gespräch gekommen. Von KZ haben wir nie etwas gehört.
Internist 1920

Ich muß Ihnen wirklich sagen, die Bilder verschieben sich. Man hat nach dem Krieg so viel gehört und gesehen, daß ich wirklich nicht mehr weiß: Was hast du nun selbst gesehen, mit eigenen Augen?
Redakteur 1921

Ich hab' erst in der Gefangenschaft davon gehört. Sonst nur Anfang des Krieges. Eine Bekannte meiner Mutter war Jüdin, die hatte große Angst, daß sie ťverlegtŤ werden würde.
Bauer 1926

Man wußte, daß die Juden weg sind, aber daß es so etwas wie Vernichtungslager gegeben hat - nein. In der Gefangenschaft hat man's dann zum erstenmal gehört!
Ingenieur 1924

Nie. Ich wußte nur, daß ein Onkel von uns dort gestorben ist. Am Ende des Krieges hab' ich das erfahren.
Steuerberater 1930

Konzentrationslager? Wissen Sie, mein Schwiegervater war Jurist. Ich hatte ein ganz anderes Koordinatensystem.
Hotelier 1918

Ich würde sagen: Alle haben was gewußt. Aber was sich tatsächlich abgespielt hat, das hab' ich bis nach Kriegsschluß nicht für möglich gehalten.
Physiker 1926

Wir wußten davon, aber nicht speziell was und wo.
Hausfrau 1923

Man hat gedacht, da werden irgendwo Menschen gefangengehalten, zu Unrecht gefangengehalten, aber was Genaueres hat man nicht gewußt.
Technischer Zeichner 1922

Daß sie in Arbeitslager kamen, das hat man gewußt, aber daß sie getötet wurden, hat man nicht gewußt. Das war ja ein Schock, als man das das erste Mal hörte. Viele haben's wohl auch gar nicht wissen wollen. Haben's weggeschoben von sich.
Polizeibeamter 1924

Nee. An so was Schreckliches habe ich überhaupt nie geglaubt. So was Schreckliches mag ich gar nicht im Gedächtnis behalten.
Postbeamtin 1894
Autorenporträt
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.

Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeu

tendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.