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Das Nachdenken über die Sprache scheint derzeit eine scharfe Kehrtwendung zum Universalismus und zum Biologismus zu nehmen, und damit also gerade zu einer Anthropologie, die alles andere ist als historisch. An die Historizität der Sprache gegenüber diesem neuen (aber in Wirklichkeit ganz alten) Denken der Sprache zu gemahnen ist die polemische Absicht dieser Historischen Anthropologie der Sprache.

Produktbeschreibung
Das Nachdenken über die Sprache scheint derzeit eine scharfe Kehrtwendung zum Universalismus und zum Biologismus zu nehmen, und damit also gerade zu einer Anthropologie, die alles andere ist als historisch. An die Historizität der Sprache gegenüber diesem neuen (aber in Wirklichkeit ganz alten) Denken der Sprache zu gemahnen ist die polemische Absicht dieser Historischen Anthropologie der Sprache.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.1999

Er gewährt ihr ein Ohr
Jürgen Trabants Liebeserklärung an die Sprache

Sofern die Sprachwissenschaft auch am wissenschaftlichen Fortschritt teilnehmen will, scheint ihr nur ein Weg begehbar zu sein: Sie muß sich an den Methoden und Zielvorstellungen der modernen Technowissenschaften orientieren. Dabei werden gegenwärtig vor allem zwei Strategien verfolgt. Es gilt, Noam Chomsky zufolge, die Sprache als ein "computational system" (Berechnungssystem) zu analysieren, das durch universelle Kombinationsmechanismen bestimmt ist. Und es kommt, folgt man Steven Pinker, darauf an, dieses System biologisch auf einen angeborenen "Sprachinstinkt" zurückzuführen, der durch grammatische Gene gesteuert ist.

Diesem American way of linguistics, der sich an Mathematik und Genetik orientiert, widerstreitet eine Sprachforschung, die in der Tradition der europäischen Geistes- und Kulturwissenschaften steht. Gegen mathematische Berechenbarkeit setzt sie hermeneutisches Verstehen, gegen das Universelle verweist sie auf die kulturelle Vielfalt der Sprachen, gegen den Sprachinstinkt hält sie daran fest, daß sprachliche Fähigkeiten erworben und gesellschaftlich-historisch geprägt sind.

Der sprachtheoretische Kirchenstreit ist in vollem Gang. Sprache als natürliches Organ oder als kulturelle Lebensform? Das ist hier die Frage - und vieles spricht dafür, daß die Komputationalisten, Universalisten und Biologisten die Sieger sind. Selbstsicher bilden sie die Front der modernen Linguistik. Neben ihnen sehen die "Kulturalisten" wie unverbesserliche Traditionalisten aus, die den Anschluß an zukunftsweisende Forschungsstrategien verloren haben: Sie scheinen noch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zu leben.

Mit seiner "Historischen Anthropologie der Sprache", die unter dem lapidaren Haupttitel "Artikulationen" erschienen ist, interveniert Jürgen Trabant in diesen Streit. Auf die Seite einer universalistisch und biologistisch gerichteten Naturwissenschaft der Sprache schlägt er sich nicht; denn Kultur und Geschichte haben für ihn nichts an Wert verloren. Aber er vertritt auch keine ausschließlich kulturalistische Position; denn er hat sich davon überzeugen lassen, daß bei der Sprache mehr Biologie im Spiel ist, als eine sozial- und kulturwissenschaftliche Sprachreflexion glauben will. "Der Raum zwischen Natur und Kultur" ist deshalb "neu zu vermessen".

Um messen zu können, braucht man einen Maßstab. Trabant glaubt, daß das neue Problem nur durch eine wissenschaftliche Erinnerung zu lösen sei: Es ist Wilhelm von Humboldts "Sprach-Bild", an das er denkt. Um an der Front der linguistischen Forschung zu bestehen, greift er auf die philosophisch und ästhetisch gelenkte Sprachwissenschaft zurück, der sich Humboldt in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens - zwischen 1820 und 1835 - gewidmet hat. Selbstironisch gesteht Trabant, daß er "rettungslos altmodisch" sei und Sprache noch immer als ein im wesentlichen kulturelles Phänomen begreife. "Nicht ungestraft" habe er sich jahrelang mit Humboldt beschäftigt und dessen Sprachdenken lebendig zu halten versucht. Humboldts Werk sei noch lange nicht ausgeschöpft. Die "Artikulationen" dokumentieren, daß die Strafe niedrig ist. Denn der Rückgriff auf das Alte belohnt mit einer argumentativen Klarheit und sprachwissenschaftlichen Besonnenheit, die vor den Fallen schützt, in die man gerät, wenn man sich dem Neuen als dem Besten und Richtigen ausliefert. Trabant mag altmodisch sein, aber in vielen Hinsichten ist er weitsichtiger als die Modernisierer der Gegenwartslinguistik.

Sein Schlüsselwort der "Artikulation" bezeichnet nicht allein die lautliche Gliederung des Gesprochenen, wie man zunächst vermuten könnte. Es geht hier nicht um Akustik oder Phonetik. Unter "Artikulation" im Sinne Humboldts ist vielmehr eine unauflösbare Dreiheit gemeint: körperliche Bewegung der Lautäußerung, geistige Gliederung des Denkens, Vermittlung des Lautlichen und Begrifflichen durch die Sprache selbst. Mit dieser Triade hat Trabant das Mittel gefunden, um gegen alle linguistischen Verkürzungen oder Verabsolutierungen sein Veto einzulegen.

Ohne das leibgebundene Artikulieren von sprachlichen Äußerungen, das sich an einen anderen wendet und zum Zuhören verführt, gibt es keine Kommunikation. Ohne die gedankliche Leistung der Gliederung gibt es keine Kognition. Und ohne Sprache, für die auch die kombinatorischen Regeln der Syntax wesentlich sind, gibt es keine Verbindung von Kommunikation und Kognition, die beide zusammenspielen, wenn Menschen sich zum sprachlich evozierten "Mit-Denken" anregen lassen. "Kognition ohne Kommunikation ist steril. Kommunikation ohne Gedanken ist leer."

Diese an Kant orientierte Formulierung läßt es nicht zu, die Sprache als reines Berechnungssystem einer universalistischen Kognitionspsychologie nach Chomskys Muster zu überantworten. Sie schützt ebenfalls vor einer radikalen Biologisierung nach Pinkers Art. In Trabants Verständnis bleibt die Sprache den kommunikativen Tätigkeiten in gesellschaftlich-historisch geprägten Lebensformen verpflichtet. Wer das nicht sieht, fällt hinter jene Einsichten zurück, die durch Humboldt erreicht worden sind.

Die schönsten Kapitel in diesem "historisch-anthropologischen" Text eines rettungslos altmodischen Humboldtianers beschäftigen sich mit jenen lautlichen Artikulationen, in denen sich die körperlichen Freuden des Sprechens äußern. Ästhetische Lautgebilde bringen den Klang und Rhythmus der Sprache zur Geltung, Interjektionen ermöglichen den Ausdruck der Gefühle. Durch lautmalerische Nachahmung läßt sich das Tönen der Welt abbilden. Der Sinn der Sprache bleibt der Sinnlichkeit des Sprechens verbunden.

Besonders davor aber haben die kognitivistischen, komputationalistischen und biologistischen Analytiker der Sprache ihr Ohr verschlossen. Sie berechnen und konstruieren ihre Erklärungsmodelle. Aber sie hören nicht. Die "akroamatische" Dimension sprachlicher Artikulation ist ihnen absolut fremd. Sie lauschen nicht dem lebendigen Sprachgebrauch. Ihr Blick auf die Sprache ist kalt. Gegen sie hat Trabant das Ohr als erkennendes Organ rehabilitiert. Sein Buch sollte man nicht nur lesen, sondern als Einladung zum Zuhören annehmen.

MANFRED GEIER.

Jürgen Trabant: "Artikulationen". Historische Anthropologie der Sprache. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 221 S., br., 19,80 DM.

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