"Geschichte entzieht sich jeder Instrumentalisierung. Sie wird sich immer rächen als eine Macht, die mehr in sich birgt, als Identifikationsangebote einzwängen können." (Reinhart Koselleck) Das vorliegende Bändchen dokumentiert ein Fragment gebliebenes Buch aus Gesprächen, an dem Reinhart Koselleck und Carsten Dutt zusammen arbeiteten. Bei zwei Treffen in Bielefeld (2003) und Heidelberg (2004) wurden jeweils einstündige Unterhaltungen aufgezeichnet. In Bielefeld wird zunächst die Zeitzeugenschaft Kosellecks zum Thema: seine Erinnerungen an die Endphase der Weimarer Republik, die NS-Zeit und die frühe Bundesrepublik, und damit die im Spiegel dieser Erinnerungen greifbare Bildungsgeschichte eines politisch wachen und moralisch sensiblen Intellektuellen, dessen Lebensthema die Erkenntnis der Komplexität geschichtlicher Wirklichkeit werden sollte. Das Heidelberger Gespräch dreht sich um Kosellecks akademische Sozialisation an der Ruprecht-Karls-Universität der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Die Interviews dieses Bandes gewähren einen faszinierenden Einblick in Leben und Werk eines der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts. Reinhart Koselleck spricht in ihnen als Zeitzeuge, Autobiograph und Theoretiker der Geschichte. Carsten Dutts Fragen und Nachfragen veranlassen den "denkenden Historiker", wie Hans-Georg Gadamer Koselleck gelegentlich genannt hat, zu spannenden Auskünften und wichtigen Präzisierungen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2014Der denkende Historiker
Gespräche mit Reinhart Koselleck
Jeder, der mit dem Historiker Reinhart Koselleck in Berührung kam, kennt die Geschichte. Als 22 Jahre alter Soldat erlebt er sie 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft in Auschwitz (wie die Amerikaner verwendeten auch die Sowjets die Nazi-Lager weiter). „Es gab da eine Szene, die ich schon öfter geschildert habe. Es war da ein oberschlesischer Aufseher, der mir einen Schemel auf dem Kopf zertrümmern wollte, weil ich nicht schnell genug Kartoffeln schälte, aber dann warf er den Schemel in die Ecke, wobei ein Bein abbrach, und rief: ,Was soll ich dir schlaggen Schäddel ein, wo Ihr habt vergast Millionen.’“ Koselleck: „Da habe ich schlagartig gemerkt, dass das nicht erfunden sein konnte.“
Jetzt ist diese Geschichte schriftlich fixiert, in einem biografischen Gespräch, das Kosellecks Schüler Carsten Dutt 2003/2004, zwei Jahre vor dem Tod des großen Historikers, führte und zusammen mit einem bereits früher gedruckten Gespräch vom September 2001 über „Geschichte(n) und Historik“ publiziert und mit präzisen Fußnoten angereichert hat. Das Bändchen enthält Materialien für das Jugendkapitel einer künftigen Koselleck-Biografie. Sichtbar wird die Herkunft aus einem nationalliberalen, dem NS-Regime distanziert gegenüberstehenden, aber nicht oppositionellen Milieu von Bildungsbürgern. Die Erfahrungen des Soldaten, das Studium und der Beginn der wissenschaftlichen Laufbahn in der Adenauerzeit kommen ins Bild. Der Leser erlebt einen nüchternen, seine Erinnerungen misstrauisch befragenden Historiker, der eigene Irrtümer nicht beschönigt, aber auch pauschale Moralisierungen unterlässt. So erklärt Koselleck die geringe Präsenz des Holocaust in der unmittelbaren Nachkriegserinnerung mit der überwältigenden Nähe der deutschen Katastrophenerfahrungen, vor allem von Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten.
Das Gespräch zur Historik bietet den knappsten Grundriss von Kosellecks geschichtstheoretischem Denken. Mancher Leser dürfte hier unverzüglich die ausführlicheren Darlegungen in den meisterhaften Abhandlungsbänden des großen Historikers zu Rate ziehen.
GUSTAV SEIBT
Reinhart Koselleck/Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013. 73 Seiten, 15 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gespräche mit Reinhart Koselleck
Jeder, der mit dem Historiker Reinhart Koselleck in Berührung kam, kennt die Geschichte. Als 22 Jahre alter Soldat erlebt er sie 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft in Auschwitz (wie die Amerikaner verwendeten auch die Sowjets die Nazi-Lager weiter). „Es gab da eine Szene, die ich schon öfter geschildert habe. Es war da ein oberschlesischer Aufseher, der mir einen Schemel auf dem Kopf zertrümmern wollte, weil ich nicht schnell genug Kartoffeln schälte, aber dann warf er den Schemel in die Ecke, wobei ein Bein abbrach, und rief: ,Was soll ich dir schlaggen Schäddel ein, wo Ihr habt vergast Millionen.’“ Koselleck: „Da habe ich schlagartig gemerkt, dass das nicht erfunden sein konnte.“
Jetzt ist diese Geschichte schriftlich fixiert, in einem biografischen Gespräch, das Kosellecks Schüler Carsten Dutt 2003/2004, zwei Jahre vor dem Tod des großen Historikers, führte und zusammen mit einem bereits früher gedruckten Gespräch vom September 2001 über „Geschichte(n) und Historik“ publiziert und mit präzisen Fußnoten angereichert hat. Das Bändchen enthält Materialien für das Jugendkapitel einer künftigen Koselleck-Biografie. Sichtbar wird die Herkunft aus einem nationalliberalen, dem NS-Regime distanziert gegenüberstehenden, aber nicht oppositionellen Milieu von Bildungsbürgern. Die Erfahrungen des Soldaten, das Studium und der Beginn der wissenschaftlichen Laufbahn in der Adenauerzeit kommen ins Bild. Der Leser erlebt einen nüchternen, seine Erinnerungen misstrauisch befragenden Historiker, der eigene Irrtümer nicht beschönigt, aber auch pauschale Moralisierungen unterlässt. So erklärt Koselleck die geringe Präsenz des Holocaust in der unmittelbaren Nachkriegserinnerung mit der überwältigenden Nähe der deutschen Katastrophenerfahrungen, vor allem von Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten.
Das Gespräch zur Historik bietet den knappsten Grundriss von Kosellecks geschichtstheoretischem Denken. Mancher Leser dürfte hier unverzüglich die ausführlicheren Darlegungen in den meisterhaften Abhandlungsbänden des großen Historikers zu Rate ziehen.
GUSTAV SEIBT
Reinhart Koselleck/Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2013. 73 Seiten, 15 Euro.
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