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Die neuen Medien stellen die Hermeneutik vor große Herausforderungen - und bieten die einmalige Chance, Hermeneutik wieder in ihrem ursprünglichen Sinn zu begreifen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir vor einer geistespolitischen Wende, deren Auswirkungen bis zu den Grundlagen der Hermeneutik reichen. Ihr Medium hat sich erweitert und verändert. Nicht mehr allein Texte sind ihr wesentlicher Gegenstand, sondern ebenso Bilder und all ihre Formen der Animation. Darüber hinaus wird die Frage nach dem verstehenden Menschen immer bedeutsamer. Denn mithilfe der Neurowissenschaften können wir…mehr

Produktbeschreibung
Die neuen Medien stellen die Hermeneutik vor große Herausforderungen - und bieten die einmalige Chance, Hermeneutik wieder in ihrem ursprünglichen Sinn zu begreifen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir vor einer geistespolitischen Wende, deren Auswirkungen bis zu den Grundlagen der Hermeneutik reichen. Ihr Medium hat sich erweitert und verändert. Nicht mehr allein Texte sind ihr wesentlicher Gegenstand, sondern ebenso Bilder und all ihre Formen der Animation. Darüber hinaus wird die Frage nach dem verstehenden Menschen immer bedeutsamer. Denn mithilfe der Neurowissenschaften können wir das Gehirn beobachten und es zu verstehen versuchen, während es selbst versteht. Diese Veränderungen machen einen tiefgreifenden Wandel der Hermeneutik nötig.Am Beispiel des menschlichen Gedächtnisses muss sich zeigen, wie die klassische Lehre vom geschichtlichen Bewusstsein bis in die tiefsten biologischen Schichten der Weltbewältigung hinein verfolgt werden kann - mit allen Konsequenzen, die dieser neue Ansatz für die Ethik und die Autobiographie sowie für die Politik und das kollektive Gedächtnis haben muss.
Autorenporträt
Martin Gessmann ist Privatdozent an der Universität Heidelberg und Fellow des Heidelberger Marsilius-Kollegs. Er studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik in Tübingen, promovierte in Tübingen und habilitierte sich im Fach Philosophie in Heidelberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2012

Hermeneutik der Zukunft
Martin Gessmann sieht eine neue Epochenzäsur

Hermeneutik ist die Kunst des Verstehens. Genauer: Aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht, wie einst Odo Marquard formulierte. Da man nur zu verstehen trachten kann, was schon geschrieben, gemalt, komponiert wurde, bezeichnet die Hermeneutik ein Vergangenheitsverhältnis. Insofern ist sie eine Replik auf unsere Vergänglichkeit. Martin Gessmann versucht, die Perspektive der Deutungskunst auf die Zukunft hin zu öffnen ("Zur Zukunft der Hermeneutik", Wilhelm Fink Verlag, München 2012). Dringlich wird dieser Neubestimmung der Hermeneutik angesichts einer kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Zäsur, die Gessmann auszumachen meint. Dieser historische Einschnitt manifestiert sich, so der Autor, in den Medien, der Gegenwartsphilosophie, der Kulturkritik und der Theorie der Moderne, also Themenfeldern, die sich ihrerseits in einem radikalen Umbruch befinden.

Die Moderne, so Gessmanns Leitthese, war durch Antagonismen gekennzeichnet, die immer weiter auseinanderstrebten: Politik und Öffentlichkeit, Wissenschaft und Natur, Technik und Mensch, Körper und Geist, analoge und digitale Welt. Diese Dualismen haben Adorno oder Heidegger zu Klageliedern inspiriert. Das jedoch, so Gessmanns Diagnose, war voreilig. Phänomene wie Facebook und dessen Rolle in der arabischen Revolution, die neuen sozialen Bewegungen, die nachlassende Faszination für Großtechnologien, der Einsatz für nachhaltiges Wirtschaften bis hin zu dem nutzfreundlichen Design der Geräte Apples und die Verabschiedung computationaler Ansätze in der Hirnforschung zugunsten einer "embodied cognition" - all das zeige, dass eine Epoche angebrochen ist, die die hergebrachten Dualismen lebenspraktisch überwinde und damit zugleich die einschlägige Kritik an der Moderne und ihrer Kultur unterlaufe.

Die Zukunft der Hermeneutik liege in einer Fortschreibung der Deutungsgeschichte hin zu einer vorausdeutenden Stiftung von Einheit. Verständigungsbrüche sollen dabei nicht nachdeutend überspielt, sondern vorausdeutend minimiert werden. Es geht also nicht um die Erstellung von Prognosen, sondern um Sinnstiftung mittels Fortschreibung historischer Kontinuitäten. Dass Gessmann hierfür methodisch so ziemlich alles vereinnahmen möchte, was der Markt an schnittigen Themen hergibt - Gedächtnisforschung, Neurowissenschaft, Erinnerungskultur, Emotionsforschung -, befremdet eher. Wirklich unangenehm ist jedoch der kollektivistische und vereinnahmende Unterton des Unternehmens. Was Gessmann vorzuschweben scheint, ist eine neuhegelianische Geschichtsphilosophie, in der das Individuelle und Private methodisch zu überwinden und sachlich aufzuheben ist. Es grüßt die schöne neue Welt der Netzgemeinschaft und der Schwarmintelligenz.

Sinndeutung ereignet sich aber ausschließlich in den Deutungsversuchen jedes Einzelnen - sei es hinsichtlich seiner Biographie, der Geschichte oder im Erleben von Kunstwerken. Eine Hermeneutik, die mit Hilfe fortschreibender Geschichtsdeutung Sinnstiftung betreiben möchte, übersieht den Ort echten Sinnerlebens, das endliche Individuum, und macht sich zum akademischen Vordenker neukollektivistischer Träumereien. Doch Vorsicht: "Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert", kalauerte schon Marquard in dem erwähnten Vortrag, "es kömmt darauf an, sie zu verschonen."

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