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Demokratischer Staat und terroristische Herausforderung
Nicht erst die Epoche nach "9/11", sondern schon die 1970er Jahre waren eine Ära des grenzenlosen Terrorismus. Mehrmals hielten transnational vernetzte und operierende Terroristen die Regierungen und die Öffentlichkeit in Westeuropa durch Geiselnahmen in Atem. Besonders spektakulär waren das Olympia-Attentat von München (1972), die OPEC-Geiselnahme in Wien (1975) sowie die Molukkeranschläge in Den Haag, Beilen und Amsterdam (1974/75). Wie reagierten die betroffenen Staaten auf diese neue Herausforderung, in der die Grenzen…mehr

Produktbeschreibung


Demokratischer Staat und terroristische Herausforderung

Nicht erst die Epoche nach "9/11", sondern schon die 1970er Jahre waren eine Ära des grenzenlosen Terrorismus. Mehrmals hielten transnational vernetzte und operierende Terroristen die Regierungen und die Öffentlichkeit in Westeuropa durch Geiselnahmen in Atem. Besonders spektakulär waren das Olympia-Attentat von München (1972), die OPEC-Geiselnahme in Wien (1975) sowie die Molukkeranschläge in Den Haag, Beilen und Amsterdam (1974/75). Wie reagierten die betroffenen Staaten auf diese neue Herausforderung, in der die Grenzen zwischen innerer Sicherheit und Außenpolitik verschwammen?
Matthias Dahlke zeigt anhand erstmals ausgewerteter Dokumente, wie drei verschiedene westeuropäische Regierungen auf unterschiedlichen Wegen zum Grundsatz der Unnachgiebigkeit gelangten, zugleich aber auch Geheimabsprachen mit Terroristen nicht scheuten. Der transnationale und vergleichende Ansatz, der die gesamtgesellschaftlichen Prozesse einbezieht, ermöglicht eine neue Sicht auf die europäische Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Staat und Terrorismus.


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Autorenporträt
Matthias Dahlke studierte Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin, Paris und Rom. Er ist Projektleiter der Berliner Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik e.V. (BAS).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Kuhhandel
mit Arafats PLO
Matthias Dahlke zeigt, was Helmut Schmidt und
Bruno Kreisky alles zur Bekämpfung des Terrorismus taten
Vor drei Jahren entdeckte der Zeithistoriker Matthias Dahlke im Archiv der sozialen Demokratie das „Wischnewski-Protokoll“, eine Niederschrift, in der ein Treffen zwischen zwei international gesuchten Gewalttätern mit Vertretern der Bundesregierung festgehalten war. Die Begegnung fand im November 1977 in Wien statt. Arrangiert hatte sie der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, dem an einer größeren Rolle des neutralen Österreich in der Weltpolitik lag. Kreisky verfügte über gute Verbindungen zu den Ländern im Nahen Osten und war sogar bereit, den Palästinenserchef Jassir Arafat wie einen Staatsgast zu empfangen.
Arafats Gesandte, Ali Hassan Salameh und Issam al-Sartawi, waren nach allen westeuropäischen Rechtsbegriffen Terroristen. Salameh hatte Andreas Baader und Ulrike Meinhof betreut, die sich 1970 in einem Palästinenserlager zur Stadtguerilla RAF ausbilden ließen. Außerdem galt er (zu Unrecht) als Anstifter des Überfalls auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele in München. Sartawi war Arafats Berater für Westeuropa. Beide wurden von israelischen Kommandos gesucht, doch jetzt sollten die beiden Männer der westdeutschen Regierung helfen, die RAF in ihrem Rückzugsraum im Nahen Osten auszuräuchern. Sogar der Mossad spielte mit; der israelische Geheimdienst hatte, wie Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski Bundeskanzler Helmut Schmidt meldete, für die Zeit des Wiener Treffens die Jagd auf die beiden Palästinenser eingestellt.
Dass ausgerechnet Helmut Schmidt, der im Bundestag erklärt hatte, „mit allen verfügbaren Mitteln gegen den Terrorismus Front zu machen“, zu wenigstens indirekten Verhandlungen mit Terroristen bereit sein könnte, zeigt eine Kompromissbereitschaft, von der sich die Schulweisheit des reinen deutschen Idealismus lieber nichts träumen lässt.
Davon und von weiteren Möglichkeiten staatlichen Handelns in den Terrorjahren Westeuropas berichtet Matthias Dahlke in seinem Buch über transnationalen Terrorismus. Da er sich nicht auf Deutschland und die RAF beschränkt, sondern den Opec-Überfall in Wien, die Besetzung der französischen Botschaft in Den Haag und die Geiselnahmen in Berlin, Stockholm und Köln unter-sucht, gelingt ihm eine internationale Perspektive, die in wissenschaftlichen Publikationen sonst kaum angestrebt wird.
Nur sechs Wochen vor dem Geheimtreffen in Wien hatten palästinensische Terroristen zur Unterstützung der RAF, die Hanns Martin Schleyer entführt hatte, die Lufthansa-Maschine Landshut gekapert, doch war die Regierung Schmidt auch jetzt nicht bereit, den Forderungen der Entführer nachzugeben. Die Geiseln konnten in Mogadischu befreit werden, die Häftlinge in Stammheim begingen Selbstmord, Schleyer wurde umgebracht und Schmidt wegen seiner Unnachgiebigkeit als Held gefeiert. Trotz der Entschlossenheit, die Schmidt in der wochenlangen Auseinandersetzung mit der RAF zeigte, war er offenbar klug genug, anschließend auf diplomatischem Weg Hilfe bei anderen Terroristen zu suchen, wenn es bei der Fahndung nach den Schleyer-Mördern half.
Zweieinhalb Jahre zuvor, als die „Bewegung 2. Juni“ den CDU-Politiker Peter Lorenz entführte, hatte Schmidt, angeblich grippegeschwächt, der Freilassung mehrerer verurteilter Gefangener zugestimmt. Eine von ihnen war jene Verena Becker, die gegenwärtig wegen möglicher Beteiligung an der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback vor Gericht steht. Bei Schleyer wollte Schmidt nicht mehr nachgeben, und doch war die immer wieder beschworene Härte nur eine mögliche Form staatlichen Handelns.
Nachgeben oder nicht? Das ist der Stoff, aus dem früher Deutschaufsätze geschnitzt wurden und später Umfragen: Ist das Leben der Geiseln wichtiger oder vielleicht doch die Staatsräson? Dahlke kann bei seiner Darstellung der komplexen Zusammenhänge auf zahlreiche inzwischen freigegebene Regierungs- und Verwaltungsakten zurückgreifen. Sein Thema ist die in der Bundesrepublik, in Österreich und in den Niederlanden je verschiedene staatliche Reaktion auf den internationalen Terrorismus, der in den siebziger Jahren die Staaten Westeuropas wie eine Krankheit befiel.
Nach München, nachdem die überlebenden Attentäter freigepresst worden waren, sollte Deutschland vor weiteren Anschlägen, die von staatsterroristischen Staaten wie Libyen und Irak unterstützt wurden, verschont bleiben. So kam es auch, doch musste die Lufthansa wie andere westliche Fluggesellschaften drastische (und bis heute geheim gehaltene) Schutzgelder dafür zahlen, dass ihre Maschinen nicht mehr entführt wurden. Das geben die Akten selbstverständlich nicht her, gehört aber ebenfalls zum staatlichen Handeln im höheren Interesse, nämlich der Terrorabwehr. Die Realpolitik, zu Beginn der siebziger Jahre der Zauberbegriff für die allmähliche Verbesserung der Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks, sollte von 1977 an auch die Zusammenarbeit mit den gefürchteten Palästinensern erleichtern.
Während Henry Kissinger mit seiner Pendel-Diplomatie zwischen Ägypten und Israel vermittelte und schließlich erreichte, dass der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat in der israelischen Knesset auftrat, führte ein Teil der Palästinenser den Krieg gegen Israel fort, indem sie seine westlichen Unterstützer attackierten. Vor dreißig Jahren, als die orbitale Perspektive Geheimwissen und nicht als Google Earth allen zugänglich war, fiel es Terroristen leicht, aus dem Blickfeld der staatlichen Organe zu entwischen.
Das Bundeskriminalamt (BKA) wusste wohl, dass es Verbindungen zwischen besonders radikalen Palästinensern und deutschen Terroristen gab, hatte aber keine Ahnung, wie gründlich die RAF und die „Bewegung 2. Juni“ in Jemen ausgebildet wurden und wie sicher sich die deutschen Guerilleros in Libanon fühlen konnten. Wer schließlich hätte sich auch nur vorstellen können, dass ein christlicher Palästinenser, der Arzt Wadi Haddad, Organisator zumindest beim Opec-Überfall, in Entebbe und bei der Landshut -Entführung, japanische Aktivisten einsetzen würde, um in Israel Pilger aus Puerto Rico umzubringen?
Das Treffen in Wien sollte daher vor allem der deutschen Regierung bessere Handlungsmöglichkeiten verschaffen. Die PLO Arafats versprach Unterstützung gegen diese Irrläufer und erhoffte sich von dem Arrangement mit der Bundesrepublik eine schrittweise Anerkennung, nicht ohne allerdings dabei um ihr „revolutionäres Image“ zu fürchten. Die Bundesregierung erwartete Aufklärung über den bisher verschlossenen Rückzugsraum der RAF und musste um ihr rechtsstaatliches Image fürchten.
Dahlke bearbeitet sein Thema mit großer Souveränität, was ihn aber nicht immer vor Kleinlichkeit bewahrt. Mit Eifer bestreitet er Willy Brandt, der 1972 in München nicht so beherzt wie Schmidt eingriff, die Anerkennung als „Lichtgestalt“ und vermutet als Grund dafür Depression in Folge von Alkohol- und Nikotinentzug. Die Freunde, denen der Autor für die stilistische Beratung dankt, hätten ihn ruhig vor jungprofessoralen Gedankenlosigkeiten wie einer „Geiselnahme, die Maßstäbe setzte“, bewahren können. Der Satz, den der damalige Bundespräsident Walter Scheel am 6. September 1972, am Tag nach dem mörderischen Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München, notiert, ist in seiner Banalität so erschreckend, dass Dahlke ihn gleich vier Mal anführt: „Das Leben geht weiter!“
Manches ist im Zug der ungeheuren Materialverarbeitung auch schlicht falsch dargestellt: Wenn die Entführer des österreichischen Industriellen Walter Palmers 1977 tatsächlich mit dem Lösegeld festgenommen worden wären, wie Dahlke angibt, hätte weder die RAF noch die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ weiterexistieren können, denn die Frauen vom „2. Juni“ haben die erbeuteten Millionen schwesterlich geteilt. Einiges wird arg blauäugig und aktengläubig reportiert, etwa wenn Dahlke unbesehen hinnimmt, Gabriele Kröcher-Tiedemann sei bei ihrem Prozess 1990 in Köln auch wegen Mitwirkung am Überfall auf die Opec verurteilt worden. Jenseits aller rechtsstaatlichen Grundsätze wurde dieser Teil der Anklage fortgelassen, um einen wichtigen Informanten, über den das BKA und der BND in Libanon verfügten, nicht zu gefährden. Hier lag eine ganz andere Form staatlichen Handelns vor: der klassische Kuhhandel.
Salameh und Sartawi, die beiden hilfsbereiten Unterhändler von der PLO, wurden übrigens später beide umgebracht, der eine von den Israelis, die nichts von seiner diplomatischen Funktion wissen wollten, der andere von den eigenen Leuten.
WILLI WINKLER
MATTHIAS DAHLKE: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975. Oldenbourg, München 2011. 472 Seiten, 44,80 Euro.
Die Lufthansa zahlte
Schutzgeld, damit ihre Maschinen
nicht mehr entführt wurden.
Auf diplomatischem Weg suchte
Schmidt Hilfe gegen den Terror
bei anderen Terroristen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Es ist die internationale Perspektive, die Willi Winkler besonders schätzt an dieser Studie des Zeithistorikers Matthias Dahlke. Dahlke betrachtet staatliches Handeln im Angesicht des internationalen Terrors in Westeuropa zwischen 1972 und 1975. Ob der Opec-Überfall in Wien, die Besetzung der französischen Botschaft in Den Haag oder der RAF-Terror in der Bundesrepublik – laut Winkler gelingt es Dahlke anhand von Regierungs- und Verwaltungsakten, souverän die Unterschiede der staatlichen Reaktionen herauszuarbeiten. Allerdings entdeckt Winkler neben einer gewissen Kleinlichkeit (so bei der Gewichtung von Brandts Leistung 1972 in München) gedankenlose Formulierungen und sogar falsche Darstellungen, vor denen ein besseres Lektorat das Buch hätte bewahren können und sollen, wie er findet.

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