Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Nach Hause, nach Hause: Karen Joisten will sich Nähe und Ferne nur räumlich vorstellen und liebt deshalb den Bäcker um die Ecke
"Es ist grotesk, ja geradezu abwegig, sich einen Menschen vorzustellen, der sich mitten auf dem Bürgersteig niederläßt, ein Buch aus seiner Jacke herauszieht und zu lesen beginnt." Für Karen Joisten ist Philosophie anthropo-ontologische Deutung des menschlichen Seins mit ethischen Konsequenzen. Vor allem Merleau-Ponty folgend gibt sie eine Phänomenologie des Daseins als zwischen Heimat und Unterwegssein ausgespannt, und wie Bollnow nimmt sie dabei die Geborgenheit von Wohnung, Geburtsort, Familie als das Primärphänomen. Näher wird die ewige Reise nach Hause in die Aspekte von Raum, Zeit und Mitmenschen und in vier Entfernungsschichten zergliedert, für die eine Tageswanderung, das morgendliche Brötchenholen, die sonnabendliche Fahrt zum Baumarkt und das Surfen im Netz die Beispiele geben.
Je weiter wir wegkommen, um so anonymer und konventioneller werden unsere Wahrnehmung wie unser Verhalten; je näher wir dem Heim bleiben, um so mehr sind wir bei uns zu Hause. Doch die moderne Beschleunigung bringe die Gefahr mit sich, daß die Menschen sich in der Ferne verlieren, immer weniger sie selbst sind. Deshalb gelte es, die reale Gebundenheit an eine Heimat als ein bewußtes Sich-Binden zu übernehmen. Und deshalb ist, wer in der Öffentlichkeit liest, nicht nur komisch, sondern ethisch fragwürdig.
Man kann sich Neubaueigenheim-Siedlungen mit schnellwachsenden Koniferen in den gepflegten Vorgärten vorstellen, in denen ein müßiges Verweilen bald das Mißtrauen der Anwohner erregen würde. Aber schon in Mainz, wo Joistens Buch als Habilitationsschrift angenommen wurde, gibt es Straßencafés, und auf den Straßen gerade der dichtesten Städte kann man gute Einfälle haben. Das Problem ist nicht, daß Joisten eine partikulare Lebensform zur Norm aufpolstert. Es ist am Ende ja nur ein Beispiel. Nein, das einseitige Verständnis von Nähe und Ferne als räumlich führt in die Irre. Der Bibliothekar, mit dem ich in Iran über Hafis streite, kann mir näher sein als Wiglaf Droste, der mich in unserem Haus nicht grüßt. Die junge Jordanierin macht im chat-room unter der Maske einer reichen unbefriedigten Witwe mehr Erfahrungen mit sich selber als im heimischen Streit mit ihren Brüdern, die ihr den Besuch des Internetcafés verbieten wollen.
Und komplementär führt in die Irre, daß der Mensch erst in der Einsamkeit des Selbstgesprächs zu sich selbst finde, mit sich identisch werde. Man muß nicht Tugendhats Polemik gegen ein introspektives Modell von Selbstbewußtsein mitmachen, daß er überhaupt nichts sehe, wenn er tief in sich hineinblicke, um monologische Selbsterkenntnis zumindest für fehlbar zu halten. Daß ich geizig, dick, arrogant oder ressentimentgeladen bin, werde ich kaum in der Introspektion ermitteln. Die anderen müssen es mir sagen.
Joistens Ich ist ein schauendes. Es schaut aus dem Auto, und es schaut in sich hinein. Aus der Untersuchung ausdrücklich ausgeschlossen ist die Heimat als "Ort der Arbeit und des Handelns". Das gehöre in die Soziologie. Ist nicht das Gegenteil genauso richtig? Wandern und Chatten, Eigenheime und Baumärkte gehören in die Soziologie, Arbeit und Handeln in die Philosophie. Soziologie und Philosophie unterscheiden sich nicht durch die Gegenstände, sondern durch die Fragen. Was sich in Joistens Ausgrenzung vielmehr ausdrückt, ist ein Verständnis von Gesellschaft als zweiter, nämlich uneigentlicher Natur. In Wahrheit bin ich in meinem Beruf oder meinen Interessen mindestens ebenso zuhause wie in meiner Wohnung. Heimat ist da, wo ich mich auskenne. Da habe ich ein sicheres Urteil, da fühle ich mich verantwortlich. Indem Joisten Arbeit und Handeln ausgrenzt, kommt ihr die Möglichkeit sachlicher Nähe bei räumlicher Ferne nicht in den Blick. Und am Ende kann sie nicht einmal angeben, was an einer Heimat, in der ich mich nicht - etwa durch das Markieren von Wanderwegen - betätige, ethisch bedeutsam sein soll.
Joisten schätzt das vertraute Umfeld, weil sie ohne nachzudenken den Weg zum Bäcker findet und weil man sie im Baumarkt sofort versteht. "Ein intensives Miteianderreden läuft dem Charakter der Straße, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel ist, entgegen." Wirklich zu Hause ist sie erst, wenn sie sich in den Sessel fallenläßt oder beim Wandern ihren Gedanken nachhängt. Was aber unterscheidet das noch von dem perhorreszierten modernen Vagabunden, der seinen Aufenthaltsort bindungslos nach Arbeit und Einkommen wählt?
GUSTAV FALKE
Karen Joisten: "Philosophie der Heimat - Heimat der Philosophie". Akademie Verlag, Berlin 2003. 371 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karen Joisten philosophiert über die Heimat
„Heimat” als eine besondere Form der Bindung an einen nahe stehenden Menschen, eine bestimmte Region oder ein Land ist ein universales Phänomen. Das Wort dafür aber ist so unübersetzbar deutsch, dass sich daran ganze Kulturgeschichten anknüpfen lassen auf der Suche nach dem „German Sense of Belonging” oder mit klingenden Titeln wie„A Nation of Provincials – The German Idea of Heimat”.
Zwischen Rückständigkeit, dem stillen Glück im Winkel oder der utopischen Überformung einer Welt ohne Entfremdung klingt uns „Heimat” immer vertraut und nostalgisch, nie aber frei von Nebentönen.
Was könnte also eine „Philosophie der Heimat” an diesem Begriff für sich fruchtbar machen, wenn sie Heimat als das Grundproblem der Philosophie schlechthin verstehen will? „Ins Leben hineinversetzt ist der Mensch zur Heimat verurteilt” heißt der Kernsatz von Karen Joistens Mainzer Habilitationsschrift. Das Phänomen, das Joisten in den Blick nimmt, teilt mit dem traditionellen Heimatbegriff allerdings recht wenig.
Der Mensch als „heimatliches Wesen” wird so allgemein wie unspezifisch gekennzeichnet als „von vornherein in einer wesentlichen Beziehung zum Raum, zur Zeit und zum Mitmenschen” stehend, in der er die Pole der heimatlichen Gebundenheit und des Unterwegsseins in ein Gleichgewicht bringen muss. Darin besteht seine „anthropo-ontologische Grundverfaßtheit”, der Joisten das von allen historischen Bedeutungsschichten säuberlich gereinigte Etikett „Heimat” verleiht, von dem sie schließlich glaubt, es könne „ideologiefrei und undogmatisch” verwendet werden.
Auf dem Heimweg
So wird „Heimat” bei Joisten zu einer in erster Linie räumlichen Bestimmung verallgemeinert: „die mit dem Einzelnen und seiner Leiblichkeit gegebene Nahsphäre, die er unmittelbar erfahren und erleben kann”. Hieran schließt ihre Zeitdiagnose an. Zeichnet sich die Moderne allgemein durch Beschleunigung und die Beseitigung von zeitlicher und räumlicher Ferne aus, so wird schließlich alles gleich fern und gleich nah, mit der Dimension der Ferne geht auch die der Nähe verloren. Der Mensch in der „Totalität des Abstandlosen” blickt über das Nächste hinweg „auf das Allgemeine, Unspezifische, Weite und Überall”.
Das ist zwar auch ein „Faktum der Heimatlosigkeit”, dem sich Joisten gegenübersieht, doch es hat eine andere Signatur als die Formen der Heimatlosigkeit, mit denen sich die existenzphilosophischen Autoren der fünfziger Jahre auseinander setzen, auf die sich Joisten ausführlich bezieht. Nicht, dass der Mensch heimatlos wäre, ist so schlimm, sondern dass er durch den Verlust der Ferne jeden Ort unterschiedslos zur Heimat erklären könnte und damit eigentlich keine mehr hat.
Joistens philosophische Anthropologie ließe sich beschreiben als Versuch, die Dimension der Erfahrung wieder zu erschließen. Heimat wäre nichts anderes als die Rückgewinnung der Lebenswelt. Allerdings gerät „Heimat” hier zu einem wenig welthaltigen Phänomen. Zunächst nämlich ist der Mensch in seinem „Heim”, von dort erst macht er sich auf seine Wege.
Dabei ist er letztlich, sobald er beim Weggehen die Tür hinter sich schließt, schon wieder auf dem „Heim-weg”, ein Grundbegriff, der anzeigen soll, dass nur das Beheimatetsein dem Menschen das Aufbrechen ermöglicht. Das postulierte Wechselspiel zwischen Heimat und Aufbruch, Eigenem und Fremdem fällt letztlich immer zugunsten des Daheimseins in sich zusammen, insofern das Heim das „Primärphänomen” ist, der „Ort, wo eine ursprüngliche Einung geschieht”.
Was kein Gemüt bewältigt
Auch die gelingende Begegnung mit dem anderen findet nur daheim statt. Die Straße ermöglicht es zwar, sich zum anderen „Heim-zum-Mitheim” aufzumachen – doch selbst ist sie lediglich Ort des „Streifens”: „Beim Gehen auf der Straße setzt sich der Mensch nicht auf dem Bürgersteig nieder und vertieft sich mit einem Vorübergehenden in ein Gespräch, sondern er unterbricht höchstens seinen Gang, wechselt einige Worte und läuft danach nur noch schneller weiter.”
Die Öffentlichkeit der Straße ist ethisch genauso suspekt wie das anonyme Chatten im Internet, weil sie kein vertieftes Sich-Einlassen auf den anderen ermöglicht. Die ethisch wertvolle Begegnung mit einem anderen findet nur statt, wo ihm geöffnet und er eingelassen wird.
„Die Begegnung kann gelingen, wenn der Mensch nicht zu weit geht und darüber unbefugt die Grenze des Mitmenschen überschreitet, wenn er also nicht in anderen Eigenraum vordringt und verletzt, wo er öffnen und vertiefen könnte.” Die Dimension des Anderen, wie sie das ethische Denken Emmanuel Lévinas’ bestimmt, bleibt draußen. „Daß die Gegenwart des Anderen in unser Leben einmal hereinbricht”, heißt es in einem Brief Heideggers an Hannah Arendt, „ist das, was kein Gemüt bewältigt.”
Der Einbruch des Anderen würde Joistens in seinem Heim aufgeschreckten Menschen vermutlich allenfalls veranlassen, die Polizei zu rufen.
SONJA ASAL
KAREN JOISTEN: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie. Akademie Verlag, Berlin 2003. 372 Seiten, 49,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH