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Hunderttausende waren in den 1970er Jahren in linksradikalen Gruppen organisiert, am extremsten in der terroristischen RAF. Warum brach in einer Zeit des Wandels hin zu mehr individueller Freiheit ein Großteil des intellektuellen Nachwuchses mit der Bundesrepublik? Faktenreich geht Gunnar Hinck dem Phänomen auf den Grund. Welche Bedeutung hatte es, dass viele Aktivisten aus Familien kamen, die durch den Nationalsozialismus beschädigt waren? Und inwiefern wirkt die zentrale Erfahrung des Bruchs bis heute nach?

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Produktbeschreibung
Hunderttausende waren in den 1970er Jahren in linksradikalen Gruppen organisiert, am extremsten in der terroristischen RAF. Warum brach in einer Zeit des Wandels hin zu mehr individueller Freiheit ein Großteil des intellektuellen Nachwuchses mit der Bundesrepublik? Faktenreich geht Gunnar Hinck dem Phänomen auf den Grund. Welche Bedeutung hatte es, dass viele Aktivisten aus Familien kamen, die durch den Nationalsozialismus beschädigt waren? Und inwiefern wirkt die zentrale Erfahrung des Bruchs bis heute nach?
Autorenporträt
Gunnar Hinck, geboren 1973 in Stade, studierte in Göttingen und Uppsala Politikwissenschaften, Publizistik und Öffentliches Recht. Volontariat bei der Märkischen Oderzeitung in Frankfurt/Oder und bei der Sächsischen Zeitung in Dresden, anschließend Redakteur für Innenpolitik bei der Mitteldeutschen Zeitung in Halle. Lebt heute als freier Autor in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2012

Von Abarbeitern und Abstreifern
Die verdrängte Vergangenheit des westdeutschen Linksextremismus

Während der RAF-Terrorismus fester Bestandteil der Erinnerungskultur in diesem Land ist und die ihm vorausgehende Studentenbewegung der Achtundsechziger in der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung breite Aufmerksamkeit erfahren hat, bleibt ein anderes Kapitel der bundesdeutschen Vergangenheit bis heute merkwürdig im Dunkeln: das des Linksextremismus. Im "roten Jahrzehnt" - wie der Historiker Gerd Koenen, der selbst ein leitender Kader des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands (KBW) gewesen war, die siebziger Jahre genannt hat - standen nicht nur die Terroristen, sondern auch ein bedeutender Teil der Jahrgänge 1940 bis 1960 dem System der Bundesrepublik Deutschland radikal ablehnend gegenüber.

In marxistisch-orthodoxen, trotzkistischen, maoistischen oder Sponti-Gruppen organisiert, propagierten sie den revolutionären Umsturz und das Ziel einer weltweit zu errichtenden kommunistischen Gesellschaftsordnung. Viele von ihnen hießen Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung gut und freuten sich über die Mordtaten der RAF nicht nur klammheimlich. Auf den gesamten Zeitraum gerechnet, belief sich die Zahl der Personen, die irgendwann Mitglied der linksextremen Organisationen waren oder zum Umfeld gehörten, auf etwa 200 000 bis 250 000. Unter den Studenten wird ihr Anteil mit 20 bis 30 Prozent angegeben. Bedenkt man, dass dem Linksextremismus auch in seiner Hochzeit jeglicher Massenanhang fehlte - der zusammengenommene Stimmenanteil der K-Parteien lag bei Wahlen selten oberhalb ein Prozent -, stellte dies eine beträchtliche Größenordnung dar.

Wie konnten Menschen, die für emanzipatorische und humanistische Ideale angetreten waren, sich auf einen solchen Irrweg begeben? Warum engagierten sie sich in Organisationen, die auf der Basis eines absoluten Wahrheitsanspruchs jede abweichende Meinung unterdrückten und ächteten? Warum verherrlichten sie blutrünstige Diktatoren wie Mao Tse-tung oder Pol Pot? Gunnar Hinck kann sich diesen Rätseln unbefangen nähern. 1973 geboren und in einem nichtlinken Elternhaus aufgewachsen, hat er mit vielen der Irregeleiteten gesprochen, sie nach ihrem biographischen Hintergrund, ihren Motiven und ihrer heutigen Sicht auf das damalige Tun befragt. Gängige Interpretationsmuster werden dabei in Frage gestellt. Die einflussreichen und wichtigen Aktiven der 68er-Generation waren weder verwöhnte Wohlstandskinder, noch mussten sie sich in der Regel gegen die Nazi-Vergangenheit des Vaters beziehungsweise der Eltern auflehnen: "Überdurchschnittlich häufig stammten sie aus dem Bürgertum, jedoch aus beschädigten, gebrochenen bürgerlichen Familien." Oft wuchsen sie ohne Vater auf oder hatten ein Vertriebenenschicksal.

Leser des Buches werden erstaunt sein, wie viele Angehörige des "politisch-medialen Komplexes" hierzulande eine kommunistische Vergangenheit haben. Hans-Jochen Vogels schönes Bonmot, wonach "der Marsch durch die Institutionen die Marschierer stärker verändert hat als die Institutionen", lässt sich an der Vita bekannter Spitzenpolitiker belegen. Allein das Führungspersonal der 1998 ins Amt gekommenen rot-grünen Bundesregierung bestand zu einem erklecklichen Teil aus ehemaligen dogmatischen Marxisten, auf der SPD-Seite etwa Olaf Scholz, Klaus-Uwe Benneter und Ulla Schmidt, bei den Grünen Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Kerstin Müller, Andrea Fischer, Krista Sager, Angelika Beer und Reinhard Bütikofer.

Hinck teilt die Ehemaligen in vier Gruppen: die Desillusionierten, die sozial eher am Rand lebten, immer noch links oder linksradikal dächten, sich politisch aber nicht mehr betätigten; die Bürgerlichen, die es sich in den linksliberal-grünen Milieus der Wohlstandsgesellschaft bequem eingerichtet hätten; die Leugner, die nach einer erfolgreichen Karriere im "Feindsystem" von ihrer Vergangenheit nichts mehr wissen wollten; und die Konvertiten, die heute offen völlig andere, zum Teil entgegengesetzte Positionen verträten und sich deshalb exzessiv an der eigenen Geschichte abarbeiteten.

Speziell mit der letztgenannten Gruppe geht der Autor wenig gnädig ins Gericht. An den Beispielen des Historikers Götz Aly und der Journalisten Thomas Schmid ("Die Welt"), Franz Sommerfeld ("Kölner Stadt-Anzeiger") und Bernd Ziesemer ("Handelsblatt") zeigt er, welche Folgen es hat, wenn man (zu) viel Energie "in das Abstreifen der alten, offensichtlich Scham bereitenden Biographie investiert". Nicht nur, dass damit "durchaus richtige Bestandteile der alten Denkungsart gleich mit entsorgt" würden. Der Marktradikalismus, dem die Konvertiten heute frönten, und die marxistische Ideologie wiesen auch erstaunliche Parallelen auf: die Begründungslosigkeit ihrer Argumente, ihr quasi-religiöser Charakter, der Primat der Ökonomie und das Ressentiment gegenüber dem Staat im Allgemeinen und dem Sozialstaat im Besonderen.

Diese Parallelen sind gewiss überzeichnet. Obwohl selbst biographisch nicht involviert, scheint sich der Autor hier seinerseits an den betrachteten Personen "abzuarbeiten", was seine Kritik manchmal etwas holzschnittartig macht. Die rot-grünen Sozial- und Arbeitsmarktreformen oder der Kriegseinsatz im Kosovo waren zum Beispiel keineswegs nur vom Ziel des Machterhalts diktiert, sondern auch von inhaltlichen Überzeugungen.

Dennoch beleuchten die "Konvertiten" ein für die Entwicklung der politischen Debatte in der Bundesrepublik zentrales Problem. Das "rote Jahrzehnt" hat den Linksradikalismus so gründlich diskreditiert, dass über eine grundsätzliche Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem gar nicht mehr diskutiert wird. Dabei gäbe es heute viel bessere Gründe als früher, den Kapitalismus in Frage zu stellen: die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte, die wachsende Spaltung zwischen Arm und Reich, der Bedeutungsverlust demokratisch legitimierter Politik. Die Zeit von Mitte der fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre war eine Goldene Ära des Wohlfahrtsstaates und der Demokratie. Dass die Revolution ausgerechnet damals geprobt werden sollte, kommt einem im Nachhinein tatsächlich verrückt vor.

FRANK DECKER.

Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre. Rotbuch Verlag, Berlin 2012. 464 S., 19,95 [Euro].

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