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Das halbe Jahrtausend, das Heinz Schilling in den Blick nimmt, ist die Zeit zwischen Kaiser Barbarossa und Friedrich dem Großen. Nach dieser Epoche prägen die miteinander ringenden Nationalstaaten das Gesicht Europas.
Ausstattung: mit 220 s/w. Abb. und 32 Farbtafeln

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Produktbeschreibung
Das halbe Jahrtausend, das Heinz Schilling in den Blick nimmt, ist die Zeit zwischen Kaiser Barbarossa und Friedrich dem Großen. Nach dieser Epoche prägen die miteinander ringenden Nationalstaaten das Gesicht Europas.

Ausstattung: mit 220 s/w. Abb. und 32 Farbtafeln
Autorenporträt
Schilling, HeinzHeinz Schilling, geboren 1942, Prof. Dr. Dr. h.c., verheiratet, 3 Kinder. 1963 - 1971 Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Köln und Freiburg. 1971 Promotion zum Dr. phil. mit "Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte (als Buch Gütersloh 1972). Wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Universität Bielefeld (1971 - 1977); Habilitation 1977 an der Universität Bielefeld mit einer Untersuchung zum Zusammenhang von Konfessionskonflikt und Staatsbildung im frühneuzeitlichen Deutschland (als Buch Gütersloh 1981). - 1977 bis 1982 C4-Professor für "Geschichte der frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück, von 1982 bis 1992 an der Universität Gießen, seit Mai 1992 an der Humboldt-Universität Berlin. (1986 Ruf an die Universität Münster abgelehnt). - 1987-89 Dekan des Fachbereiches 08, Geschichtswissenschaften, Universität Gießen; 1994-95 Dekan der neugegründeten Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin. Preise und EhrungenChevalier dans l'Ordre des Palmes Académiques 2000,Dr. A.H.-Heineken-Preis für Geschichte der Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences 2002,Dr. theol. h.c. der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen 2009
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.1999

Alles neu macht der Staat
Heinz Schillings moderne Geschichte der modernen Welt

Darstellungen der europäischen Geschichte haben Konjunktur. Erst 1998 hat der niederländische Historiker Peter Rietbergen eine fulminante Gesamtdarstellung vorgelegt, welche die Entwicklung der kulturellen Physiognomie des Kontinents bis in unsere Tage in kräftigen Linien nachzeichnet; jetzt also ein weiteres Opus magnum, das in den Zusammenhang einer Reihe des Siedler Verlags gehört. Eine Archäologie kontinentalen Bewusstseins möchte das groß angelegte Unternehmen sein, die historischen Voraussetzungen europäischer Identität aufspüren. Schillings Beitrag behandelt die historische Entwicklung Europas von der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts bis etwa 1750.

Europäische Geschichte, das ist natürlich nicht einfach die Addition von Nationalgeschichten. Jeder Historiker, der sich daran versucht, hat schon erzähltechnisch mit der Schwierigkeit umzugehen, dass er von einer Region zu schreiben hat, deren Charakteristikum eine schillernde Vielfalt von Staaten und Kulturen ist, die zusammen doch auf schwer zu bestimmende Weise ein Ganzes bilden. Erich Hassinger, der sich in der Nachkriegszeit an einer integralen Geschichte der Entstehung des neuzeitlichen Europa versuchte, schrieb schon damals von einem "halsbrecherischen Wagnis"; ihm gelang ein Meisterwerk. Und auch Schilling absolviert den Parforceritt mit Bravour. Sein Buch kann sich mit den Klassikern des Genres messen.

Der Autor bringt den Gang der Dinge unter die Formel "Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten". Er hebt damit auf eine bis weit in die Neuzeit verbreitete Form europäischen Selbstverständnisses ab. Zwar könnte man an die Allegorisierung des Themas in der venezianischen Malerei des sechzehnten Jahrhunderts erinnern, aber gewiss ist, dass es "Europa" als Idee und selbst als Begriff noch im siebzehnten Jahrhundert nur bei ganz wenigen gegeben hat. Schilling geht auf das Wort "christianitas" zurück, mit dem eine "gemeinsame Lebensweise und das Band einer alle Herrschaften und Völker einigenden Kultur oder Zivilisation" umschrieben wurde. Europäische Identität, so die These, entpuppte sich erst allmählich aus dem Kokon einer Gemeinschaft im Glauben. Allerdings gab es in Europa auch andere kulturelle Gemeinschaften, und das nicht nur an der Peripherie des Kontinents: die jüdische vor allem und die islamische. Ersterer wird in dem vorliegenden Werk eher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, während die kulturellen Leistungen des Islam durchaus gewürdigt werden. Der türkische Druck im östlichen Mittelmeerraum und in Ungarn beförderte die Herausbildung einer christlich-europäischen Identität.

Über weite Passagen ist Schillings Buch Bericht vom Aufstieg und Fall der Mächte. Fortwährend wechselte das "Chamäleon" Europa die Farben. Der Staat ist sein eigentliches Thema, er erscheint als mächtigste Kraft und zugleich als "europäischste" der Neuzeit. Seine Genese und Verdichtung erfährt der Leser als Ziel, auf das die Darstellung zustrebt. Mit der Einschränkung, dass der Autor Wert darauf legt, mögliche - und realisierte - Alternativen zur absolutistischen Staatsorganisation vorzuführen: Gebiete, wo ständische Partizipation möglich blieb, Republiken, Stadtstaaten und natürlich den Ausnahmefall England. Manches ist da zu positiv gesehen: die Partizipation in den meisten dieser "Gemeinwohlrepubliken", wie Schilling sich ausdrückt, war doch nur auf winzige Eliten beschränkt. Auf verrottete Staatswesen wie Genua oder das späte Venedig sollte man den Begriff ohnehin besser nicht anwenden.

Aus dem Süden kam das Licht

Mit der ihm eigenen prägnanten Formulierungskunst benennt Schilling "Vorreitergesellschaften", zu verschiedenen Zeiten führende Regionen des Kontinents, und er lässt seine Erzählung diesen wechselnden Zentren folgen. Die Wanderung durch Räume und Zeiten beginnt in Italien. In der Tradition Burckhardts führt er die "Staatskunstwerke" der Halbinsel vor Augen: die Wirtschafts- und Kulturmetropole Florenz mit ihrer ständig changierenden Verfassung; die glänzende Seerepublik Venedig, Mailand und Rom. Weiter führt der Weg in den östlichen Mittelmeerraum, auf die Iberische Halbinsel, nach Mitteleuropa, nach Osten, in den Norden, schließlich nach Westeuropa, die Niederlande, England, Frankreich.

Eindrucksvoll sind die Passagen über Spanien. Der Autor ist in seinen bisherigen Publikationen gewiss nicht als Panegyriker von Katholizismus oder imperialen Großstaaten hervorgetreten. Seine Neigung gehört ersichtlich der Republik, gehört korporativen Formen der Herrschaftsorganisation; auch für das, was Hans Baron in seiner eigenwilligen, zeitverhafteten Deutung civic humanism nannte, hat er Sympathie. Doch verstellen ihm solche Neigungen nicht den Blick etwa für die spezifischen Leistungen des spanischen Katholizismus, dessen Fähigkeit zur inneren Reform, wiederum zu Reformationen vor der Reformation. In Spaniens Konfessionalität lag, so Schillings Position, ein bedeutendes Modernisierungspotential. Die eiserne Allianz von Staat und Nationalkirche war fundamental für die Herausbildung frühnationaler Identität und eine wichtige Voraussetzung der kulturellen Blüte des siglo de oro, des spanischen goldenen Zeitalters im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert.

Zwei Optionen Schillings sind besonders überzeugend. Die eine hat mit der besonderen historischen Situation zu tun, in der das Buch geschrieben wurde: nämlich die Entscheidung, europäische Geschichte nicht in erster Linie als west- und mitteleuropäische Geschichte zu betreiben, wie das vielfach üblich ist. Die zweite ist die Ausweitung des Zeithorizonts. Ob man die "neue Zeit" - warum wird eigentlich nicht von der guten, alten "Neuzeit" gesprochen? - tatsächlich in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts beginnen lassen soll, darüber ließe sich endlos streiten. Zwar markiert der Untergang der Staufer gewiss eine Zäsur. Indes legen schon wirtschafts- und bevölkerungsgeschichtliche Daten andere Periodisierungen nahe. Auch in Schillings Buch finden sich keine Argumente, die dazu veranlassen könnten, die kulturhistorische Zäsur, die seit der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts greifbar wird und durch die Lebensdaten Petrarcas (1304 bis 1374) und Masaccios (1401 bis 1429) umschrieben werden könnte, zu relativieren. Und wenn es schon um "die neue Zeit" gehen soll - und das mit einer zentralen Perspektive auf den Staat -, warum dann nicht noch früher, nämlich mit Friedrich II. und dessen süditalienischem Modellstaat, beginnen? Trotz dieser und anderer möglicher Vorbehalte ist der Gewinn, den die Darstellung aus der Erweiterung der Chronologie gewinnt, außerordentlich.

Darstellungen der deutschen Geschichte lassen die Neuzeit gewöhnlich mit der Reformation einsetzen, vor der - wie es bei Hegel heißt - Humanismus und Renaissance allenfalls als "Morgenröte" erscheinen. In Schillings Darstellung bleiben diese kulturellen und sozialen Bewegungen nicht einfach Präludien zu etwas Größerem, Wichtigerem, sie gewinnen eigenes Relief. Städte und Universitäten werden als "Maschinen" kulturellen Wandels vorgeführt und als Katalysatoren politischer Verdichtung; als Kommunikatoren des römischen Rechts, das zu einem europaweit wirksamen Instrument der Staatsformierung wurde. Die Staaten der italienischen Pentarchie zeigt Schilling zugleich als Inkubationsräume bahnbrechender künstlerischer Entwicklungen, als Geburtsorte neuer theoretischer Konzepte von Staat und Politik, ja eines neuen Blicks auf die Welt und die Menschen: Hier bildete sich ein Staatensystem aus, das modellhaft die komplizierte Balance des neuzeitlichen Mächteeuropa vorwegnahm.

Aus dem Glauben kam die Kraft

Die Reformation selbst und die katholische Erneuerung und Gegenoffensive danach werden eingebettet in den größeren Zusammenhang spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Reformationen, ja einer umfassenderen Modernisierungsdynamik. So macht Schilling auf die Verdichtung der Staatlichkeit auch im Patrimonium Petri aufmerksam, auf die Genese des "päpstlichen Fürsten" im fünfzehnten Jahrhundert: eine Sichtweise, von der aus die Reformation als Reaktion auf den römischen Modernisierungsprozess interpretiert werden kann. Weniger vertraut als Wyclif und Hus dürften dem Leser die monastischen Reformbewegungen in Mittel- und Oberitalien, in Spanien und in den Niederlanden sein.

Einer Darstellung mit integraler Absicht wie der vorliegenden hätte sich hier Gelegenheit geboten, in die ebenfalls nicht neue, gleichwohl sehr aktuelle Debatte um die Entstehung des Individuums, um die Genese des modernen Subjektivismus einzugreifen. Schilling erinnert zu Recht daran, dass die Reformation nicht einfach als Befreiung des Einzelnen interpretiert werden kann, der sich gerade in reformierten Städten und Gemeinden rasch eingesponnen sah in neue korporative Strukturen, die Sicherheit boten, aber auch überwachten, gängelten, disziplinierten. Aber welche langfristigen psychischen Folgen zeitigte die "antiritualistische Revolte", als die Mary Douglas die Reformation interpretiert hat? Immerhin zwang sie dazu, sich Gott durch Denkanstrengung zu nähern, die eigene Rechtfertigung durch intensive Selbstreflexion zu suchen. Schließlich: In welcher Beziehung steht all das zu den im Humanismus aufbrechenden Individualisierungstendenzen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der Zunahme realistischer Porträts finden? Liegen die Ursachen dafür, dass es in der "Vorreitergesellschaft" Italien keine Reformation gab, in der durch Rom vorweggenommenen Modernisierung? Nahm dazu die Diskursrevolution der italienischen Renaissancegesellschaft, ihre deutlichere - nicht ausschließliche - Orientierung auf weltliche Gegenstände wie Kunst und Technik, soziale Verbände wie Staat und Familie der theologischen Debatte die Spitze?

Der Autor führt seine Darstellung bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, bis an die Schwelle des "Sattels" vor dem Durchbruch der Moderne - anders als Hassinger, der sein Buch mit dem Blick auf die Zeit um 1600 enden ließ. Schilling will dem Leser die "gehegte Konkurrenz", das labile Gleichgewicht der Mächte vor Augen führen, das die Staatengeschichte Alteuropas zu einem gewissen Abschluss brachte. In seiner Morphologie deuten sich die Umrisse des noch in ferner Zukunft liegenden modernen Europa an, das seine Identität als "Schicksalsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb" gewinnen sollte. In ihm wurden allmählich jene Dialoge wiederaufgenommen, die in der Renaissance begonnen und vom Glaubensstreit unterbrochen worden waren.

Der Blick auf das vorrevolutionäre, aufgeklärte Europa könnte optimistisch stimmen. Aber man weiß ja, dass, was Schilling mit dem Bild vom "Staatenballett Europa" umschreibt, nicht lange nach jener Epoche in einen grausamen Totentanz umschlug.

BERND ROECK

Heinz Schilling: "Die neue Zeit". Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750. Siedler Geschichte Europas. Siedler Verlag, Berlin 1999. 560 S., 185 Abb., 32 Farbtafeln, geb., 148,- DM.

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