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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Partisan
Martin Schulz über die Zukunft der EU
Wenn einer wie Martin Schulz, der zur Zeit Präsident des Europäischen Parlamentes ist und der durchaus noch mehr in Europa werden will, ein Buch schreibt, dann nicht aus der Sicht des Betrachters sondern mitten aus dem politischen Gewühl heraus. Klugerweise nennt Schulz sein Buch darum auch ein „Plädoyer“. Der Titel ist alarmistisch: „Der gefesselte Riese. Europas Letzte Chance“. Das hört sich nach bösen Mächten an, die Europa daran hindern, es selbst zu sein und nach einem Abgrund, in den es zu stürzen droht, wenn nicht Entscheidendes schnell geschieht. In Zeiten der Krise ist es eben en vogue, die europäische Einigung in der Kategorie von Sein oder Nichtsein zu betrachten.
Als Politiker neigt Schulz nicht dazu, unterschiedliche Positionen skrupulös gegeneinander abzuwägen; im öffentlichen Auftritt liebt er den politischen Holzschnitt mit klaren Konturen und Kanten. Dennoch ist das Buch ein interessanter Beitrag zu der in Europa immer noch unstrukturiert vor sich hin wabernden Debatte über die Zukunft des Kontinents. Schulz, in der europäischen Politik und ihren Hinterzimmern erfahren wie nur wenige, versucht sich nämlich an einem sozialdemokratischen Gegenentwurf zur derzeitigen europäischen Krisenpolitik. Die ist politisch konservativ und wirtschaftlich liberal dominiert. Anders als – wie er glaubt – kurzfristige Krisenmanager wie Angela Merkel ist Schulz überzeugt, dass allein ein kompletter Umbau der EU noch helfen kann.
Nur so könne sie ihre „letzte Chance“ nutzen, sich in einer Welt erfolgreich zu positionieren, die durch Globalisierung und den Aufstieg der asiatischen Mächte geprägt ist und die das europäische Sozialmodell und seine Werte massiv herausfordern. Diese im globalen Wettbewerb mit ökonomisch aggressiven Mächten wie China zu bewahren und möglicherweise sogar über die Grenzen Europas hinaus zu exportieren, gelinge nur, wenn Europa entfesselt werde. Und so plädiert er für ein Europa, in dem die existenziellen politischen Fragen gemeinschaftlich angegangen werden: Wirtschaft, Finanzen, Handel, Klimaschutz, Migration. Aber auch zu einem gewissen Maß die Sozialpolitik und die Außenpolitik, wobei er sich zur Sicherheitspolitik weitgehend ausschweigt. Schulz propagiert freilich kein dumpfes Anhäufeln weiterer Zuständigkeiten in Brüssel, sondern eine komplette Neuverteilung der Kompetenzen. Vieles, was Brüssel heute mache, könne vor Ort viel besser geregelt werden.
Anders als andere EU-Führer hält Schulz die Kritik an „Brüssel“ in vielen Punkten durchaus für gerechtfertigt. Die EU müsse sich auf die gemeinsamen strategischen Interessen ihrer Mitglieder konzentrieren. Aber wie? Die Nationalstaaten hätten in der Krise versagt, sagt Schulz. Sie hätten eigensüchtig und nicht gemeinschaftsdienlich gehandelt. Hier kommt die Figur des gefesselten Riesen ins Spiel. In ihr steckt ja die Frage, wer die EU warum daran hindert, ihr Potenzial auszuleben. Die Antwort darauf könnte der Schlüssel zu den europäischen Möglichkeiten sein. Doch an diesem Punkt geht mit Schulz leider der Brüsseler Partisan durch: Mit der Formel, dass die nationalen Regierungen aus Furcht vor dem „Boulevard“ und vor heimischen Wahlen in der Krise verschleppt, verzögert und getrödelt haben, verstellt er sich den Blick dafür, dass die Völker vielleicht einfach gar nicht mehr Europa wollen. Vielleicht ist der Riese ja nicht gefesselt, sondern er ist gar kein Riese.
Das angenommen geriete allerdings die zentrale Idee des Buches ins Wanken: Die Schaffung eines europäischen Föderalstaates etwa nach dem Muster der Bundesrepublik: Kommission als Regierung, Europaparlament als Parlament und die bislang so mächtige Versammlung der Staats- und Regierungschefs als „zweite Kammer“ wie etwa der Bundesrat. Das ist ein gewaltiges Vorhaben und liefe auf eine Neugründung der EU hinaus. Am Widerstand etlicher Länder dürfte es scheitern.
Es sei denn, die Europäer folgen der Idee von Martin Schulz, das in der EU übliche Veto in Vertragsfragen einfach auszuschalten. Ein Konvent soll einen neuen Vertrag ausarbeiten und ihn den Völkern zur Abstimmung vorlegen, schlägt Schulz vor. Wobei dann diejenigen Staaten, die ihn ablehnen, „automatisch aus der EU ausscheiden“. Die nationalen Politiker will er mit der Androhung des Ausschlusses ihrer Länder aus der EU dazu zwingen, vor ihren Völkern für ein neues und stärkeres Europa zu werben.
Indem er die Entwicklungsmethode der europäischen Einigung vom Konsens auf ein Mehrheits- und zugleich Selbstausschlussverfahren umstellt, begibt Schulz sich auf ein gefährliches Gleis. Am Ende hat er womöglich kein stärkeres, sondern ein zersplittertes Europa. Aber immerhin: Sein Vorstoß kann zur Klärung von Standpunkten in einer europaweit immer noch sehr verworrenen Debatte über die Zukunft der EU beitragen.
MARTIN WINTER
Martin Schulz : Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance. Rowohlt, Berlin 2013. 271 S., 19.95 Euro.
Martin Schulz plädiert für
einen europäischen Föderalstaat.
Ob das wohl machbar wäre?
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