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Wozu brauchen wir eine politische Philosophie? Die Frage nach der Gerechtigkeit ist einer der ältesten und kontroversesten in der Philosophiegeschichte. Die heutige politische Philosophie ist selbstgefällig geworden, sie muss die eigenen Entstehungsbedingungen kritisch beleuchten und sich ihrer Aufgaben - der Machtanalyse und der Ideologiekritik - wieder neu bewusst werden, um nicht dem Bereich des Wunschdenkens oder bloßer Dichtung zu verfallen. Eine politische Philosophie, die die Machtfrage systematisch ausblendet, gerät unter Ideologieverdacht. Diese Streitschrift zeigt auf, welche…mehr

Produktbeschreibung
Wozu brauchen wir eine politische Philosophie? Die Frage nach der Gerechtigkeit ist einer der ältesten und kontroversesten in der Philosophiegeschichte. Die heutige politische Philosophie ist selbstgefällig geworden, sie muss die eigenen Entstehungsbedingungen kritisch beleuchten und sich ihrer Aufgaben - der Machtanalyse und der Ideologiekritik - wieder neu bewusst werden, um nicht dem Bereich des Wunschdenkens oder bloßer Dichtung zu verfallen. Eine politische Philosophie, die die Machtfrage systematisch ausblendet, gerät unter Ideologieverdacht. Diese Streitschrift zeigt auf, welche Aufgaben die politische Philosophie wahrnehmen muss, um in der Balance zwischen normativen Denkmodellen und der Analyse der Wirklichkeit den globalen Fragestellungen unserer Zeit angemessen begegnen zu können.
Autorenporträt
Raymond Geuss, Professor für Philosophie an der University of Cambridge seit 2007. Mitherausgeber (mit Quentin Skinner) der Reihe: "Cambridge Texts in the History of Political Thought". Raymond Geuss' Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. "Philosophy and Real Politics" erschien 2008 bei Princeton University Press.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2011

Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernst genommen!

Da ist sich Raymond Geuss mit Machiavelli einig: Die Welt des Politischen ist keine Welt der Überzeugungen und Auffassungen, sondern eine Welt des situativen Handelns.

Von Beginn an haben sich politische Philosophen darüber gestritten, wie politische Philosophie am besten zu betreiben sei. Die Platoniker meinen, dass politische Philosophie sich vor allem auf eine ausgearbeitete Konzeption des Guten und Gerechten zu stützen habe, um dem Handelnden wie dem Urteilenden Maßstäbe und Orientierungen von allgemeiner Gültigkeit an die Hand geben zu können. Dieses Wissen von den Werten und Normen finden sie außerhalb der Höhle der geschichtlichen menschlichen Existenz, in der Hierarchie der Ideen, der Ordnung der Natur oder in der Verfassung der reinen, alle vernünftigen Wesen einenden Vernunft.

Die Aristoteliker hingegen sind davon überzeugt, dass es das Gute an sich und ewig gültige Normen nicht gibt, dass es wenig hilfreich für das Handeln wie das Verstehen ist, die Realität vor den Richterstuhl der reinen Vernunft zu zerren. Nie darf das hermeneutische Einmaleins vergessen werden, die Geschichtlichkeit des Menschen, die Kontextualität aller Bedeutungen, die Situativität aller Handlungen. Illusionär ist es für diese wirklichkeitsaufmerksamen Philosophen, Letztbegründung anzustreben; ein derartiges Erkenntnisziel verführe nur dazu, die komplexe Wirklichkeit mit tabula-rasa-Konstruktionen, vereinfachenden Vernunft- und Menschenmodellen und idealisierenden Annahmen zu verstellen. In diesem Streit hatten die Platoniker immer das bessere Image. Sie waren es, die sich aufopferungsvoll vom Joch des Geschichtlichen und Empirischen befreiten und in die Höhen des Reinen und Abstrakten strebten. Sie waren die noblen Idealisten. Ihre realistischen Gegenspieler indes waren die Schmuddelkinder, immer dem Verdacht ausgesetzt, sich mit den schlechten Verhältnissen gemein zu machen.

Und auch hinsichtlich der Qualität der Theorie gibt es große Unterschiede. Während die Freunde des Apriorischen immer neue Systeme ersinnen, müssen sich die Parteigänger des Aposteriorischen damit begnügen, Triviales in Erinnerung zu rufen. Wie die Skeptiker führen sie eine parasitäre Existenz, leben ausschließlich von den forschen Übertreibungen der anderen. Sie sind die kleinen Meister des zurückschwingenden Pendels. Weil sich die Idealisten um die von ihnen aufgezeigten Beschränkungen einfach nicht scheren, müssen sie ihre hermeneutischen und kontextualistischen Plädoyers immer von neuem vorbringen. Sie sind zur Reaktion verdammt und haben daher auch nie die Definitionshoheit erobern können. Was als politische Philosophie gilt, haben immer die Platoniker und Kantianer festgelegt.

Mit dem Auftauchen des von John Rawls inspirierten Neo-Kantianismus ist in dem alten und bereits ein wenig ermüdenden Methodenstreit zwischen den Platoniker und Aristotelikern eine neue Runde eingeläutet worden. Schnell stellten sich nach dem Erscheinen der "Theory of Justice" die realistischen Kritikreflexe ein. Für seine Gegner war die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie eine, wie John Gray in einer Rezension des "Times Literary Supplement" schrieb, Philosophie der "Entleerung des politischen Lebens", die angesichts der drückenden politischen Probleme der Gegenwart ins normative Arkadien des Rechts- und Moraluniversalismus flieht und für die dilemmatische Welt des Nicht-Idealen, für die Niederungen des Romulus untauglich ist.

Auch Raymond Geuss beteiligt sich an dieser Rettung der Politik vor der politischen Philosophie, bekämpft in seiner Streitschrift die Vorherrschaft des Neo-Kantianismus und damit des Typus der "Ethik hat Vorrang"-Theorie im Nachdenken über das politische Handeln und Urteilen. Damit der Philosophie ein theoretischer Zugriff auf die Politik gelingt, der Erkenntnis und Verstehen ermöglicht, anstatt die Wirklichkeit in den moralischen Dualismus des Guten und Schlechten zu zwingen, muss seines Erachtens viererlei bedacht werden. Zum einen, da ist sich Geuss mit Machiavelli einig, muss die Philosophie Mut zum Realismus aufbringen, die Menschen so nehmen, wie sie sind, und nicht ihre moralischen Inkonsistenzen und kognitiven Unzulänglichkeiten hinter Reißbrettmodellen normativer Schlüssigkeit und vollkommener Rationalität verbergen.

Weiterhin, hier ist an die praxeologischen Politikkonzepte Hannah Arendts und Ernst Vollraths zu denken, muss sich die Philosophie darüber klarwerden, dass die Welt des Politischen keine Welt der Überzeugungen und Auffassungen, sondern eine Welt des Handelns ist, das in ein Geflecht von Voraussetzungen, Folgen und Nebenfolgen eingebettet ist.

Daher ist es auch illusionär, so der dritte Punkt, die Welt der Politik als Anwendungsgebiet zeitlos gültiger Problemstellungen und Lösungsmuster anzusehen. Wer als Politiker dieser Illusion anhing, dem pflegte Konrad Adenauer entgegenzuhalten: Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernst genommen! Alles kann nur aus seiner geschichtlichen Verortung angemessen begriffen werden. Daher ist es auch irrig, die politische Philosophie als Behandlung ewiger Fragen zu betrachten. Derartiges gibt es in der politischen Philosophie nicht.

Und weil das Politikbetreiben ein Handwerk, eine Kunst ist, ist auch viertens davon Abstand zu nehmen, sich Politik nach dem Modell der Theorieanwendung verständlich zu machen. Schon Aristoteles hat das gegen Platons theorielastiges Politikkonzept vorgebracht. Was Geuss hier zusammenträgt, ist ersichtlich nicht neu. Es sind all die menschlichen Selbstverständlichkeiten, die übrigbleiben, wenn die politische Philosophie einer Kritik unterworfen wird, die ihre normative und theoretische Überschwänglichkeit zurückschneidet. Was bleibt aber von der Philosophie selbst übrig, der Modellbastelei und Levitation ins Idealische gleichermaßen ausgetrieben wird, die so nah an die Realität herangeführt wird, dass ihr mangels begrifflichem Abstand nur bleibt, diese im sprachlichen Abbild zu verdoppeln?

Als Kant die reine Vernunft der Kritik unterwarf, war es nicht mehr möglich, eine Metaphysik der großen Gegenstände Gott, Seele und Welt zu betreiben, aber immerhin konnte das Unternehmen der Vernunfterkenntnis im Gewand einer Theorie der nicht-empirischen Bedingungen der Erfahrung gerettet werden. Die Kritik der politischen Philosophie von Geuss hingegen nimmt dieser alles Philosophieeigentümliche, lässt keinen Unterschied zwischen politischer Philosophie und politischer Theorie erkennen.

Der Hauptfehler dieser intellektuell süffigen Streitschrift ist ihr Absolutheitsanspruch. Raymond Geuss mag ja den Weg vom Neo-Kantianismus zum Neo-Leninismus einschlagen und die Strukturen der realen Macht untersuchen. Aber die gesamte politische Philosophie muss ihm keineswegs folgen. Die Idealisten besitzen nicht das Sinnmonopol, die Realisten aber auch nicht. Warum sollte es nicht weiterhin eine legitime, lohnende und für die rationale Qualität der gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurs zudem nützliche Aufgabe der politischen Philosophie sein, über Legitimationsprobleme, Demokratiemodelle und unterschiedliche Freiheits- und Gerechtigkeitskonzepte nachzudenken?

WOLFGANG KERSTING

Raymond Geuss: "Kritik der politischen Philosophie". Eine Streitschrift.

Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Hamburger Edition HIS Verlags GmbH, Hamburg 2011. 141 S., geb., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Rolf Wiggershaus hat hohe Erwartungen an ein Buch mit einem solchen Titel. Erfüllt werden sie nicht. Was der Philosophieprofessor Raymond Geuss hier aus einem Vortrag zu "Rawls und die politische Philosophie" an Kritik an einer Idealtheorie der Ethik entwickelt, erscheint Wiggershaus zu "autoritativ und begründungsarm". Speziell die Auseinandersetzung mit Rawls' Denkmodell eines Urzustandes aus seiner "Theorie der Gerechtigkeit" sowie die von Geuss eigentlich geforderte Interdisziplinarität in der politischen Philosophie findet Wiggershaus nicht überzeugend erfüllt. Abstrakte Allgemeinheiten, da ist sich Wiggershaus sicher, entscheiden den Streit zwischen den Verfechtern des Realismus und den Vertretern eines "verfehlten Realismus" (Geuss) in der politischen Philosophie nicht.

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