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Autorenporträt
Andreas Urs Sommer, geb. 1972, Studium der Philosophie, Kirchen- und Dogmengeschichte und Deutschen Literaturwissenschaft in Basel, Göttingen und Freiburg im Breisgau, Lizentiat 1995, Promotion 1998 an der Universität Basel, 1998/99 Visiting Research Fellow an der Princeton University, 2000-2006 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Institut der Universität Greifswald, Visiting Fellow an der School for Advanced Study der University of London, Habilitation 2004 an der Universität Greifswald, Lehrstuhlvertretung an der Universität Mannheim, seit 2008 Wissenschaftlicher Kommentator der Werke Nietzsches an der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, umhabilitiert an das Philosophische Seminar der Universität Freiburg
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Ich darf wohl sagen, daß mich das Christentum mein Leben gekostet hat
Doch Franz Overbeck überlebte es: Nun ist ein großer Schriftsteller zu entdecken - wenn die Editoren es erlauben / Von Kurt Flasch

Am 25. März 1886 schrieb Nietzsche seinem alten Basler Freund Overbeck, er freue sich immer, wenn er von ihm etwas zu lesen bekomme: "Ich lese Dich so gern, selbst noch abgesehn von dem, was man durch Dich lernt. Du verschlingst so artig Deine Gedanken, ich möchte fast sagen, listig, als ein Mensch der nuances, der Du bist. Der Himmel segne Dich dafür, in einem Zeitalter, das täglich plumper wird." Über Nietzsches Philosophie mag jeder urteilen, wie er es begründen kann; sein literarischer Geschmack - zumindest für die Texte anderer - ist unbestritten. Und wenn er Overbeck noch in der späten Zeit das Kompliment machte, er lese seine Texte gern, dann heißt das: Franz Camille Overbeck (1839 bis 1905) war ein bedeutender Schriftsteller, abgesehen von all seiner Gelehrsamkeit und seiner theoretischen Position.

Die Zeiten sind inzwischen nicht weniger plump geworden: Overbeck als literarische Größe, als Meister der Nuancen ist noch zu entdecken. Still, listig geradezu, wartet er darauf, als einer der großen Basler Vier aufgesucht zu werden. Neben Burckhardt, Bachofen und Nietzsche gibt es ranggleich den Schriftsteller Overbeck. Zu entdecken ist er nur, indem wir ihn selbst lesen, vorgängig zu inhaltlichen Konvergenzen oder Divergenzen, unabhängig vom gelehrten Detail. Befreien müssen wir ihn aus den entstellenden Verpackungen, in denen er uns präsentiert worden ist. Es hat sich eingebürgert, ihn vorzustellen als den Freund Nietzsches. Das war er wirklich; er hat vier Jahre mit ihm im Haus am Schützengraben 45 zusammengelebt; er hat für ihn gesorgt und hat zu ihm gehalten bis zuletzt, aber das ist es nicht, worum es geht: Er ist ein Autor eigenen Rechts, mit eigenen Themen und eigenem Stil.

Ein anderes Etikett ist das Wort "Theologie". Es ist nicht völlig falsch, schließlich war Overbeck von 1870 bis 1897 Professor für Theologie in Basel. Aber er hielt nichts von Theologie; er bestritt sowohl ihre Christlichkeit wie ihre Wissenschaftlichkeit. Karl Barth hat ihn zu seinem Vorläufer stilisiert; dazu hat er 1920 - "Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie" - die Redensart aufgebracht, Overbeck habe "Anfragen" an die Theologie gestellt. Seitdem kehrt das Wort "Anfragen" auf der Titelseite theologischer Publikumsrenner immer wieder. Aber der wirkliche Overbeck hat der Theologie keine "Anfragen" gestellt, er dachte, er singe ihr den Grabgesang, und das ist bei Gott etwas anderes.

Rückblickend schrieb er, schon 1873 mit seiner frühen Abhandlung über "Die Christlichkeit unserer Theologie" habe er nichts anderes im Sinn gehabt, "als ein Todtenkleidchen für unsere deutsche Theologie zu verfertigen", und die Verkleinerungssilbe kommt nicht daher, weil die Theologie nur ein bißchen tot wäre, sie sagt nur, daß sein Schriftchen - der "Zwillingstext" zur ersten "Unzeitgemäßen Betrachtung" - klein sei. Overbeck glaubte nicht etwa, er selbst könne durch seine Polemik die Theologie zugrunde richten; er dachte an einen geschichtlichen Vorgang von langem Atem; das "Todtenkleidchen" macht nicht die Leiche. Man werde unter dem Namen "Theologie" noch eine Weile weiterwerkeln, aber "begraben wird sie einmal".

Overbeck war ein großer Stilist. Und wie es nicht anders sein kann, er wußte es auch. In seiner riesigen Sammlung von Notaten - sorgfältig ausgearbeiteten, persönlich gehaltenen Artikeln - findet sich auch ein Stichwort "Stil, mein". Darin beginnt er - er, der in St. Petersburg geboren wurde, dessen Mutter Französin war und der als Kind zwei Jahre in Paris gelebt hatte -, damit er nicht in Deutschland geboren sei, noch mit zwölf Jahren habe er nur unvollkommen Deutsch gesprochen und sei "überdies ein Stilist wohl überhaupt nicht". Auf das nuancierende Wörtchen "wohl" kommt es an, denn nach einigen verunglimpfenden Zitaten von Theologen, die sich Overbecks erwehren wollten, indem sie seinen Stil angriffen, vermerkt der Autor, immerhin habe ein "Stilist" (das Wort, das hier zu wenig sagte, in Anführungszeichen gesetzt), also ein "Stilist" wie Nietzsche habe Rohde seinen, Overbecks, Stil als Muster vorgehalten. Er könne, schreibt er, für seinen Stil immerhin geltend machen, daß er wert sei, korrigiert zu werden. "Dieser Stil hat gelebt und gelitten."

"Gelebt und gelitten" - dies sprengt auch die andere Verpackung, die uns Overbeck als gelehrten Historiker präsentiert oder als Philologen der altchristlichen Texte. Dies war er zwar, wie er ja auch der Freund Nietzsches war und wie er das "Todtenkleidchen" der Theologie hat nähen wollen, aber er war mehr als ein Gelehrter; er schrieb und er dachte "subjektiv": Über sich schreiben, über Eindrücke und Empfindungen, Lektüren und Gedanken, dies aber so genau wie möglich, dies hielt er für den einzigen Weg zur Objektivität. Er benutzte seine immense Gelehrsamkeit nicht als Panzer. Als Essayist und Polemiker, Aphoristiker und Kritiker gehört er in die Nähe Lichtenbergs, dem es nichts verschlägt, wenn sich um seine Physik nur noch Physikhistoriker kümmern. Overbecks Platz ist in der Geschichte der deutschen Literatur, der deutschen Philosophie und Geschichtsschreibung; er notierte von 1870 bis 1905 zeitgemäß-unzeitgemäße Betrachtungen, in denen er das politische, literarische und intellektuelle Leben dieser Jahrzehnte analysierte. Distanziert blickte er von Basel aus auf das Reich Bismarcks und Wilhelms II. Er hatte es nicht nur mit den deutschen Theologen; ihn plagte die geschichtliche Entwicklung Europas zwischen 1870 und 1905.

An dieser Geschichtsstelle muß ihn aufsuchen, wer ihn antreffen will, nicht in seiner Rezeptionsgeschichte. Werfen wir also auch diese Verpackung weg: Overbeck als Wegbereiter von Karl Barth, als Anreger von Walter Benjamin, von Martin Heidegger und Karl Löwith. Auch sie ist nicht falsch, denn alle Genannten sind auf dem Umweg über die Overbeck-Benutzungen von Carl Albrecht Bernoulli ("Christentum und Kultur", Basel 1919) mit etwas von Overbeck bekannt geworden. Hinter sie alle muß zurück, wer bei Overbeck die Freude sprachlich-gedanklicher Finessen bei Mitteilung trauriger Dinge genießen will. Er verspottete die Goethe-Manie; er analysierte Richard Wagner; er kritisierte französische und deutsche Historiker. Kleinteilig untersuchte er die Argumente der Theologen, vor allem Ritschls und Harnacks, um nachzuweisen, daß sie weder christlich noch wissenschaftlich sind. Er arbeitete an Streitschriften gegen diese prestigereichsten und mächtigen Theologen.

Fast nichts davon hat er veröffentlicht. Kurz vor seinem Tode blickte er heiter-entschuldigend zurück: Er habe noch andere, größere Fehler gemacht als den, "Harnack laufen zu lassen". Harnack, der Vielgeschäftige, Erfolgreiche, reizte ihn zum Widerspruch; Overbeck sah in ihm seine Gegenfigur. Als Harnacks "Wesen des Christentums" erschien, diagnostizierte er in dieser "fortschrittlichen" Theologie den Versuch, die Abwesenheit des Christentums des Neuen Testaments durch moralisierende und kulturfreundliche Phrasen zu verdecken. Denn dies war eine von Overbecks heute unbestrittenen gelehrten Entdeckungen: Das Christentum des Neuen Testaments war wesentlich die Erwartung des nahen Weltendes, und dieses Wesentliche kam in Harnacks "Wesen" nicht vor. Harnack brauchte ein Christentum ohne Apokalypse. Als 1914 die reale Apokalypse anbrach, war sein Kulturprotestantismus zu Ende; Overbecks düstere Analysen des Nationalismus traten in ihr Recht.

Seine Themen sind weit, viel weiter als Theologiekritik. Er denkt nach über Schriftsteller, die - wie er selbst - nicht für die Gegenwart, sondern für die Zukunft schreiben. Es wird zuviel geschrieben, klagt er. Wenn es so weitergeht wie seit etwa hundert Jahren, notiert er im Herbst 1904, "so zerschwätzen, zerlesen und zerschreiben wir Menschen die Welt". An Weite des Horizonts reichen Overbecks Notate an Nietzsches Nachlaßnotizen; an Schärfe des Urteils und sprachlicher Prägnanz stehen sie ihnen nahe; in der Ablehnung alles Visionären, in der klugen Skepsis halten sie Distanz zu Nietzsches "Zarathustra". Genau beobachtende Aufmerksamkeit ohne Heilserwartung prägen Gedanken und Stil. Overbeck will keine agitatorische Freigeisterei. Gegen Kierkegaard notiert er, er stelle sich nicht wie dieser gegen das Christentum im Namen eines besseren Christentums; er lasse es auf sich beruhen. Nicht, als stehe er insgeheim oder "eigentlich" noch zu ihm. Schneidend scharf trennt er sich von ihm: "Ich darf wohl sagen, daß mich das Christentum mein Leben gekostet hat. Sofern ich, wiewohl ich es nie besaß und nur durch ,Mißverständnis' Theologe wurde, mein Leben gebraucht habe, um es ganz loszuwerden." Aber diese Mühe hat nicht seinen Horizont verengt: Overbeck denkt nach über Dante und Goethe, über Luther und Renan, über England und Deutschland, über Wilhelm II.: Für die "Rüpelhaftigkeit seiner Majestät" gibt es keine Grenzen des Standes. Burckhardts Distanz zum "Modernen" klingt an, wenn Overbeck den Kaiser charakterisiert: "Unser Wilhelm 2 ist modern, und er scheint bisweilen selbst von dieser Eigenschaft der ,Modernität' mehr zu halten als von seiner Krone, womit er vielleicht gar nicht ganz im Unrecht sein mag."

Der vereinsamte Skeptiker grübelt über Moral, Beruf und Nationalismus. Pascal taucht immer wieder auf in diesen Notaten, mit höchstem Respekt behandelt wie bei Nietzsche. Ähnlich wie Burckhardt zeigt Overbeck Interesse an der "Macht", von der er sich, anders als Harnack, im realen Leben ferngehalten hat. Es ist Welt in diesen Reflexionen. Aber die pointiertesten Stücke gelten Harnack, der ihm intellektuell und psychologisch die größte Herausforderung darstellte. Im Zusammenhang mit der Kritik an ihm notierte der Basler: "Ist das Christentum aber auch noch jung genug, um noch eine Theologie zu erzeugen? Nein, und auch das beweist die moderne Theologie, selbst nur noch ein kraftloses, mit grauen Haaren geborenes Kind." Ich behaupte nicht, dieses Diktum sei wahr. Zwar verschwinden graue Haare nicht dadurch, daß das Kind so laut schreit wie Karl Barth. Aber - ich sage es noch einmal - es geht hier nicht um Theologie, sondern um den Schriftsteller Overbeck. Welche Autorenkunst in diesem lebhaften kleinen Dialog mit der genauen Metapher: das kleine Kind mit den grauen Haaren.

Beginnen wir, Overbeck zu lesen. Wir haben nicht viele Autoren, die sich neben Burckhardt und Nietzsche behaupten. Daher ist die neue Overbeck-Ausgabe zu begrüßen; sie gehört in jede öffentliche Bibliothek; Band vier und fünf enthalten neue Texte; ich wünsche sie jedem Freund für einen nachdenklichen Urlaub oder als Trost bei der nächsten Wintergrippe. Aber hier komme ich ins Stocken. Stelle ich mir vor, ich drückte die beiden Bände meinem Freund vor seiner Abfahrt in die Hand, so trifft mich sein erstaunter Blick: Was, zwei Bände "Kirchenlexicon" mutest du mir zu? Nun, der Titel erklärt sich aus der Entstehung von Overbecks Nachlaßsammlung; trotzdem ist dies kein "Lexikon". Aber der Unglückstitel prangt als große Überschrift auf vier Bänden; das führt heillos in die Irre. Keiner seiner beiden Bestandteile trifft: Es handelt sich nicht um Lexikonartikel, und sie dienen weder der Kirche, noch handeln sie von ihr - es sei denn in dem weitesten, in dem präzis Overbeckschen Sinne einer profanen Geschichte der Kirche in all ihren kulturellen, politischen und intellektuellen Verflechtungen. Der Verlag wäre gut beraten gewesen, es bei dem Wort "Nachlaß" zu belassen.

Die Ausgabe der Bände vier und fünf mit bislang ungedruckten Texten ist überaus verdienstvoll, aber sie erprobt die Treue der Freunde Overbecks durch eine Merkwürdigkeit: Sie läßt die Abkürzungen der Notate Overbecks unaufgelöst. Das ergibt ein seltsames Druckbild. Nur geübte Leser scholastischer Handschriften werden spielend damit fertig, aber es stört den "normalen" Leser mächtig, den wir Overbeck als einem großen Schriftsteller wünschen. Es ist nicht einzusehen, was diese Buchstäblichkeit einer diplomatischen Umschrift bringen soll. Die sorgfältigsten Editoren antiker und mittelalterlicher Texte lösen Abkürzungen auf - und hier bleiben sie stehen, als müßten wir wissen, wie Overbeck das Wort "Entwicklung" abgekürzt hat, oder als bestünden Zweifel über die Auflösung seiner Kürzel.

Daß Overbecks Abkürzungen nicht aufgelöst werden, das läßt sich als eine unschuldige Marotte belächeln. Die Nachlaßedition wirft ernstere Fragen auf. Die Kommentierung, die es in den ersten Bänden gab, tröpfelt in Band vier und fünf aus. Auch das läßt sich hinnehmen. Aber ich fand keine befriedigende Antwort auf die einfache Frage: Nach welchen Kriterien wurden die Artikel der zwei Bände ausgewählt? Wie macht man aus rund 7000 Seiten Overbeck 1400 Seiten Druck? Wer hat die Kompetenz, uns zu sagen, was im Nachlaß Overbecks wichtig ist und was nicht? Zwar stehen auf der ersten Seite jedes Bandes die elf illustren Namen der Mitglieder der Editionskommission. Aber über die tiefen Gedanken der hohen Kommission über die Auswahlkriterien erfahren wir nichts Triftiges, denn daß das fachlich Historische wegbleiben sollte, das ist bei einem Autor wie Overbeck kein angemessenes Argument.

Die Zufälligkeit der Auswahl ist um so ärgerlicher, als Overbeck selbst innerhalb seiner Artikel regelmäßig auf andere Artikel verweist, über deren Fehlen sich der Leser jetzt wundert. Die Stichworte Lagarde und Langbehn sind aufgenommen, völlig zu Recht, aber warum fehlt dazwischen der Artikel über den Historiker Karl Lamprecht, auf den Overbeck verweist? Warum wird uns "Philosophie, Allgemeines" vorenthalten, "Philosophie, Vermischtes" aber gegeben? Ich dachte bisher, Philosophie sei eher etwas Allgemeines als etwas Vermischtes.

Aber die Sache kommt noch ärgerlicher. Statt uns aus dem Nachlaß Overbecks so viel Text zu geben wie irgend möglich, verschwenden die Verantwortlichen fast vierhundert Seiten für den Nachdruck der leicht zugänglichen Schrift des Overbeck-Schülers Bernoulli über "Christentum und Kultur". Sie distanzieren sich von dessen "Kompilation". Das mögen sie ruhig tun, aber das gehört nicht in eine kritische Ausgabe. Dazu hätte ein Aufsatz genügt. Aber die Rechtfertigungen der Herausgeber werden beherrscht durch die Furcht, Overbeck könnte weiterhin mit Bernoulli verwechselt werden. Doch wir lesen heute Overbeck um seiner selbst willen, nicht, weil er der Freund Nietzsches, Rohdes oder Treitschkes war, und schon gar nicht, weil er anders ist, als Bernoulli ihn darstellte. Hätte Overbeck nicht die ungenierte Aktualisierung neutestamentlicher Sprüche für immer stigmatisiert, riefe vielleicht ein Christenmensch den Herausgebern zu: "Ihr seiht die Mücken", das heißt, ihr laßt die Abkürzungen stehen, "aber ihr verschluckt die Kamele", nämlich eure Auswahlkriterien. Aber kein Overbeck-Leser wird mehr die Bibel so zitieren, angesichts der Leiche des Christentums mit den frisch rot gefärbten Wangen - auch dies ein Bild aus dem unerschöpflichen Metaphernvorrat Overbecks.

Inzwischen zeigen sich Früchte der neuen Beschäftigung mit Overbeck. Die Monographie von Andreas Urs Sommer zur "Waffengenossenschaft von Nietzsche und Overbeck" gibt eine parallele Analyse der Zwillingsschriften der beiden Basler Professoren. Sie beschränkt sich auf die frühen Schriften und deren Vorgeschichte; es geht dabei um das Recht einer rein historischen Betrachtung der christlichen Urkunen und um Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Die Themenstellung erfordert eine Parallelbetrachtung, aber Sommer vermeidet klug die Klippe, daß sie Overbecks Eigenständigkeit verdeckt. Das Buch ist ebenso gut dokumentiert wie durchdacht; er beklagt, die Beschäftigung mit Overbeck sei bislang zu sehr "von theologischen Interessen bestimmt" gewesen; entweder habe man Overbeck theologisch widerlegen oder für die eigene Theologie (gegen jede andere) in Anspruch nehmen wollen. Sommer hingegen will mit Hilfe Nietzsches und Overbecks die Genese der entchristianisierten Welt erhellen. Welchen Begriff von Geschichte muß man haben, um das Christentum als etwas Vergangenes zu sehen? Was kommt danach?

Die Untersuchung Sommers konzentriert sich auf die Jahre 1869 bis 1875. Er bringt detaillierte Analysen; er verschmäht es, den beiden Freunden eine Einheitsansicht anzusinnen. Er faßt sein Resultat zusammen: Während Overbeck sich "in die Aporien schickt" und nicht versucht, die Historie als neuen Götzen auf den Thron zu heben, habe Nietzsche neue, diesseitsbezogene Welt-Totalerklärungen unternommen, trotz seiner Destruktion der Metaphysik. Overbeck lehne solche geschichtsphilosophischen Spekulationen ab; er bleibe bei seiner konsequenten Historisierung und halte den Orientierungsverlust aus, der dadurch entsteht. Besonders instruktiv finde ich Sommers differenzierenden Vergleich der beiden Antrittsvorlesungen und des jeweils vorausgesetzten Geschichtskonzeptes; Verwandtschaft und bleibender Unterschied kündigten sich schon an, bevor die beiden jungen Professoren in Basel zusammentrafen.

Sommer zeigt: Während Nietzsche die Wissenschaften, vor allem die Philologie und die Historie, reformieren wollte, um den Mythos wieder zu ermöglichen, hielt Overbeck eine solche Umwandlung für unmöglich; daher seine These von der Unvereinbarkeit von Wissen und Glauben. Sommers Arbeit überzeugt durch philosophischen Problemsinn, interpretatorische Finesse und literarische Kultur; sie bringt einen deutlichen Fortschritt in der Overbeck-Forschung.

Gleichzeitig wirft diese Arbeit ein eigentümliches Licht auf die im Gang befindliche Overbeck-Ausgabe: Einerseits beflügelt die Ausgabe die Forschung, andererseits macht sie es nötig, daß Sommer mit einem solchen Overbeck-Zitat beginnt, das uns die Edition vorenthält. Sommer veröffentlicht dann, sozusagen auf eigene Faust, im Anhang eine Reihe von Notaten aus Overbecks Nachlaß. Mit ihnen sollte man die Lektüre beginnen, um zu sehen, welch wichtige Texte die neue Overbeck-Edition uns vorenthält. Sie muß eine solche schwerwiegende Korrektur hinnehmen, bevor sie vollendet ist. Das wäre durch eine großzügigere und gedanklich schärfere Planung zu vermeiden gewesen. Es ist abzusehen: Bald wird jede Dissertation über Nietzsche-Overbeck-Burckhardt-Ritschl-Harnack neue, unedierte Häppchen aus den Notaten Overbecks im Anhang veröffentlichen. Wohin soll das führen? Ich beschwöre die Editionskommission und den Verlag, ein solches Chaos zu verhindern, also weitere Bände des Unedierten mit angemesseneren und klaren Auswahlkriterien vorzusehen. Dies ist kein maximalistischer Wunsch von Editionsfanatikern. Wir Leser, die nichts sein wollen als Leser, fangen gerade an, Overbeck als großen Schriftsteller zu entdecken, selbst noch abgesehn von dem, was man durch ihn lernt. Wir wollen erst recht davon absehen, was plumpere Zeiten aus ihm gemacht haben und - noch machen.

Franz Overbeck: "Werke und Nachlaß in neun Bänden". Band 4 und 5: Kirchenlexicon. Texte. Ausgewählte Artikel. Hrsg. v. Barbara von Reibnitz in Zusammenarbeit mit Marianne Stauffacher-Schaub. 692 u. 761 S., geb., je 148,- DM. Band 6/1: Kirchenlexicon. Materialien. ,Christentum und Kultur'. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie von Franz Overbeck. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Carl Albrecht Bernouilli. Kritische Neuausgabe hrsg. v. Barbara von Reibnitz. Band 6/2: Kirchenlexicon. Materialien. Gesamtinventar. Hrsg. v. Marianne Stauffacher-Schaub in Zusammenabeit mit Barbara von Reibnitz. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1995, 1996, 1997. X, 345 u. IX, 487 S., geb., je 128,- DM.

Andreas Urs Sommer: "Der Geist der Historie und das Ende des Chistentums". Zur ,Waffengenossenschaft' von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Akademie Verlag, Berlin 1997. XII, 183 S., geb., 98,- DM.

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