Zehn Jahre nach »Lindennacht« erscheinen neue Gedichte von Reiner Kunze. In originären poetischen Bildern lässt er die Leser teilhaben an dem, was ihn beglückt oder erschüttert. Wohin es ihn in der Welt auch verschlägt, sei es nach Helsinki, Czernowitz und Kiew - man erfährt niemals nur, was er sieht, sondern stets auch, was in ihm geschieht. Entschieden bezieht er Position gegen Gewalt, Verrohung und gegen das Vergessen. Ein besonderer Charakterzug der Gedichte ist Behutsamkeit. Mit großer Schönheit und Zartheit spricht Reiner Kunze vom Alter und vom Abschiednehmen. »Verneigt vor alten bäumen euch, / und grüßt mir alles schöne.«
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Mehr als nur Abschied" ist dieser Band des 85-jährigen Lyrikers Reiner Kunze, versichert ein bewegter Björn Hayer in einer kurzen, viel zitierenden Rezension. Vor allem feiert Hayer Kunzes Sprachkraft bei großer Schlichtheit, ja Reduktion der Mittel. Kunzes Lyrik ist durchaus noch politisch, meint er, spricht etwa die Ukraine an als "land / verstümmelt, veruntreut / verraten" an. Aber es gibt auch anderes, Texte über die "Choreografie der Wolken" und Naturbetrachtung angesichts des kommenden Todes. Vor allem, so Hayer, bleibt Kunze trotz allen Pessimismus der Glaube an die Kraft lyrischer Sprache.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2018Zeichen einer späten, kunstgerecht atmenden Glut
Reiner Kunzes neuer Gedichtband "die stunde mit dir selbst" setzt Verse gegen Gerede und will auf Sprachpolitik hinaus
Obwohl oder weil die letzte konzentrierte lyrische Lebensäußerung des Dichters zehn Jahre zurückliegt, ist selten ein Gedichtband rechtzeitiger erschienen als Reiner Kunzes "die stunde mit dir selbst". Tagestreffer sind zunächst die Stoffe: "Im Juli", schreibt Kunze in "Menetekel", "warfen die bäume die blätter ab / Wir wateten in grünem laub / und traten den sommer mit füßen." Wie hier ein Satz am Zeilenanfang mit einem Großbuchstaben anfängt, obwohl der davor, als zweiter Vers des Gedichts, mit keinem Punkt endet und klein anfängt, ist eine prosodische Lektion für Leute, die nicht wissen, wie sie bei dieser Hitze atmen sollen: Ohne Punkt, aber nicht ohne Komma, im Fluss, aber rhythmisch, auf Schritt und Tritt ("mit füßen") je nach Sauerstoffbedürfnis des Gedankens und der Empfindung. Die Sonne versengt hier Schönes, "als sei die hoffart ihr zuviel", ein anderes Gedicht liest "des neuen gluttags zeichen", und Titel wie "Weißer wolkenloser Himmel" oder Untertitel wie "Mittsommer" machen den Blick ins Buch zum Blick durchs Fenster.
Noch aktueller als die Stoffe sind die Formen: Reime, die erst nach einigen Zwischenzeilen zueinanderfinden ("zeichen" auf "teichen", "sonne" auf "tonne"), ein Metrum, gegen das sich, wenn es geschüttelt wird, die Zeilenfolge selbst kehrt, weil das der Sinn will: "Das gedicht - ein hirnstoßdämpfer, / der die erschütterungen abfängt" - Reim und Rhythmus sind hier nicht Exoskelett oder Korsett des Gemeinten, sondern dessen bewegliche Glieder voll Lebens- und Arbeitserfahrung, die ohne Schrecken oder Schmalz sagen kann, was die milde Vanitasklage mit dem Titel "Alt" sagt: "Das erdreich setzt dir seine schwarzen male ins gesicht, / damit du nicht vergißt, / daß du sein eigen bist."
Was sonst soll "Gegenwartslyrik" sein, wenn nicht dieser nur im Vokalischen, nicht im Konsonantischen stabile Beinahereim "gesicht"/"vergißt", auf denn dann direkt ein normverpflichteter folgt, "vergißt"/"bist"? So oder ähnlich machen es die Größten der Stunde, vom Poeten als Ungeheuer, Frederick Seidel ("Open your arms like a fresh pack of cards / And shuffle the deck. / Now open your heart. / Now open your art. / No get down on your knees in the street / and eat."), bis zum Rapper Kendrick Lamar ("I transform like this, perform like this, was Yeshua's new weapon / I don't contemplate, I meditate, then off your fucking head / This that put-the-kids-to-bed"). Wenn Kunzes rechtzeitiges Stoffaufkommen seine ebenso rechtzeitige Formwelt tränkt und sättigt, um für sie zu bürgen, geschieht das manchmal mit schöner Leichtigkeit, fast als Witz: "Die menschheit mailt / Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, / als daß es fehlt", kein Punkt, wozu auch? Es ist kein Aphorismus, kein Merksatz, es geht um Kiesel, Muscheln und Glasscherben, nicht um Statuen und Monumente, für die sich unser kulturgeschichtlicher Moment schlecht eignet, er steht kulturell leider zu niedrig. Strengere Leute als Kunze haben sich mit solch leichter Reim- und Rhythmusforschung die flache Gegenwart zum Nutzen der Sprachgemeinschaft vertrieben, Peter Hacks zum Beispiel: "Was trägt man, Mantel, Blazer oder Sweatshirt? / Was, wo bei Sonnenschein der Regen plätschert?"
Dass man mit Vokabeln wie "Sweatshirt" und "mailt" so etwas anstellen kann, mag belegen, dass die Sprachverdumpfung, die den Augenblick beherrscht, nicht an den Wörtern liegt, die wir zur Verfügung haben, sondern an den Geredeformaten. "Gerede" gibt's auch schriftlich, sein Charakteristikum ist die unbedachte Missachtung des Gegenübers, die sich keine Mühe bei der Wortfindung und beim Satzbau gibt.
Der karibisch-französische Theoretiker der Kreolisierung der Welt, Édouard Glissant, hat vor einem runden Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, "dass die moderne Technik zur Mündlichkeit führt. Wir beobachten aber auch, dass orale, schriftlose Kulturen, die sich gestern auf der abgewandten Seite der Erde drängten, heute ,auf der großen Bühne der Welt' angekommen sind. Und es kann uns bei der genauen Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit heute nicht mehr entgehen, dass es zwei Sorten von Mündlichkeit gibt. Zum einen die der Medien, die eine Einebnung und Banalisierung des mündlichen Ausdrucks bringt. Daneben gibt es aber die Form einer lebensvollen, schöpferischen Oralität, aus ebenjenen Kulturen stammend, die heute auf die ,große Bühne der Welt' treten." Glissant hatte, liest man hier, keine Angst vor etwas, wovor Reiner Kunze sich in einer Rede vor Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sein neues Lyrikbändchen beschließt, fürchtet: dem Verschwinden von Muttersprachen zugunsten irgendeines globalen oder jedenfalls übernationalen Zungenschlags (der vielleicht englisch sein könnte, also "Sweatshirts" trägt und "mailt"). "Die Muttersprache zugunsten einer lingua franca zu degradieren bedeutet, sich an der Menschheit zu vergehen." Das ist verzagter als nötig; Glissant war weiter: "Ich spreche und schreibe angesichts aller Sprachen der Welt", aber "angesichts aller Sprachen der Welt zu schreiben bedeutet nicht, sie alle zu kennen", sondern es heißt, "dass ich meine Sprache mit mir schleppe und ihr Gewalt antue, aber nicht, um zu einer Synthese zu gelangen, sondern zu sprachlicher Offenheit". Zum Reim auf "mailt" zum Beispiel, denn das Wort gehört nicht zur Muttersprache und erfordert, dass die sich ändert.
Solche Gewalt ist die der Form, des Dichtens unter den herrschenden Geredebedingungen. Kunzes Rede weiß es nicht, aber das macht nichts, denn in einem der neuen Gedichte steht richtig: "verlangt vom dichter nicht / was einzig das gedicht kann leisten." Wo Leute das vergessen, sind sie für Glissants "Offenheit" verloren. Dieser Verlust hat seine ästhetische, seine soziale und seine technische Seite. Auf Twitter etwa nimmt ein Medium den Tippenden das Wort aus der Hand, noch bevor sie es im Mund schmecken können (und oft, ohne dass es in ihrem Kopf irgendetwas Mitteilenswertes erlebt hätte). Die Alternative zum gebundenen Wort ist in dieser ästhetischen, sozialen, technischen Lage nicht das freie, sondern das von der Lage gefangene.
Die Bindungen, von denen die alte Formel "gebundene Rede" für Lyrik spricht, sind freiwillige, die Vorgaben des Geredes dagegen üben Zwang aus und drohen mit Gemeinschaftsentzug. Kunstgerechte Lyrik stellt daher heute kein reaktionäres Bollwerk des sterilen akademischen Klassizismus gegen lebendige Prosa dar, sondern artikuliert den einstweilen noch sehr schwachen Einspruch gegen mächtiges Gestammel. Man muss ihn stärken.
DIETMAR DATH.
Reiner Kunze: "die stunde mit dir selbst". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018.
70 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiner Kunzes neuer Gedichtband "die stunde mit dir selbst" setzt Verse gegen Gerede und will auf Sprachpolitik hinaus
Obwohl oder weil die letzte konzentrierte lyrische Lebensäußerung des Dichters zehn Jahre zurückliegt, ist selten ein Gedichtband rechtzeitiger erschienen als Reiner Kunzes "die stunde mit dir selbst". Tagestreffer sind zunächst die Stoffe: "Im Juli", schreibt Kunze in "Menetekel", "warfen die bäume die blätter ab / Wir wateten in grünem laub / und traten den sommer mit füßen." Wie hier ein Satz am Zeilenanfang mit einem Großbuchstaben anfängt, obwohl der davor, als zweiter Vers des Gedichts, mit keinem Punkt endet und klein anfängt, ist eine prosodische Lektion für Leute, die nicht wissen, wie sie bei dieser Hitze atmen sollen: Ohne Punkt, aber nicht ohne Komma, im Fluss, aber rhythmisch, auf Schritt und Tritt ("mit füßen") je nach Sauerstoffbedürfnis des Gedankens und der Empfindung. Die Sonne versengt hier Schönes, "als sei die hoffart ihr zuviel", ein anderes Gedicht liest "des neuen gluttags zeichen", und Titel wie "Weißer wolkenloser Himmel" oder Untertitel wie "Mittsommer" machen den Blick ins Buch zum Blick durchs Fenster.
Noch aktueller als die Stoffe sind die Formen: Reime, die erst nach einigen Zwischenzeilen zueinanderfinden ("zeichen" auf "teichen", "sonne" auf "tonne"), ein Metrum, gegen das sich, wenn es geschüttelt wird, die Zeilenfolge selbst kehrt, weil das der Sinn will: "Das gedicht - ein hirnstoßdämpfer, / der die erschütterungen abfängt" - Reim und Rhythmus sind hier nicht Exoskelett oder Korsett des Gemeinten, sondern dessen bewegliche Glieder voll Lebens- und Arbeitserfahrung, die ohne Schrecken oder Schmalz sagen kann, was die milde Vanitasklage mit dem Titel "Alt" sagt: "Das erdreich setzt dir seine schwarzen male ins gesicht, / damit du nicht vergißt, / daß du sein eigen bist."
Was sonst soll "Gegenwartslyrik" sein, wenn nicht dieser nur im Vokalischen, nicht im Konsonantischen stabile Beinahereim "gesicht"/"vergißt", auf denn dann direkt ein normverpflichteter folgt, "vergißt"/"bist"? So oder ähnlich machen es die Größten der Stunde, vom Poeten als Ungeheuer, Frederick Seidel ("Open your arms like a fresh pack of cards / And shuffle the deck. / Now open your heart. / Now open your art. / No get down on your knees in the street / and eat."), bis zum Rapper Kendrick Lamar ("I transform like this, perform like this, was Yeshua's new weapon / I don't contemplate, I meditate, then off your fucking head / This that put-the-kids-to-bed"). Wenn Kunzes rechtzeitiges Stoffaufkommen seine ebenso rechtzeitige Formwelt tränkt und sättigt, um für sie zu bürgen, geschieht das manchmal mit schöner Leichtigkeit, fast als Witz: "Die menschheit mailt / Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, / als daß es fehlt", kein Punkt, wozu auch? Es ist kein Aphorismus, kein Merksatz, es geht um Kiesel, Muscheln und Glasscherben, nicht um Statuen und Monumente, für die sich unser kulturgeschichtlicher Moment schlecht eignet, er steht kulturell leider zu niedrig. Strengere Leute als Kunze haben sich mit solch leichter Reim- und Rhythmusforschung die flache Gegenwart zum Nutzen der Sprachgemeinschaft vertrieben, Peter Hacks zum Beispiel: "Was trägt man, Mantel, Blazer oder Sweatshirt? / Was, wo bei Sonnenschein der Regen plätschert?"
Dass man mit Vokabeln wie "Sweatshirt" und "mailt" so etwas anstellen kann, mag belegen, dass die Sprachverdumpfung, die den Augenblick beherrscht, nicht an den Wörtern liegt, die wir zur Verfügung haben, sondern an den Geredeformaten. "Gerede" gibt's auch schriftlich, sein Charakteristikum ist die unbedachte Missachtung des Gegenübers, die sich keine Mühe bei der Wortfindung und beim Satzbau gibt.
Der karibisch-französische Theoretiker der Kreolisierung der Welt, Édouard Glissant, hat vor einem runden Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, "dass die moderne Technik zur Mündlichkeit führt. Wir beobachten aber auch, dass orale, schriftlose Kulturen, die sich gestern auf der abgewandten Seite der Erde drängten, heute ,auf der großen Bühne der Welt' angekommen sind. Und es kann uns bei der genauen Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit heute nicht mehr entgehen, dass es zwei Sorten von Mündlichkeit gibt. Zum einen die der Medien, die eine Einebnung und Banalisierung des mündlichen Ausdrucks bringt. Daneben gibt es aber die Form einer lebensvollen, schöpferischen Oralität, aus ebenjenen Kulturen stammend, die heute auf die ,große Bühne der Welt' treten." Glissant hatte, liest man hier, keine Angst vor etwas, wovor Reiner Kunze sich in einer Rede vor Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sein neues Lyrikbändchen beschließt, fürchtet: dem Verschwinden von Muttersprachen zugunsten irgendeines globalen oder jedenfalls übernationalen Zungenschlags (der vielleicht englisch sein könnte, also "Sweatshirts" trägt und "mailt"). "Die Muttersprache zugunsten einer lingua franca zu degradieren bedeutet, sich an der Menschheit zu vergehen." Das ist verzagter als nötig; Glissant war weiter: "Ich spreche und schreibe angesichts aller Sprachen der Welt", aber "angesichts aller Sprachen der Welt zu schreiben bedeutet nicht, sie alle zu kennen", sondern es heißt, "dass ich meine Sprache mit mir schleppe und ihr Gewalt antue, aber nicht, um zu einer Synthese zu gelangen, sondern zu sprachlicher Offenheit". Zum Reim auf "mailt" zum Beispiel, denn das Wort gehört nicht zur Muttersprache und erfordert, dass die sich ändert.
Solche Gewalt ist die der Form, des Dichtens unter den herrschenden Geredebedingungen. Kunzes Rede weiß es nicht, aber das macht nichts, denn in einem der neuen Gedichte steht richtig: "verlangt vom dichter nicht / was einzig das gedicht kann leisten." Wo Leute das vergessen, sind sie für Glissants "Offenheit" verloren. Dieser Verlust hat seine ästhetische, seine soziale und seine technische Seite. Auf Twitter etwa nimmt ein Medium den Tippenden das Wort aus der Hand, noch bevor sie es im Mund schmecken können (und oft, ohne dass es in ihrem Kopf irgendetwas Mitteilenswertes erlebt hätte). Die Alternative zum gebundenen Wort ist in dieser ästhetischen, sozialen, technischen Lage nicht das freie, sondern das von der Lage gefangene.
Die Bindungen, von denen die alte Formel "gebundene Rede" für Lyrik spricht, sind freiwillige, die Vorgaben des Geredes dagegen üben Zwang aus und drohen mit Gemeinschaftsentzug. Kunstgerechte Lyrik stellt daher heute kein reaktionäres Bollwerk des sterilen akademischen Klassizismus gegen lebendige Prosa dar, sondern artikuliert den einstweilen noch sehr schwachen Einspruch gegen mächtiges Gestammel. Man muss ihn stärken.
DIETMAR DATH.
Reiner Kunze: "die stunde mit dir selbst". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018.
70 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2018„Wir wateten im grünen laub und traten den sommer mit füßen“
Wie geschaffen für diese heißen Tage: In seinem neuen Gedichtband zeigt sich die leise, weise Melancholie von Reiner Kunze, der jetzt 85 Jahre alt wird
Sage noch einer, Lyrik wäre nicht aktuell. Bei Reiner Kunze hat man den Eindruck, seine Gedichte wären ihm unter der Hand zu Menetekeln geworden, als wären sie geschrieben auf diesen heißen Sommer 2018 und hätten das Kunststück fertig gebracht, schon vorzuliegen, bevor das Thermometer wochenlang auf 35 Grad verharrte. In diesen Versen scheint selbst „der himmel zu erblassen vor der gnadenlosigkeit der sonne“, der Fluss „bleckt die Zähne“ und die Bäume werfen im Juli die Blätter ab: „Wir wateten im grünen laub / und traten den sommer mit füßen“. Dabei ist unverkennbar, dass die Natur für den Dichter immer noch der Ort ist, an dem die „seele wurzeln schlägt“, wenn das Licht dem Schläfer sanft das Augenlid hebt und der neue Tag beginnt. Ach, was sind das für Zeiten, in denen das Gespräch über Bäume notgedrungen auf die Verbrechen der Menschheit zu sprechen kommen muss!
Zehn Jahre nach seinem letzten Gedichtband „lindennacht“ legt Reiner Kunze mit „die stunde mit dir selbst“ noch einmal einen schmalen Band mit Gedichten vor, kurze und kürzeste poetische Skizzen, die mit einem sehr dünnen Bleistift geschrieben zu sein scheinen. In diesem Büchlein gibt es mehr weißen Raum als Textzeilen, aber die Leere und die Weite, in der jedes dieser Gedichte ruht, sind eine notwendige Bedingung dieser poetischen Weltsicht.
In fünf thematische Kapitel hat Kunze den Band unterteilt, die einen Bogen schlagen von der bedrohten Natur zur Fragilität der politischen Welt und weiter zur Suche nach einer Sprache, in der die Frage nach dem, was der Mensch ist und was Alter und Tod bedeuten, gestellt werden könnte. „Du suchst das wort, von dem du nicht mehr weißt / als dass es fehlt“, heißt es im titelgebenden Gedicht des Bandes, bevor die Erinnerung zurückführt in eine Kindheit, in der das Sehen und das Benennen zusammenfielen, als Weizen noch Weizen und Roggen noch Roggen war und die Wörter „kurze grannen und lange“ hatten.
Jedem Abschnitt und auch vielen Gedichten hat Kunze Zitate als Motti vorangestellt. So befindet er sich im Gespräch mit den Stimmen von Rose Ausländer, Paul Celan, Hannah Arendt oder René Char, dessen Satz den dichterischen Ort von Kunze sehr genau beschreibt: „Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller; das will besagen: Einsamkeit, die die Möglichkeit hat, sich anzuvertrauen.“ In dieser Doppeltheit aus Zuwendung und Abschiednehmen schreibt Kunze; nur da ist die Begegnung mit sich als Teil der Welt möglich.
Immer dann, wenn die Sprache selbst zum Thema und zum Ereignis wird und alles Meinen und Mahnen verschwindet, gelingen Kunze Verse von ungemeiner Präzision und Eindringlichkeit. Unter dieses Niveau gerät er, wenn der kulturkritische Blick zu sehr an die Oberfläche dringt. Dann ist der Sprachverlust jenseits der Poesie nur noch die Konsequenz einer Gegenwart, in der gemailt statt geschrieben und aufs Handy gestarrt wird, statt zu sehen. Das mag als Zeitdiagnose ja zutreffen, als poetischer Gegenstand ist es aber zu dünn.
Dass Kunze, der am 16. August 85 Jahre alt wird, mit der Nähe des Todes lebt, ist klar. Schon vor zehn Jahren in „lindennacht“ hatte er versprochen, mit der Stunde, wenn sie denn nahe, nicht zu hadern. Jetzt schreibt er: „Fern kann er nicht mehr sein / der tod //Ich liege wach, / damit ich zwischen abendrot und morgenrot / mich an die finsternis gewöhne“. Das Verschwinden, die Loslösung und die Liebe zu einer Welt, die auf alle erdenkliche Weise verloren zu gehen droht, ist der Grundton dieser Verse. In ihnen schwingt eine leise und sehr weise Melancholie, die doch voller Freundlichkeit ist und voller Zuversicht.
Zur Schönheit und Eigenwilligkeit dieser angenehm altmodischen Lyrik gehört, dass Kunze den Reim nicht scheut, ja, ihn rehabilitiert. Er zeigt, dass sich mit den Reimen aus dem Klang der Wörter heraus Bedeutungen ergeben, die über das hinausgehen, was jedes Wort für sich alleine bedeuten könnte. So endet das Gedicht auf den nicht mehr fernen Tod und die Finsternis „an die ich mich gewöhne“ mit dem Hinweis, dass es besser sei, sich jetzt schon zu verabschieden und mit einem Gruß an die Zurückbleibenden: „Verneigt vor alten bäumen euch / und grüßt mir alles schöne“. Das sind Verse, die man sich auch auf einem Grabstein denken könnte – so wie Kunze der jungen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger aus Czernowitz, die 1942 in einem Arbeitslager ums Leben kam, einen lapidaren Grabspruch widmet: „Dem tod war es gegeben, / sie zu holen aus dem leben, / doch nicht / aus dem gedicht“. Darin steckt der Glaube des Dichters, dass es die Sprache ist, die überlebt. Da mag er sich noch so leise verabschieden. Seine Verse werden hörbar bleiben.
JÖRG MAGENAU
Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. S.Fischer, Frankfurt am Main 2018. 70 S., 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie geschaffen für diese heißen Tage: In seinem neuen Gedichtband zeigt sich die leise, weise Melancholie von Reiner Kunze, der jetzt 85 Jahre alt wird
Sage noch einer, Lyrik wäre nicht aktuell. Bei Reiner Kunze hat man den Eindruck, seine Gedichte wären ihm unter der Hand zu Menetekeln geworden, als wären sie geschrieben auf diesen heißen Sommer 2018 und hätten das Kunststück fertig gebracht, schon vorzuliegen, bevor das Thermometer wochenlang auf 35 Grad verharrte. In diesen Versen scheint selbst „der himmel zu erblassen vor der gnadenlosigkeit der sonne“, der Fluss „bleckt die Zähne“ und die Bäume werfen im Juli die Blätter ab: „Wir wateten im grünen laub / und traten den sommer mit füßen“. Dabei ist unverkennbar, dass die Natur für den Dichter immer noch der Ort ist, an dem die „seele wurzeln schlägt“, wenn das Licht dem Schläfer sanft das Augenlid hebt und der neue Tag beginnt. Ach, was sind das für Zeiten, in denen das Gespräch über Bäume notgedrungen auf die Verbrechen der Menschheit zu sprechen kommen muss!
Zehn Jahre nach seinem letzten Gedichtband „lindennacht“ legt Reiner Kunze mit „die stunde mit dir selbst“ noch einmal einen schmalen Band mit Gedichten vor, kurze und kürzeste poetische Skizzen, die mit einem sehr dünnen Bleistift geschrieben zu sein scheinen. In diesem Büchlein gibt es mehr weißen Raum als Textzeilen, aber die Leere und die Weite, in der jedes dieser Gedichte ruht, sind eine notwendige Bedingung dieser poetischen Weltsicht.
In fünf thematische Kapitel hat Kunze den Band unterteilt, die einen Bogen schlagen von der bedrohten Natur zur Fragilität der politischen Welt und weiter zur Suche nach einer Sprache, in der die Frage nach dem, was der Mensch ist und was Alter und Tod bedeuten, gestellt werden könnte. „Du suchst das wort, von dem du nicht mehr weißt / als dass es fehlt“, heißt es im titelgebenden Gedicht des Bandes, bevor die Erinnerung zurückführt in eine Kindheit, in der das Sehen und das Benennen zusammenfielen, als Weizen noch Weizen und Roggen noch Roggen war und die Wörter „kurze grannen und lange“ hatten.
Jedem Abschnitt und auch vielen Gedichten hat Kunze Zitate als Motti vorangestellt. So befindet er sich im Gespräch mit den Stimmen von Rose Ausländer, Paul Celan, Hannah Arendt oder René Char, dessen Satz den dichterischen Ort von Kunze sehr genau beschreibt: „Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller; das will besagen: Einsamkeit, die die Möglichkeit hat, sich anzuvertrauen.“ In dieser Doppeltheit aus Zuwendung und Abschiednehmen schreibt Kunze; nur da ist die Begegnung mit sich als Teil der Welt möglich.
Immer dann, wenn die Sprache selbst zum Thema und zum Ereignis wird und alles Meinen und Mahnen verschwindet, gelingen Kunze Verse von ungemeiner Präzision und Eindringlichkeit. Unter dieses Niveau gerät er, wenn der kulturkritische Blick zu sehr an die Oberfläche dringt. Dann ist der Sprachverlust jenseits der Poesie nur noch die Konsequenz einer Gegenwart, in der gemailt statt geschrieben und aufs Handy gestarrt wird, statt zu sehen. Das mag als Zeitdiagnose ja zutreffen, als poetischer Gegenstand ist es aber zu dünn.
Dass Kunze, der am 16. August 85 Jahre alt wird, mit der Nähe des Todes lebt, ist klar. Schon vor zehn Jahren in „lindennacht“ hatte er versprochen, mit der Stunde, wenn sie denn nahe, nicht zu hadern. Jetzt schreibt er: „Fern kann er nicht mehr sein / der tod //Ich liege wach, / damit ich zwischen abendrot und morgenrot / mich an die finsternis gewöhne“. Das Verschwinden, die Loslösung und die Liebe zu einer Welt, die auf alle erdenkliche Weise verloren zu gehen droht, ist der Grundton dieser Verse. In ihnen schwingt eine leise und sehr weise Melancholie, die doch voller Freundlichkeit ist und voller Zuversicht.
Zur Schönheit und Eigenwilligkeit dieser angenehm altmodischen Lyrik gehört, dass Kunze den Reim nicht scheut, ja, ihn rehabilitiert. Er zeigt, dass sich mit den Reimen aus dem Klang der Wörter heraus Bedeutungen ergeben, die über das hinausgehen, was jedes Wort für sich alleine bedeuten könnte. So endet das Gedicht auf den nicht mehr fernen Tod und die Finsternis „an die ich mich gewöhne“ mit dem Hinweis, dass es besser sei, sich jetzt schon zu verabschieden und mit einem Gruß an die Zurückbleibenden: „Verneigt vor alten bäumen euch / und grüßt mir alles schöne“. Das sind Verse, die man sich auch auf einem Grabstein denken könnte – so wie Kunze der jungen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger aus Czernowitz, die 1942 in einem Arbeitslager ums Leben kam, einen lapidaren Grabspruch widmet: „Dem tod war es gegeben, / sie zu holen aus dem leben, / doch nicht / aus dem gedicht“. Darin steckt der Glaube des Dichters, dass es die Sprache ist, die überlebt. Da mag er sich noch so leise verabschieden. Seine Verse werden hörbar bleiben.
JÖRG MAGENAU
Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. S.Fischer, Frankfurt am Main 2018. 70 S., 18 Euro.
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[...] Verse von ungemeiner Präzision und Eindringlichkeit. Jörg Magenau Süddeutsche Zeitung 20180816