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Hans Magnus Enzensberger schaut in diesen 99 Meditationen genau hin: Die Wolken sind ihm Fremdes und Gleichnis menschlichen Lebens. Er hält das einzelne Kleine, das Flüchtige fest und gibt ihm die Würde des Moments; und er fragt nach dem Ewigen, sucht das Gesetz, in dem Geborenwerden und Sterben nur zwei Seiten des Vergänglichen sind. »Das Ende der Welt kommt ohne Beobachter aus«, heißt es, aber so lange läßt Enzensberger sich die Neugier nicht nehmen. Und nicht die Gelassenheit, sich mit einer Spezies zu beschäftigen, von der eines feststeht: »daß sie uns überleben wird/um ein paar Millionen…mehr

Produktbeschreibung
Hans Magnus Enzensberger schaut in diesen 99 Meditationen genau hin: Die Wolken sind ihm Fremdes und Gleichnis menschlichen Lebens. Er hält das einzelne Kleine, das Flüchtige fest und gibt ihm die Würde des Moments; und er fragt nach dem Ewigen, sucht das Gesetz, in dem Geborenwerden und Sterben nur zwei Seiten des Vergänglichen sind. »Das Ende der Welt kommt ohne Beobachter aus«, heißt es, aber so lange läßt Enzensberger sich die Neugier nicht nehmen. Und nicht die Gelassenheit, sich mit einer Spezies zu beschäftigen, von der eines feststeht: »daß sie uns überleben wird/um ein paar Millionen Jahre/hin oder her«.

Eine Minute lang nicht hingeschaut,
schon sind sie da, plötzlich, weiß,
blühend ja, aber wenig handfest -
ein wenig Feuchtigkeit, hoch oben,
etwas Unmerkliches, das auf der Haut
hinschmilzt: rasanter Übergang
von Phase zu Phase - schön und gut.
Doch auch die Physik der Wolken
hat nicht alles im Griff ...
Autorenporträt
Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in München. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2003

Die Schelme des Himmels
Hans Magnus Enzensberger hat sich in der „Geschichte der Wolken” selbst entdeckt
Wenn sich die Lyrik besonders zeitgenössisch gerieren möchte, erweitert sie gerne ihren poetischen Wortschatz um das jüngste Vokabular der Naturwissenschaften. Formeln werden dann zu Chiffren, Fachbegriffe zu Allegorien. Je laienhafter das Verständnis, desto bedeutungsschwangerer das lyrische Beben. Natürlich ist die Poesie stets auf der Suche nach neuen Metaphern – und da auch ihr nicht immer ein Kornfeld in der flachen Hand wächst, hilft oft nur der Semantik-Transfer aus den Naturwissenschaften. So entsteht die Poetik der dritten Kultur: Was immer der Fortschritt an neuen Erkenntnissen anschwemmt, gleich wird es in Zeilen gebrochen und zur Metapher verabsolutiert. In einer verschwiemelten Synthese aus Präzision und Mysterium werden dann die je kleinsten Bausteine der Materie beschworen, als handle es sich um Van Goghs Bauernschuhe – ein eisiger Hauch von ungefiltertem, nackten Sein. Dabei ist es in aller Regel eine poetische Erschleichung, denn die Wahrheit dieser Bildwelt ist eine auf Treu und Glauben geliehene. Die Dichter – so resümieren wir – sollten die Quanten, Quarks und Strings den Teilchenbeschleunigern überlassen. Die sind, wenn es hart auf hart kommt, genauer.
Im lyrischen Werk von Hans Magnus Enzensberger begegnet dieses naturwissenschaftlich-semantische Tuning immer wieder – und diese Gedichte sind gewiss nicht seine besten. Sein jüngster Gedichtband aber, „Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen”, macht etwas anderes: Denn dort, wo die Naturwissenschaft in ihrem notwendigen Reduktionismus die Phänomene selbst zu beseitigen droht, da bringt sich der Lyriker Enzensberger ins Spiel, um das Eigenrecht der höheren Ordnungen, der emergenten Formen zu verteidigen. Nach der Lektüre dieses wunderbaren Gedichtbandes möchte man Enzensberger regelrecht den Sänger der Emergenz nennen. Mit den Mitteln seiner transparenten, versatilen, hochökonomischen Sprache nimmt er all jene Phänomene in den Blick, die die Naturwissenschaft als bloßen Schein auf ihre Entstehungsbedingungen zurückführt und um die Ecke bringt.
Und in der Tat kann man sich für ein solches Unternehmen keinen besseren Gegenstand als die Wolken vorstellen, diese Emergenz-Gaukler, die – auch wenn sie nur aus H2O bestehen – sich zu gestischen und mimischen Formen gestalten und umgestalten, denen nur dogmatische Blindheit eine eigenständige, emergente Qualität absprechen kann.
Wolken sind Grenzgänger, für kurze Momente von markantester Individualität, ehe sie sich wieder in amorpher Anonymität verlieren. Sie erzeugen Bedeutungen am laufenden Band und lösen sie schon mit der nächsten thermischen Drehung wieder auf. Wie Proteus sind sie vielgestaltig und nie zu fixieren – in ihrer eigentümlich hyperplastischen Ontologie graziös spielend auf dem Grat zwischen Sein und Vergehen: So wie sie unmerklich vergehen, / haben sie keine Ahnung vom Sterben. / Ihrer Vergänglichkeit kann sowieso / keiner das Wasser reichen.
„Die Geschichte der Wolken” ist ein Zyklus aus zwölf Gedichten, der den gleichnamigen Gedichtband beschließt. Die Wolken „äffen alles, was fest ist, nach”. Sie sind Artisten der Selbstorganisation (Das eine von ihnen mißraten wäre, / wird so leicht niemand behaupten.... Und das alles ohne Gehirn!), „fliegende Bilderrätsel”, deren permanente Evolution keinen Fortschritt kennt, nur „Variationen noch und noch”. Anders als der gestirnte Himmel über uns lassen sie sich auf keine festen Bahnen festlegen – und werden gerade damit zu schelmischen Inbegriffen der spezifisch Enzensbergerischen reuelosen Wandlungslust. Denn natürlich: Wo immer die Gedichte von den Wolken sprechen, sprechen sie auch von sich selbst – und damit vom Verfasser dieser wolkengleich leichten Gedichte: Leider, mit ihrem Leumund / steht es nicht zum besten. / Es sei kein Verlaß auf sie, heißt es. Überhaupt haben sie kein spezifisches Eigengewicht und entziehen sich so jeder Identifizierung. Schwere Vorwürfe, / zu schwer vielleicht, / für das was so schwebend lebt.
Ob aber die Schönheit und der überschießende Formwille in den Wolken selbst oder nur im Auge des Betrachters liegt, ob Enzensberger die Wolken anthropologisiert oder die Dichtkunst metereologisiert, diese hochnotpeinliche Frage wird man derart schwebenden Gebilden wie Wolken und Gedichten nicht abpressen wollen. In ihrer Unentscheidbarkeit liegt ja ohnehin der erkenntnistheoretische Mehrwert dieser Wolken-Phänomenologie.
Enzensbergers letzter Gedichtband hieß: „Leichter als Luft”. Nun scheint „Die Geschichte der Wolken” diesen Komparativ noch einmal zu steigern. In Deutschland gehört die Selbstanklage in Sachen Tiefe und Schwere zwar schon seit längerem zum guten Ton. Wenn aber einer die Gesetze der Schwerkraft wirklich hinter sich gelassen hat und geradezu anstrengungslos als „fliegender Robert” durch die Lüfte der Poesie schwebt, dann ist das Misstrauen gleichwohl sofort zur Stelle, ob da nicht doch die Grenze zwischen leicht und leichtfertig überschritten sei. Es ist gerade Enzensbergers Meisterschaft, die ihn an dieser Flanke verwundbar macht. Ein Stolpern zumindest würde den Schwierigkeitsgrad anschaulicher vor Augen führen: Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.
Die ästhetische Leichtigkeit aber hat auch ihre moralischen Implikationen. Denn das Glücken der Form scheint ein Reflex des gelingenden Glücks zu sein. Warum, so mag sich mancher Leser herausgefordert fühlen, lässt sich dieser Enzensberger nicht vom Leid der Welt herunterziehen? Dabei wird das irdische Elend in den sechs Kapiteln des Buches keineswegs ausgeblendet. Aber doch in einen so weiten kosmologischen Kontext gesetzt, dass es zwar nichts von seiner Dringlichkeit, aber doch viel von seiner Exklusivität verliert. In der „Geschichte der Wolken” ist Enzensberger geradezu eine umgepolte Kassandra, die hartnäckig an jenes Glück erinnert, das ihre Zeitgenossen einfach nicht wahrhaben wollen: Natürlich sei, bekräftigt die „Astronomische Sonntagspredigt”, diese Welt ein Irrenhaus: Doch erlaubt mir bitte, / in aller Bescheidenheit zu bemerken, / daß es alles in allem / ein ziemlich günstiger Wandelstern ist, / auf dem wir gelandet sind, // der reinste Rosenhag, / im Vergleich zum Neptun.
Diese Weite des Blicks aber bleibt konkret, sie verliert sich nie im Unendlichen: „Mit dem Unendlichen ist nicht gut Kirschen essen.” Diese Warnung vor der Metaphysik gilt auch für das Leichte. Es ist hier keine puristische Essenz, das von allem Beiwerk Befreite, die letzte noch artikulierbare ontologische Formel – oder was sonst im Steinbruch der Moderne dem Wortmetz an heroischer Selbstbeschränkung abverlangt wird. Im Gegenteil: Das Überflüssige, hüte es. Viel nämlich / bleibt nicht von dir, wenn du es fortwirfst.
IJOMA MANGOLD
HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 150 Seiten, 19,90 Euro.
Wolken-Studie von John Constable (1822)
Foto: York-
Project
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2003

Der Abschüttler
Hans Magnus Enzensberger und die Kunst des Ballastabwerfens

Zu den am häufigsten zitierten Versen dieses großen Lyrikers zählen die ersten Zeilen des Gedichts "Der fliegende Robert": "Eskapismus, ruft ihr mir zu / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich / bei diesem Sauwetter! - "

So oft sind diese Zeilen zitiert worden, daß mancher sie schon für das ganze Gedicht halten mag. Aber es geht weiter, und was noch folgt, lohnt die Lektüre. Die letzten Zeilen lauten: "Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, wenn es draußen stürmt, / euern Kindern in den Ohren liegt, / damit sie euch nicht davonfliegen."

Gut zwanzig Jahre alt ist dieses Gedicht, und die Legende seines Verfassers ist in diesem Zeitraum noch einmal beträchtlich größer geworden. Erfolg und Ruhm genießen auch andere Schriftsteller in Deutschland, aber das Wort Legende schmiegt sich keinem so widerstandslos an wie Hans Magnus Enzensberger. In ihm, so die Fama, haben wir einen, der ist schneller als die anderen. Heller und klüger als der Rest, geschickter und gewitzter, gescheiter und gewandter. Beweglicher eben. Ein Equilibrist, jeglichem Stillstand abhold. Und deshalb von uns, den Fußlahmen, Schwerfälligen, kaum auch nur mit Blicken zu verfolgen. In Hans Magnus Enzensberger, so die Legende, da haben wir einen, der ist seiner Zeit immer ein Stückchen voraus.

Aber ist das nicht alles ganz falsch? Ist Hans Magnus Enzensberger nicht geworden, was er ist, weil er sich auf Wettläufe, die nicht zu gewinnen sind, schon lange nicht mehr einläßt? Nicht, daß er die Mühe scheute, oder daß er kein Herz für aussichtslose Unterfangen hätte. Aber auf sichere Niederlagen läßt er sich nur ein, wenn Kapital daraus zu schlagen ist, intellektuelles Kapital. Und poetisches. Wohl keiner seiner Lyrikbände läßt dies so deutlich erkennen wie der jüngste, "Die Geschichte der Wolken" mit ihren "99 Meditationen". Mit diesem Buch gibt sich Enzensberger als Apologet der Beharrlichkeit zu erkennen - und als Entschleuniger. Die Schärfe seiner Beobachtung verdankt sich eben nicht der höheren Geschwindigkeit, sondern der geringeren. Wenn Enzensberger, der den Dingen gern auf Augenhöhe begegnet, hier einmal als Beobachter einen höheren Standpunkt einnimmt, der besseren Aussicht wegen, dann tut er das nach Art des Ballonfahrers, der sich langsamer im Äther bewegt als jeder andere Mensch. Mit ihm teilt Enzensberger noch eine andere Kunst, die schönste und gefährlichste vielleicht von allen. Es ist die Kunst, Ballast abzuwerfen.

"Ja, ich habe es vermieden, / bis zur letzten Patrone zu kämpfen. / Unterlassen habe ich es, / dem Penner die Bruderhand zu küssen, / und beizeiten zu gießen / die fleißigen Lieschen des Nachbarn." Was hier unter dem Titel "Unterlassungssünden" aufgezählt wird, ist kein Geständnis und keine Beichte. Die Welt nicht verbessert und manchen Anruf nicht beantwortet zu haben, wird zwar eingestanden. Scheinbar demütig heißt es in der vorletzten Zeile: "Wenn ihr könnt, verzeiht mir." Aber erst der Schluß, "Oder ihr laßt es bleiben", zeigt, was wirklich geschieht: Hier werden Zumutungen abgeschüttelt. Immer wieder geht es in diesen Versen um all das, was sich einer vom Leib halten will, weil er nur dann frei ist, frei genug ist für das, was ihm wichtig ist. "Je mehr da ist, / desto vermeidbarer ist das meiste. Nur / das Unauffällige bleibt, / seelenruhig", heißt es in dem Gedicht "Ein kleiner Beitrag zur Verminderung". Ganz ähnlich klang es schon vor acht Jahren, im Band "Kiosk". Damals hieß es in "Minimalprogramm": "Nur wer vieles übersieht, // kann manches sehen. / Das Ich: eine Hohlform, // definiert durch das, was es wegläßt. / Was man festhalten kann, // was einen festhält, das ist das Wenigste." Aber was mag es sein, dieses "Wenigste"? Eine mögliche Antwort darauf gibt die "Überflüssige Elegie": "Das Überflüssige, hüte es. Viel nämlich / bleibt nicht von Dir, wenn Du es fortwirfst."

Aber auch die gehüteten Schätze können zur Last werden. "Endlich Ruhe!" ruft das lyrische Ich erleichtert. Aber dann sind da noch die Bücher, "die dir etwas ins Ohr wispern". Nicht zu vergessen die Wörter, die einen "anrempeln". Zum Verrücktwerden, "dieser Mückenschwarm / schwirrend im inneren Ohr". Die Schlaflosigkeit, an Schlaf ist "nimmer zu denken", ist ein wiederkehrendes Motiv, und im Ohr schwirren nicht nur Wortmücken, sondern auch Stimmen, eine zumindest, "immer dieselbe / Ja, ich bin gemeint". Die Botschaft? Zuletzt nur noch ein hoher Ton, der schmerzt, "wie von einem nassen Finger, der langsam, / langsam über den Rand eines dünnen Glases / streicht. Ein immer ferneres Klingeln, / das klingelt und mich nicht schlafen läßt."

Oft wird gefragt, ob es nicht auch eine Nummer kleiner täte. Das Zeitalter der Globalisierung kommentiert Enzensberger mit einem "Kleinen Abgesang auf die Mobilität" - "Noch am ehesten auszuhalten / war es unter dem Birnbaum / zu Hause". Oder die Unendlichkeit zum Beispiel, ist sie wirklich erstrebenswert? "Allerhand nämlich hat es für sich, / daß das, was vorbei ist, vorbei ist." Halten wir uns lieber an die Natur und ihre Schwestern, die Göttinnen, die ihre Meisterschaft in der "Beschränkung" zeigen, und erfreuen wir uns an den "Vorzügen der Endlichkeit", von denen der Titel des Gedichts spricht. Enzensbergers Beispiel sind die Kirschen dort auf dem Teller, "endlich vielfarbig" und ein Genuß nur für kurze Zeit: "Morgen schon ist es aus mit ihnen, / aus und vorbei. Du mußt sie essen / jetzt oder nie."

Die Beschränkung auf den Augenblick, der Genuß des Flüchtigen, die Wonnen des Gewöhnlichen, die Konzentration auf das scheinbar Überflüssige - Reduktion heißt das Programm. Aber es ist mehr Ehrgeiz als Tugend in dieser Bescheidenheit. Denn es geht ums Ganze, ums Glück, um die permanent gefährdete Fähigkeit, es zu empfinden. Das ist am deutlichsten in den zarten Liebesgedichten zu spüren, aus denen am schönsten die schlichte Dankbarkeit spricht für die so unwahrscheinliche Gegenwart des anderen.

Gern wird die Perspektive gewechselt, vom Menschen, der sich wider besseres Wissen noch immer für das Maß aller Dinge hält, zur Natur auch in ihren kleinsten Bestandteilen und wieder zurück. Wenn das lyrische Ich der Worte überdrüssig ist, gilt noch immer das Wort aus dem Band "Blindenschrift" von 1964: "Wirf das Buch fort / und lies." Zum Beispiel in den Wolken, denen ein zwölfteiliger Zyklus gewidmet ist, Höhepunkt und Abschluß des Bandes (F.A.Z. vom 28. Februar). Hier, auf dem Rücken liegend, in die Betrachtung der Wolken vertieft, ist das lyrische Ich ein einziges Mal uneingeschränkt glücklich und vermutet, die Wolken seien "gedankenlos / glücklich wie ich". Einmal also Maßlosigkeit im Vergleich, wo sonst doch gerade aus dem Wahren der Proportionen bescheidenes Glück sprießen soll und bescheidene Erkenntnis: "Mit dem Rücken zur Gegenwart, / an die Reling gelehnt, sieht man weiter, sogar im Dunkeln." Und weiter: "So bemerkt man manches,/ erwartet wenig, / versäumt nichts."

Wie mögen wohl die Sichtverhältnisse am Ort der größten und schrecklichsten Stille sein, stiller noch als in der stillsten Wolke? Niemand weiß es, denn noch ist keiner den Weg ins Auge des Orkans gegangen. Aber in diesem Dichter haben wir einen, der sich bestimmt sehr dafür interessiert.

Hans Magnus Enzensberger: "Die Geschichte der Wolken". 99 Meditationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 150 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein Poet befindet sich stets auf der Suche nach neuen Metaphern, und so behilft sich die jüngste Lyrik häufig mit Formeln aus dem Fundus der Naturwissenschaften, behauptet Ijoma Mangold und bezeichnet diesen Semantik-Transfer als "in aller Regel eine poetische Erschleichung" oder auch als "verschwiemelte Synthese aus Präzision und Mysterium", der selbst Hans-Magnus Enzensberger seiner Meinung nach schon häufiger erlegen ist. Im neuesten Gedichtband ist das alles ganz anders, beteuert Mangold. Zwar nehme Enzensberger Naturphänomene ins Blickfeld, doch gerade dort, wo der Reduktionismus der Naturwissenschaften das Phänomen selbst zu beseitigen droht, erklärt Mangold seine Begeisterung, schalte sich der Lyriker Enzensberger ein und verhelfe der "emergenten Form" zu ihrem Recht. Ein flüchtiges Recht, weil ein flüchtiges Phänomen, und gerade deshalb könne man sich eigentlich gar keinen besseren Gegenstand vorstellen, gesteht Mangold, da Wolken ununterbrochen Bedeutung erzeugen und wieder auflösen. Der Wolken-Zyklus bildet den Abschluss des Gedichtbandes, der für Mangold eine ungeheure ästhetische Leichtigkeit birgt, so dass er sich, gesteht er, manches Mal gefragt habe, ob nicht die Grenze zur Leichtfertigkeit überschritten sei. Aber nein, winkt er ab, das Leichte gelte es als kostbares Gut zu hüten, eine moralische Implikation, die Enzensberger in geglückter Form reflektiere.

© Perlentaucher Medien GmbH
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»In Enzensberger haben wir einen, der ist schneller als die anderen. Heller und klüger als der Rest, geschickter und gewitzter, gescheiter und gewandter. Beweglicher eben.« Hubert Spiegel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20030816