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Durch Geschichte und Gegenwart verfolgt Durs Grünbein in diesem neuen, seinem zwölften Gedichtband seinen Kurs des Poetisch-historischen Gedichts. Als Spurensicherung, Ortsbestimmung versteht der Dichter seine Streifzüge durch Zeiten und Räume, in denen er nicht nur Deutschland, sondern auch dem Gegenpol vieler Deutscher, Italien, und in beiden Ländern sich selbst begegnet.
Immer, hier wie dort, kreuzt Vergangenheit den Weg des Wanderers. Durch Mörderreviere führen seine Verse ebenso wie über Lichtungen, zu Tauchgängen im Mittelmeer wie auf gesamtdeutsche Sandpfade und betonierte
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Produktbeschreibung
Durch Geschichte und Gegenwart verfolgt Durs Grünbein in diesem neuen, seinem zwölften Gedichtband seinen Kurs des Poetisch-historischen Gedichts. Als Spurensicherung, Ortsbestimmung versteht der Dichter seine Streifzüge durch Zeiten und Räume, in denen er nicht nur Deutschland, sondern auch dem Gegenpol vieler Deutscher, Italien, und in beiden Ländern sich selbst begegnet.

Immer, hier wie dort, kreuzt Vergangenheit den Weg des Wanderers. Durch Mörderreviere führen seine Verse ebenso wie über Lichtungen, zu Tauchgängen im Mittelmeer wie auf gesamtdeutsche Sandpfade und betonierte Magistralen, zwischen Kiesgruben und Flakbunkern, entlang der Ost-West-Achse des unruhigen, wieder mit Kriegen konfrontierten Kontinents. Dass bei solchen Eindrücken der europäische Gedanke ins Spiel kommt - als Realität und Utopie -, wird niemanden wundern, der Grünbein auf seinen Wegen gefolgt ist. »Für alle Fälle kann Dichtung auch das sein: ein Gerät zum Einfangen der Zukunft.«

In seinen Versen verbindet sich die genaue Betrachtung kleiner Dinge mit der feinen Ironie eines Beobachters, dem gerade das unter den großen Themen oft Verschüttete am Herzen liegt. Mit wenigen Strichen ein Gedicht zu zeichnen, ist seine mit den Jahren gereifte Kunst.
Autorenporträt
Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Nils Kahlefendt scheint überrascht von einer gewissen Leichtigkeit in den neuen Gedichten von Durs Grünbein. Zwar wird diese erkauft mit allerhand Flachem, banalen Erkenntnissen, dürren Bildern, so Kahlefendt, doch immer wieder verblüfft ihn der Dichter auch, etwa mit klugen Kompositionen oder reflektierten Versen über die eigene Kindheit. Als Poeta doctus erscheint ihm Grünbein, wenn er als Spaziergänger in Rom oder Berlin ("Das Antennenfeld wird nicht mehr bestellt") die Geschichte der Städte Revue passieren lässt. Wasserleichen, Judentransporte, Revolutionen und Kriege tauchen auf und werden vom "Assoziations-Generator" des Autors verarbeitet, erklärt der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2022

Wieder Weltmeister
Richtet sich zwischen Bildung und Erinnerungskultur womöglich etwas zu gemütlich ein: Durs Grünbein mit neuen Gedichten
„Unheimlich, wie wenig wir von der allernächsten Zukunft wissen.“ So beginnt ein titelloses Gedicht im neuen Lyrikband des vielfach ausgezeichneten Dichters und Essayisten Durs Grünbein, und ein wenig unheimlich wirkt es tatsächlich, wie sehr diese Zeile sich als Prophezeiung des Lesegefühls erweist, das über neun Kapiteln nach und nach aufkommen wird.
„Äquidistanz“ ist ein elegisches Buch, das sich in weiten Teilen dem Erinnern und Rückschauen widmet: Grünbein, der in Dresden aufgewachsen ist, viel Zeit in Berlin verbracht hat und seit Jahren (auch) in Rom lebt, gedenkt noch einmal der Wendezeit, besucht wohlbekannte Postkartenmotive des Mythos „Wildes Berlin“ und spaziert durch die Kulissen der deutschen Italiensehnsucht. Zwischen diesen Nostalgieschauplätzen tauchen gelegentlich sprachliche Stolpersteine auf: die Toten der Fluchtrouten nach Europa, ein KZ am Rande des hübschen Wanderwegs durch den Brandenburger Wald.
Das Seltsame an diesen Störfaktoren aber ist, dass sie kaum stören – zu bequem fügen sie sich ein in den stellenweise fast staatstragenden Ton, der sich durch den ganzen Band zieht, unterbrochen von einigen bemerkenswerten Kalauern: „Durch die Baumstämme glänzen sah man ihn: den Wannsee, den Wahnsee“; oder, in einem Gedicht über den Schnee: „An den Rändern der Welt ist Weiß die beherrschende Farbe, an den Polen. Was hat Polen damit zu tun?“ Offenbar nichts, jedenfalls wird diese Frage im restlichen Gedicht nicht weiterverfolgt.
„Unheimlich, wie wenig wir von der allernächsten Zukunft wissen“: Vermutlich konnten weder Verlag noch Dichter in der Vorbereitung dieses Bandes etwas vom nahenden Krieg in der Ukraine ahnen. Und natürlich lässt sich trefflich darüber streiten, welche Art von Gedichten es nach dem 24. Februar 2022 braucht – oder ob es diese gerade überhaupt braucht, wie die ukrainische Lyrikerin Halyna Kruk vor Kurzem zum Auftakt des Poesiefestivals Berlin fragte. Aber selbst wenn man von der Notwendigkeit von Lyrik gerade in Zeiten des Krieges und der Katastrophe überzeugt ist, kann man eine gewisse Irritation beim Lesen gleich mehrerer Grünbein-Gedichte, die sich vornehmlich mit der Ärgerlichkeit von Insektenstichen beschäftigen, nicht ganz beiseiteschieben: „Man hört das Summen, ein Bombergedröhn. / Der Dritte Weltkrieg der Insekten ist ausgebrochen. / Die ganze Nacht wird kein Auge zugetan. / Morgens sind die Handrücken, die Füße /mit roten Wundmalen bedeckt, die brennen, brennen.“ Abgesehen von der Metaphorik, die angesichts der aktuellen Weltlage schmerzhaft unangemessen erscheint, schleicht sich bei Gedichten wie diesen, die zudem größtenteils umgeben sind von bildungsbürgerlichen Reminiszenzen auf griechische oder lateinische Klassiker, das Gefühl ein, hier schreibe einer, dessen größtes Problem ein Mückenstich ist.
Brauchen Dichter Probleme, um schreiben zu dürfen? Nicht unbedingt. Aber ein gewisses Maß an Dringlichkeit und Bereitschaft, dorthin zu gehen, wo es auch für einen selbst unbequem wird – das ließe sich erwarten von einem Autor wie Grünbein, der andernorts engagiert in den öffentlichen Diskurs eingreift und in der Vergangenheit etwa Position gegen die Pegida-Bewegung in seiner Heimatstadt oder antisemitische und rassistische Aussagen anderer Schriftsteller bezogen hat.
„Gedichte sind nicht dazu da, die Dinge unverständlich auszudrücken, sondern, um das Unverständliche auszudrücken“, hat der Lyriker Ramy Al-Asheq einmal gesagt. Von den vielen Definitionsversuchen dieser notorisch schwer zu definierenden Gattung ist dies vielleicht einer der überzeugendsten: Lyrik kann es gelingen, zur Sprache zu bringen, wofür es zuvor keine Sprache gab. Sie ist ein Modus des Erkennens, des Begreifbar- und Besprechbarmachens, des wortwörtlichen In-Worte-Fassens.
Ein solcher Modus des plötzlichen Sichtbarmachens gelingt Grünbein in einigen Gedichten im zweiten Teil seines Bandes, in denen er Postkartenmotive aus den 1930er-Jahren mit dem Text auf der Rückseite ebendieser Postkarten kombiniert. Diese objets trouvés erlauben eindrückliche Zuspitzungen, zum Beispiel in Form einer Postkarte, auf der die Allee Unter den Linden im Festschmuck zu sehen ist und auf deren Rückseite eine Ilse an ihre Freundin Irma in Wien schreibt, die deutsche Hauptstadt interessiere sie „nicht die Bohne“, während Grünbein, das sonnendurchflutete Motiv auf der Vorderseite der Karte beschreibend, hinzufügt: „August 36 Deutschland zeigt sich / von seiner Schokoladenseite. / Berlin grüßt die Welt.“
Ansonsten aber wiederholt Grünbeins gesetzte Sprache hauptsächlich, was man schon weiß. Gerade an Stellen, an denen es darum ginge, das zu tun, was eben vielleicht nur Lyrik kann – dem Unsagbaren trotz allem sprachliche Konturen zu geben –, werden Allgemeinplätze gebraucht, die gut und lange eingewohnt sind. Dort, wo es unheimlich werden könnte, versichert der Text sich selbst und seinen Lesern, auf der richtigen Seite zu sein: als Erinnerungsweltmeister, deren Vergangenheit gründlich aufgearbeitet ist. Dazu trägt auch bei, dass Grünbein beispielsweise das Ende der Zwanzigerjahre als eine Zeit beschreibt, „als die Blindenführer Europas beschlossen / ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen“. Dass die Bevölkerungen Europas keinen aktiven Anteil am kommenden Faschismus hatten, ist zumindest im Hinblick auf Deutschland eine gewagte These.
„Kein Vergleich, das hieß: / Nur ein Mythos wird bleiben. / Wie schlachtet man einen Mythos?“, fragt eines der Gedichte in Bezug auf das Dritte Reich. Eine gute Frage. „Äquidistanz“ bleibt leider das Gegenteil einer Mythenmetzgerei; vielleicht eher ein gemütlicher Museumsbesuch am Sonntagnachmittag oder ein um dreißig Jahre aus der Zeit gefallener Mottoband zum Thema „Ende der Geschichte“.
LEA SCHNEIDER
Brauchen Dichter
Probleme, um schreiben
zu dürfen?
Durs Grünbein:
Äquidistanz. Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2022. 183 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2022

Der Assoziations-Generator steht nicht still
Bevor uns die Sommer historisch wurden: In seinem klugen Lyrikband "Äquidistanz" findet Durs Grünbein zu neuer Leichtigkeit

"Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?" - so fragt Durs Grünbein mit Walter Benjamin in der vierten und letzten seiner Vorlesungen "Beyond Literature", die er 2019 als Lord Weidenfeld Lectures in Oxford gehalten hat. In vielen der knapp hundert Ge dichte, die der jüngste, mittlerweile zwölfte Lyrikband des Büchnerpreisträgers nun in neun Abteilungen versammelt, spüren wir diesen Lufthauch. Ob Grünbein seine Wahlheimat Rom oder die Zwielicht-Zonen der Metropole Berlin mit Benjamin und Kracauer durchstreift - stets werden konkrete Orte mit Geschichte aufgeladen. In der auf schwankendem Grund erbauten deutschen Hauptstadt geht die Erkundung nicht selten vom Wasser aus - Wannsee, Schlachtensee oder menschengemachte Wasserstraßen wie der Spreekanal: "Historische Wasser, aus vielerlei Zeiten legiert, / mit Toten gefüttert, Revolutionen, von Industrie satt. / Gleichgültig fließen sie an Lagerhallen, Fabrikruinen, / neuen Reihenhäusern vorbei von Schloß zu Schloß." Die Bewegung des Autors durch geologische und historische Schichten münden im Band "Äquidistanz" häufig in einer Frage: "Wer bin ich an dieser Stelle der Chronik? Ich gehe, // sehe das Ganze und bin doch nicht mit im Bild."

Grünbeins Verfahren erinnert in der ersten, auf Berlin fokussierten Abteilung des Bandes an Kirsty Bells alternative, vom Wasser her gedachte Berlin-Geschichte "Gezeiten der Stadt" (Kanon Verlag). Unter den kräuselnden Wellen des Landwehrkanals, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Peter Joseph Lenné schiffbar gemacht, ahnt man hier das Nachbild der Wasserleichen aus Revolution und Weltkrieg - von der ermordeten Rosa Luxemburg bis zu den Opfern im Nord-Süd-Tunnel, der 1945 von der SS geflutet wurde. Grünbein spürt im Gedicht "Landwehrkanal, Schwarzfilm" den Abwärtssog des Verdrängten, weiß aber, dass die Bilder längst in die mediale Verwertungskette eingespeist sind: "Fließband der Bilder, Entwicklerbad, / bis ein Wolkenzug alles streicht. / History channel, immerfort übermalt."

Grünbeins Assoziations-Generator steht nicht still. "Ringbahn" heißt es: Die S-Bahn-Wagen der BVG erinnern an ihre Vorläufer, "genauso blankpoliert, / nur mit anderen Menschen an Bord, eine Fracht / zwischen zwei Arbeitsschichten beiseite gebracht." Die Transporte, mit denen Berliner Juden vom Anhalter Bahnhof aus in die Vernichtungslager geschickt wurden, starteten gewöhnlich im morgendlichen Berufsverkehr. Eine harmlose Kiesgrube im Berliner Umland evoziert in "Kugellager" Bilder von Massenerschießungen in Polen oder Weißrussland, noch der lauschigste Waldweg scheint direkt in ein KZ-Außenlager zu führen. Es ist wie verhext: "Die schönsten Wanderrouten, / und immer kreuzt / eine Vergangenheit den Weg."

Destinationen wie der Teufelsberg ("Das Antennenfeld wird nicht mehr bestellt") oder der ehemalige Kontrollpunkt Dreilinden erinnern an den Kalten Krieg - während sich die "alte Kapitale des Bösen", arm, aber sexy, mit ihren Techno-Bunkern und besetzten Häusern womöglich anschickt, so steht es in "Der Ort", zur "Quelle künftiger Kriege" zu werden.

Die Texte der zweiten Abteilung lesen sich mitunter wie Hans Dieter Schäfers Studie "Das gespaltene Bewusstsein", gesetzt in Versform - eine Sammlung von Readymades, deutsche Ansichtspostkarten aus einer Zeitspanne von den frühen Dreißigern bis zum "banalen Finale" des Zweiten Weltkriegs in scheinbarem O-Ton und prägnanten Bildbeschreibungen. Das Gedicht "Die Liebe im Dritten Reich" nimmt dabei eine Erinnerung an den verbotenen Schatz aus der Briefmarkensammlung des Kindes auf, mit der auch die "Oxford Lectures" begonnen hatten: "Die violette Briefmarke zeigt ihn / im Profil, den Führer der Deutschen. / Der Gedanke: Millionen Zungen / haben ihn damals abgeleckt, / natürlich von hinten nur, unbewußt."

Der Wort-Archäologe Grünbein reist mit uns Lesern nicht nur in die Vergangenheit, sondern durch die Welt, ob in seine Zweitheimat Rom, nach Hiddensee oder - in einem Zyklus von immerhin zwanzig Gedichten - zu einer mediterranen "Insel, die es nicht gibt". In einer Abteilung von sieben die Lyrik in Richtung Prosa verlassenden "Asterisken" gibt sich der Poeta doctus überzeugt: "Für alle Fälle kann Dichtung auch das sein: ein Gerät zum Erfassen der Zukunft". Kann ein "Gedicht Leben retten", wie der Autor an anderer Stelle ("Hypothese") insinuiert? Evidenztechnisch: schwierig! Sicher ist, dass man "im Vers ideenschnell fliegt" - und dass Grünbein im aktuellen Band immer dann zu großer Form aufläuft, wenn er in die eigene Geschichte unterwegs ist.

In den Abteilungen Drei und Neun liest sich "Äquidistanz" als Autobiographie und hochreflektierte Schreib-Vita in Versen. "Ostbesucher 1:1" erinnert an den Vater, dem der Mauerbau in die Lebensplanung pfuschte, Grünbeins Geburtsjahr wird nicht nur für Kalte Krieger in Ost und West, sondern für seine Mutter zum Härtetest. Dass die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können, weiß auch Grünbein. Allenfalls mit Worten findet man "den Weg zurück durch die Jahre, / bevor uns die Sommer historisch wurden", heißt es in "Prähistorischer Sommer". Mit der Straßenbahnlinie 8, die vom Dresdner Hauptbahnhof hinauf nach Hellerau führt, reist der Dichter ins alte Elternhaus, die "Sandmännchen"-Melodie im Ohr, "die altklugen Tiere aus den Kinderbüchern hüpfen vorm Fuß" - und sofort denkt man an den Dresdner Antipoden, an Uwe Tellkamps bachmannpreisgekrönte Tatra-Straßenbahnfahrt mit der Linie 11 entlang der Bautzener Straße.

Gewiss, auch im neuen Band findet man, wenn man es darauf anlegt, banale Erkenntnisse und eher dünne Metaphern: Wenn der "Wannsee" zum "Wahnsee" mutiert (und die gleichnamige Konferenz nicht weit ist), wenn eine Birke im Ostberliner Hinterhof von geschichtsvergessenen Alt-Eigentümern geschreddert wird, fallen Lernkurve und ästhetischer Genuss eher flach aus. Dennoch findet Durs Grünbein in dem klug komponierten, formal von streng gebundenen bis zu freien Prosa-Gedichten reichenden Band zu so etwas wie einer neuen Leichtigkeit, in der sich selbst ein gefundener Einkaufszettel in Lyrik verwandeln kann ("Zwischen den Zeilen / aber zwitschert das Licht."). Das Gedicht "Lobus frontalis", prominent und im Duktus Gottfried Benns am Ende der ersten Abteilung platziert, nimmt nicht nur Grünbeins erste "Schädelbasislektion" aus dem Jahr 1991 wieder auf - es könnte auch gut als Motivationsspruch überm Schreibtisch des bald sechzigjährigen Ausnahme-schriftstellers stehen: "Öffne dich, leichthin, der Welt." NILS KAHLEFENDT

Durs Grünbein: "Äquidistanz". Gedichte.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2022. 188 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Die Stärke des Poeten ... ist eine schwebende Mischung aus Pathos und Dezenz. ... In diesem Gedichtband lässt es sich manchmal blättern wie in alten Alben, die den historischen Ansichten eine geisterhaft Gegenwart verleihen.« Peter von Becker Der Tagesspiegel 20230102