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Wer Deutschland sehen will, fährt nach Berlin oder München, auch an den Rhein. Aber liegt das wirkliche Deutschland nicht ganz woanders? Dort, wo man keine Stadtrundfahrten macht? Vielleicht sogar in einer Fußgängerunterführung in Frankfurt am Main? Wilhelm Genazino hat sich auf den Weg gemacht, die unansehnliche, aber wirkliche Mitte Deutschlands zu erkunden: Einkaufsstraßen und Vororte, Katzen in Schaufenstern, nächtlich knabbernde Mäuse in der U-Bahn und alkoholbedürftige Menschen an grauen Kiosken. Zugleich rekonstruiert er voller Witz den eigenen Weg durch Frankfurt - als stiller…mehr

Produktbeschreibung
Wer Deutschland sehen will, fährt nach Berlin oder München, auch an den Rhein. Aber liegt das wirkliche Deutschland nicht ganz woanders? Dort, wo man keine Stadtrundfahrten macht? Vielleicht sogar in einer Fußgängerunterführung in Frankfurt am Main? Wilhelm Genazino hat sich auf den Weg gemacht, die unansehnliche, aber wirkliche Mitte Deutschlands zu erkunden: Einkaufsstraßen und Vororte, Katzen in Schaufenstern, nächtlich knabbernde Mäuse in der U-Bahn und alkoholbedürftige Menschen an grauen Kiosken. Zugleich rekonstruiert er voller Witz den eigenen Weg durch Frankfurt - als stiller Beobachter einer gewöhnlichen Stadt, die exotischer ist als die Ferne, die inzwischen jeder kennt.
Autorenporträt
Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt: Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016), Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018), Der Traum des Beobachters (Aufzeichnungen 1972-2018, 2023).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2013

Neues vom Nachtleben der Mäuse

Wilhelm Genazino hat ein Frankfurt-Buch herausgebracht. "Tarzan am Main - Spaziergänge in der Mitte Deutschlands " handelt vom Flanieren und Schreiben.

Von Florian Balke

Hässlich, abstoßend, ordinär, spießig. Wilhelm Genazino hält gewissenhaft fest, wie Frankfurt gerne genannt wird, die seltsame Scheinriesenstadt, die vom Flugzeug aus erst in Wiesbaden und Hanau zu enden scheint, deren Wolkenkratzermitte sich nach der Landung aber in wenigen Minuten durchqueren lässt. Wie es anders geht, zeigt der Schriftsteller in "Tarzan am Main". Sein neues, seit gestern erhältliches Buch hat Genazino zu seinem siebzigsten Geburtstag in der vergangenen Woche vorgelegt, am 4. Februar präsentiert er es von 19.30 Uhr an im Literaturhaus. In den prägnanten Skizzen dieser "Spaziergänge in der Mitte Deutschlands" hat auch Genazino selbst einiges zu sagen zur "Problemzone" Hauptwache und zur Zeil, für ihn "Frankfurts vielleicht heikelstes Kapitel", einst "eine Art Abstellplatz für ältere Kaufhäuser", mittlerweile aufgehübscht, aber noch immer nicht schön. Und daher bestes Beispiel für die These des Autors, die Dynamik des Kapitals führe zwar zum fortlaufenden Stadtumbau, sei aber nicht darauf angelegt, zu gefallen.

Für den Schriftsteller ist die Stadt gerade darum geeignetes Terrain. "Das Umhergehen in vollständig kommerzialisierten Umgebungen macht uns zu Minimalisten des Sehens, die sich schon mit kleinen Entdeckungen zufriedengeben müssen." Das Buch vom ästhetisch genügsamen, aber entdeckungsfreudigen Spaziergänger durch Frankfurts Baustellen erlaubt es diesem zurückhaltenden Schriftsteller daher auch, ein wenig von sich selbst und seinem Schreiben zu sprechen, ohne davon viel Aufhebens machen zu müssen.

Sich selbst beobachtet Genazino so genau wie seine Stadt. Der Tarzan des Titels ist er selbst, der als zehn Jahre alter Junge im zerstörten Mannheim mit dem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des nächsten Krieges rechnet, vorher auswandern will und in den Comics seines Freundes Günter täglich davon liest, wie Tarzan sich an langen Lianen von Baum zu Baum schwingt. "Das wollte ich im Dschungel genauso machen. Wir würden uns eine Baumhütte bauen, dort würden wir den Krieg überleben." Später zieht der Schüler, der sich einen Stock als Waffe schnitzt, wegen eines Redakteurspostens bei der Satirezeitschrift "Pardon" nach Frankfurt, kein Herr des Großstadtdschungels, sondern Angestellter in der typischen Angestelltenstadt, der darüber nachdenkt, einen Roman über seinen Vater zu schreiben, den Arbeiter, den er seit dem Krieg nur noch verängstigt und anpassungsbereit erlebt hat. "Der Angestellte dagegen spekuliert, spintisiert und illusioniert, er lebt öfter in Möglichkeiten als in Realitäten." Damit ist er verwandt mit dem Romanautor, der die Gegebenheiten der Wirklichkeit ebenfalls umherrückt und neu verbindet. In ihn verwandelt sich Genazino endgültig, nachdem er entlassen worden ist und sich einige Jahre als freier Autor für den Hessischen Rundfunk durchgeschlagen hat.

Als Kind, berichtet Genazino, habe er die Schubladen der elterlichen Wohnung aufgezogen. "Ich wusste noch nicht, was Fremdheit war, obwohl ich schon in ihr lebte." Frankfurt hat keine Schubladen, in denen sich Interessantes verbirgt, das Suchenden Aufschluss über die Welt und sich selbst geben könnte. Dafür hat es Plätze, Winkel und Straßen, die Karmelitergasse zum Beispiel, die Genazino ein Geheimtipp zu sein scheint. "Ich habe, sooft ich die Gasse entlangging, keinen Menschen getroffen, der ebenfalls hier unterwegs war." Frankfurt, das ist für ihn aber auch das Café an der Rotlintstraße, in dem die zusammengeknüllten Mäntel der Gäste so aussehen, als handele es sich um ein "Café für entkommene Pelztiere".

Frankfurt, das ist vor allem aber auch das türkische Ehepaar, das nach dem Einkauf auf der Zeil das neue Sakko des Mannes auf der Straße anprobiert und den Kleiderbügel lässig an das nahe gelegene Denkmal hängt: "Der Türke bemerkt nicht, dass ihm beiläufig eine Verwandlung von Gegenwart in Dauer gelungen ist." Was in der unbewussten Geste des türkischen Ehemanns liegt, ist auch Genazinos Metier: dem Flüchtigen des Lebens und Alltags eine Form geben, mit einem Dreh, einem Kniff, der aus zufällig Beobachtetem Dauerhaftes macht, festgehalten in Blicken und Wörtern. "Entscheidend", notiert er dazu, "ist oft die Gleichzeitigkeit von anregenden und lächerlichen Einzelheiten."

Frankfurt bietet in dieser Hinsicht viele Vorteile, etwa in den überaus stillen Straßen gleich neben der Zeil, über die Genazino fast in Lachen ausbrechen will. "Ich lache dann doch nicht, weil mir wieder einfällt, dass eine Stadt nur dann menschlich ist, wenn sie ihren Bewohnern Gelegenheit gibt, sich über ihre Ansprüche lustig zu machen." Wenn man es so sieht, ist Frankfurt mit seiner Metropolensehnsucht und seinem Kleinstadtcharme eine überaus menschliche Stadt.

Aber sogar hier kann die literarische Produktion ins Stocken geraten. Die Aufzeichnungen, die Genazino aus der Stadt mit zu sich nach Hause bringt, abtippt, ablegt und später nutzt, entstünden oft nur, weil der "inneren Mutlosigkeit" irgendetwas entgegengesetzt werden müsse. Morgens sitzt der Autor dann gelegentlich am Schreibtisch und sucht nach Worten: "Nein, ich suche eigentlich nicht, ich warte und lausche. Diese Bedürftigkeit löst jeden Übermut auf. Ich schaue umher und erwarte Anstöße. Deswegen sehe ich auch auf die Straße herunter, die um diese Zeit noch unbelebt ist." Hilfreich kann es in solchen Situationen sein, im Supermarkt Zuflucht zu suchen. "Der Supermarkt ist die kleinste mögliche Erlebniseinheit in der Stadt."

Und so, wie man abends den Menschen dabei zuschauen kann, "wie sie ein bisschen merkwürdig werden, weil auch ihnen der Tag zu lang wird", wie ältere Paare "merkwürdig gemeinsam" auf einer Bank sinken, sitzt spätnachts schließlich auch Genazino in der U-Bahn-Haltestelle Hauptwache und betrachtet das, was er das Nachtleben der stationseigenen Mäuse nennt - vier Stadttiere, die ihrer Futtersuche mit großer Ruhe nachgehen und sich erst dann in ihr Mauseloch zurückziehen, wenn der nächste Zug herandonnert. "Sie hatten viel zu tun", schreibt der Autor. Da geht es ihnen wie den menschlichen Frankfurtern um sie herum, zwischen denen sich der Schriftsteller bewegt. Wilhelm Genazino beobachtet uns.

Wilhelm Genazino, "Tarzan am Main - Spaziergänge in der Mitte Deutschlands", Carl Hanser Verlag, München 2013, 138 Seiten, geb., 16,90 Euro.

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"Das Schöne an 'Tarzan am Main' ist, dass Genazino autobiografische Skizzen mit Betrachtungen Frankfurts und des städtischen Lebens vermischt." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 22.01.13

"Niemand sonst in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart beschreibt mit derartiger Autorität und Beiläufigkeit die witzig-flüchtigen, diffusen Erfahrungen von Fremdheit, Langeweile, rätselhaftem Glücksgefühl ohne erkennbaren Anlass: der Grundstoff des erlebten Lebens." Joachim Kalka, Stuttgarter Zeitung, 18.01.13

"Was Wilhelm Genazino über die Sprachkunst schreibt, gilt für seinen Band Tarzan am Main: 'Nur in der Literatur fällt Wissen von größter Bedeutsamkeit mit Wissen von größter Nichtigkeit in eins zusammen.'" Klaus Zeyringer, Der Standard, 06.04.13