Produktdetails
  • edition suhrkamp
  • Verlag: Suhrkamp
  • Abmessung: 177mm x 109mm x 10mm
  • Gewicht: 104g
  • ISBN-13: 9783518133095
  • ISBN-10: 3518133098
  • Artikelnr.: 24922046
Autorenporträt
Roland Barthes wurde am 12. November 1915 in Cherbourg geboren und starb am 26. März 1980 in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er studierte klassische Literatur an der Sorbonne und war danach als Lehrer, Bibliothekar und Lektor in Ungarn, Rumänien und Ägypten tätig. Ab 1960 unterrichtete er an der École Pratique des Hautes Études in Paris. 1976 wurde er auf Vorschlag Michel Foucaults ans Collège de France auf den eigens geschaffenen Lehrstuhl »für literarische Zeichensysteme« berufen. In Essais critiques beschäftigt sich Barthes mit dem avantgardistischen Theater. Prägend für ihn waren unter anderem Brecht, Gide, Marx, de Saussure sowie Jacques Lacan. Zudem war Barthes ein musikbegeisterter Mensch, vor allem als Pianist und Komponist. Horst Brühmann, geboren 1951 in Borken, studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main. Er war als Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt am Main und als Lektor im wissenschaftlichen Lektorat u. a. im Suhrkamp Verlag tätig. Außerdem arbeitete er als Übersetzer für wissenschaftliche Texte. Er starb am 24. Februar 2022 in Frankfurt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2010

Echtheit statt Plastik
Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“, erstmals komplett
auf Deutsch, treffen heute auf eine veränderte Weltsicht
Es gehört zu den merkwürdigen Details der deutschen Rezeption von Roland Barthes, dass eines seiner populärsten Bücher bislang nur in bruchstückhafter Übersetzung verfügbar gewesen ist. Die „Mythologies“ von 1957 begründeten Barthes’ Popularität als Semiologe der Alltagskultur. In der deutschen Fassung, dem Edition-Suhrkamp-Band von 1964, waren nur 19 der 53 Einzeltexte sowie die komplett übersetzte theoretische Nachschrift enthalten. Eine „Notiz“ am Ende des Buches besagte, dass jene Analysen fehlen, „deren Thematik und Bedeutung einem mit den Verhältnissen in Frankreich wenig vertrauten Leser nur unzureichend sich erschlossen hätten“. Nun wird die ganze Absurdität dieses Hinweises deutlich, die Willkür der früheren Auswahl: Denn unter den weggelassenen Texten gibt es großartige, geographisch völlig neutrale Beiträge wie „Der Schriftsteller in Ferien“, „Seifenpulver und Detergenzien“, „Ornamentale Küche“ oder „Marsmenschen“. Mit Waschmittel und Außerirdischen wären auch deutsche Leser vertraut gewesen.
Fast sechzig Jahre nach dem Entstehen der ersten Essays geht von Barthes’ Interpretationen immer noch große Überzeugungskraft aus, und unwillkürlich möchte man ihm folgen, sucht beim Lesen nach aktuellen Entsprechungen, nach den „Mythen“ der Gegenwart. Kehrt nicht die Rede über Einsteins Gehirn, als „Essenz des Denkens“, heute in der öffentlichen Wahrnehmung Stephen Hawkings wieder, dem „reinen Geist“ in einem schrumpfenden Körper? Ließen sich Barthes’ Ausführungen zu den unsicheren Anfängerinnen im Striptease, die allein noch ein erotisches Versprechen erzeugen, nicht mit der Amateurpornographie im Internet vergleichen, die der gepanzerten Nacktheit professioneller Darsteller ermangelt? Und was ist mit den Fernsehköchen? Haben sie nicht jene Visualisierung des Geschmacks optimiert, die Barthes schon an den aufwendigen Glasuren und Krusten der Essensfotos in Frauenzeitschriften beschrieben hat?
Der Impuls des Weiterdenkens, der Verdoppelung des Gesagten ist jederzeit präsent. Und doch stellt sich im Verlauf der Lektüre auch ein anderer, distanzierender Effekt ein: Die Texte tragen inzwischen eine deutliche historische Markierung; sie beschreiben Prozesse der Sinnbildung, zielen auf ein gesellschaftliches Gefüge, das sich innerhalb eines halben Jahrhunderts fundamental verändert hat. Barthes’ wiederkehrende Formulierung von den „Kleinbürgern“ etwa, von der „bürgerlichen Norm“, die der „Hauptfeind“ der Analysen sei: Im Insistieren auf dem „gesunden Menschenverstand“, bei der Beurteilung von Kunstwerken oder politischen Ereignissen, erkennt er einen Hauptproduzenten der mythologischen Redeweise. Die Dinge verstehen sich im System „kleinbürgerlicher“ Weltwahrnehmung von selbst, sollen mit dem bloßen Gemüt erfassbar sein, und jedes Denken von Geschichtlichkeit zieht sofort den Verdacht des übermäßig „Intellektuellen“ auf sich.
Diese Stoßrichtung der Texte wirkt inzwischen fremd und von einem überkommenen Machtbegriff gestützt. Barthes’ Genre ist Ideologiekritik: Ihr liegt ein bestimmtes Verständnis von Macht zugrunde, als einer abgegrenzten, benennbaren Sphäre, die ein Drinnen von einem Draußen scheidet, die Eingeweihten von den Ahnungslosen. Die Tautologien der „Kleinbürger“, ihre unbewusste Feier des Selbstverständlichen zementieren diese Machtverhältnisse. Ein paar Jahre nach dem Erscheinen des Buches beginnt Michel Foucault damit, die Lokalisierbarkeit von Macht in Frage zu stellen, die allzu statischen Grundlagen der marxistischen Klassenlehre deutlich zu machen. Der souveräne Standort der Ideologiekritik gerät ins Wanken – Barthes wird nie mehr so unbefangen vom „Kleinbürger“ sprechen wie in diesem Buch.
Und auch die Gegenstände, die in den Texten beschrieben werden, die Produktion ihrer Bedeutung, sind nicht mehr ohne weiteres auf die heutigen Verhältnisse zu übertragen. Der Prozess der Mythologisierung ist laut Barthes ein Verschleiern der Entstehungsspuren, ein Naturalisieren des kulturell Hergestellten, das er an den unterschiedlichsten Alltagsprodukten oder Kunsterzeugnissen erkennt, am Erscheinungsbild des Plastiks wie an den Fotos von Schauspielergesichtern, an der Gestalt von Ufos wie an den Gedichten literarischer Wunderkinder. Einer der bekanntesten Texte der Sammlung, über den Citroën DS, macht diesen Vorgang besonders anschaulich: Die glatte, fugenlose Karosserie der „Déesse“, der Göttin unter den Autos, wirkt, als sei sie vom Himmel gefallen; keinerlei Hinweis mehr auf die Schweißnähte der industriellen Fertigung.
Gelten diese Verfahren der Mystifizierung noch immer? Ist die Umwandlung von Geschichte in Natur weiterhin eine geeignete Strategie, um ein Weltbild zu etablieren? Vor zehn, fünfzehn Jahren hat eher die entgegengesetzte Bewegung eingesetzt: alles, sogar das Anonyme und Ahistorische, wird nun mit einer Geschichte ausgestattet. Fast-Food-Restaurants, die ehemaligen Imperien des Plastiks schlechthin, richten ihre Lokale wie traditionelle Kaffeehäuser ein und publizieren Zeitungsanzeigen, in denen die exakte Quelle der benutzten Lebensmittel angegeben wird. Discountbäcker integrieren einsehbare Backstuben in die Geschäftsräume, auch wenn die mehlbestäubten Arbeiter darin vermutlich nichts als Dekoration sind. Und weltweit operierende Espresso-Ketten verfolgen die Herkunft ihres Kaffees bis zur letzten äthiopischen Plantage. Ein heutiger Roland Barthes müsste gerade diese Mythen des Offenlegens und Hinter-die-Kulissen-Blickens betrachten, die Welt des Naturtrüben und Hausgemachten, die Folklore der Differenz. Was der „gesunde Menschenverstand“ der fünfziger Jahre mit all seiner Nivellierungskraft gewesen ist, wird heute vom selbstgewissen Diktum der „Authentizität“ und „Nachhaltigkeit“ übernommen. Geschichtssimulation statt Geschichtsverleugnung.
Eines jedenfalls hat Barthes mit seinem Buch für immer vorgegeben: dass ein Mythos nicht inhaltlich oder chronologisch zu definieren ist, sondern allein sprachlich, durch den Bezug auf eine bereits gegebene Bedeutung. Der Mythos ist ein „sekundäres semiologisches System“, sagt er in seiner umfangreichen Nachschrift, die in der ersten deutschen Ausgabe die Hälfte des gesamten Bandes ausmacht (man wollte den Strukturalisten Barthes, nicht den Schriftsteller) und in der Neuedition immer noch ein Fünftel. Der theoretische Aufwand dieses Nachworts, das die Einzeltexte ja eigentlich überschreibt, löst heute fast Erstaunen aus, wenn man sich Barthes’ weiteren Weg als Autor vergegenwärtigt.
Spätestens nach dem Balzac-Buch „S/Z“ hat er sein Unbehagen an jedem Hierarchieverhältnis von Texten bekräftigt – das „Modell“ etwa, das die Mikroanalysen zum „Beispiel“ degradiert; diesem Unbehagen entsprach ein zunehmendes Misstrauen gegenüber dem Strukturalismus, dem Fetisch der Struktur, den die singuläre Formulierung, der gelungene Satz nur als Variante eines zugrundeliegenden Musters interessiert. In seinem letzten Lebensjahrzehnt näherten sich die Bücher Roland Barthes’ immer mehr der erzählenden Literatur an. Die „Mythen des Alltags“ versuchen noch, die beiden Seiten seines Schreibens zu verbinden, wie er einmal sagt, die „Objektivität des Gelehrten“ und die „Subjektivität des Schriftstellers“. Endlich ist die vollständige Fassung dieses Buches auch in deutscher Sprache zugänglich. ANDREAS BERNARD
ROLAND BARTHES: Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 330 Seiten, 28 Euro.
Von den Frauenzeitschriften zu den
Fernsehköchen, vom Striptease
zur Pornographie im Internet
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»Auch dort, wo ... Kritik mittlerweile zum Konsens gehört, ist die Lektüre des Buches ein Gewinn. Denn nicht weniger entscheidend als die konkreten Antworten, die Barthes gibt, ist die Art seines Vorgehens selbst. Das Buch erprobt eine Befragung des Alltäglichen, deren Prinzipien auf die Gegenwart übertragbar sind.« Peter Geimer Literaturen