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Dieses Buch gewährt einen Einblick in die reiche Sagentradition der verschiedenen Sprach- und Wohngebiete der Saamen (auch: Samen) in Schweden, Norwegen, Finnland und auf der Halbinsel Kola in Russland. Die Sagen stammen zum Teil aus längst vergangenen Zeiten. Einige sind auch jüngeren Datums. Obwohl sie überwiegend schriftlich festgehalten worden sind, haben sie die ursprüngliche Lebendigkeit des mündlichen Erzählens in der saamischen Gemeinschaft bewahrt. Mit ihnen werden Glaubensvorstellungen vermittelt und Ereignisse im Sinne der Traditionsgemeinschaft gedeutet. Viele Texte illustrieren…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch gewährt einen Einblick in die reiche Sagentradition der verschiedenen Sprach- und Wohngebiete der Saamen (auch: Samen) in Schweden, Norwegen, Finnland und auf der Halbinsel Kola in Russland. Die Sagen stammen zum Teil aus längst vergangenen Zeiten. Einige sind auch jüngeren Datums. Obwohl sie überwiegend schriftlich festgehalten worden sind, haben sie die ursprüngliche Lebendigkeit des mündlichen Erzählens in der saamischen Gemeinschaft bewahrt. Mit ihnen werden Glaubensvorstellungen vermittelt und Ereignisse im Sinne der Traditionsgemeinschaft gedeutet. Viele Texte illustrieren zudem die (historische) Lebenswirklichkeit und Kultur der verschiedenen saamischen Gruppen. In ausführlichen Kommentaren zu den einzelnen Sagen ordnet Hans-Hermann Bartens die Texte in die saamische Tradition ein und gibt u. a. religionswissenschaftliche Hinweise.
Autorenporträt
Hans-Hermann Bartens hat Finnisch-Ugrische Philologie studiert und in diesem Fach promoviert. Nach Beteiligung an einem Wörterbuchprojekt in Finnland ist er bis 2008 am Finnisch-Ugrischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen tätig gewesen. Die saamische Sprache und Kultur war dabei immer wieder Inhalt seiner Forschungen und seiner Lehrveranstaltungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2018

Gierschlünde aus dem Süden

Wer seine Frau fürs Schlittenfahren lobt, bleibt nicht allein: Eine wundervolle Sammlung mit Sagen aus Lappland schließt eine Lücke.

Die Sintflut kam auch bis Lappland, dort allerdings nicht als vierzigtägiger Regen: Gott, der Menschen überdrüssig, stülpte die Erde einfach um, "so dass Wasser aus den Seen und Flüssen auf das Land stieg und alle Menschen ertränkte, außer zwei Geschwistern, einem Jungen und einem Mädchen", um die sich Gott persönlich kümmerte. Er nahm sie je unter einen Arm und trug sie auf den heiligen Berg Passe-Ware, wo sie darauf warteten, dass sich das Wasser wieder verlief.

So erzählte es ein Bewohner des nördlichsten Schweden dem Missionar Pehr Högström im achtzehnten Jahrhundert, als der ihn nach dem Ursprung seiner Gemeinschaft fragte. Und so steht es auch im Band "Sagen aus Lappland", der nun auf Deutsch im Verlag Frank & Timme erschienen ist. Der Herausgeber und Übersetzer dieser Sammlung, Hans-Hermann Bartens, Jahrgang 1945, war bis vor zehn Jahren als Akademischer Rat am Finnisch-Ugrischen Seminar der Universität Göttingen tätig. Bereits 2003 erschien von ihm der Band "Märchen aus Lappland". Nun legt er ein Buch vor, das sich auf der Grenze zwischen Forschungsbeitrag und Lesetext bewegt und das vom Zusammenspiel dieser beiden Gattungen erstaunlich profitiert.

Anders als ein Märchenbuch üblichen Zuschnitts enthält diese Sammlung keine literarisierten, nach allen Regeln der Kunst überformten Texte (wie sie etwa in Valdemar Lindholms stofflich durchaus ähnlichen "Märchen und Sagen aus Lappland zu finden sind), sondern die Protokolle mündlichen Erzählens - sofern freilich die Protokollanten ihrerseits nichts wesentlich aufgehübscht haben. Und anders als eine wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinn weist Bartens den 244 eigentlichen Sagen den wesentlichen Platz zu, begleitet aber jede einzelne von ihnen mit Angaben zum Ort und zur Zeit des Erzählens, nennt - soweit überliefert - den Erzähler, gibt Erläuterungen zum besseren Verständnis des Textes und stellt ihn vor allem in einen größeren Zusammenhang, indem er Varianten zum jeweiligen Stoff nennt. Durch dieses Verfahren erscheint das Buch - das erste seiner Art in deutscher Sprache - in seiner Struktur durchaus wie ein Eisberg, der für das, was er sichtbar präsentiert, ein Vielfaches als Fundament besitzt.

Bartens stützt sich auf Texte, die vor allem im achtzehnten, neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gesammelt wurden. Er bezieht erfreulicherweise das gesamte Gebiet der Saami in den heutigen Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und Russland mit ein, und es ist verblüffend, wie sehr sich dort über die Ländergrenzen hinweg einerseits die Texte der Binnenlandbewohner ähneln und dass sich dagegen viel größere Unterschiede zwischen diesen und denen vom Küstengebiet finden - es sind die Lebensumstände, die das Erzählen formen, nicht die Grenzen.

Auffällig ist, welche Spuren für die Saami der Umgang mit den nach Norden drängenden Nachbarn aus dem Süden hinterlassen hat. In den Sagen erscheinen große, plumpe Wesen, die Land und Rentiere für sich fordern und den Hals nicht voll genug bekommen, während die sanfte Urbevölkerung bis an die Grenze zum eigenen Verhungern zum Teilen bereit ist. Dann aber kriegen es die Gierschlünde mit den listigen Zauberern der Gegenseite zu tun, und am Ende müssen sie froh sein, unbeschadet aus der Sache hinauszukommen.

Die Realität sieht anders aus. In seinem Vorwort berichtet Bartens über die "beschleunigte Assimilation" der Saami, beschreibt die kollektive "Identitätskrise", aber auch den saamischen Widerstand dagegen, der sich nicht zuletzt auf die revitalisierte traditionelle Kultur stützt - ein prägnantes, auch über die Grenzen Lapplands hinaus bekanntes Beispiel dafür ist der "Joik", der Gesang der Saami.

Dass aber Märchenmotive wandern, dass es Berührungspunkte zwischen dem saamischen Erzählgut und dem mitteleuropäischen gibt, zeigt diese Sammlung allerdings auch. Eine Rolle spielt etwa der Umgang der Saami mit den "Unsichtbaren", den mal freundlichen, mal bösartigen Wesen, die sie in einer Art Parallelwelt umgeben und den Menschen ebenso Glück und Wohlstand verschaffen, wie sie ins Elend stürzen können. Wie im irischen Elfenmärchen vertauschen oder rauben die Unsichtbaren die Kinder der Menschen, und ähnlich wie die Schwanenjungfrauen im europäischen Märchen oder die Fuchsfrauen im asiatischen können junge Männer die Töchter der Unsichtbaren für sich gewinnen (am sichersten, indem sie ein Messer über den Kopf dieser Wesen werfen), müssen dann aber Sorge tragen, dass sich ihre Frauen nicht wieder von ihnen abwenden: Eine Sage berichtet etwa von der dringlichen Ermahnung einer solchen jungen an ihren Gatten aus der Menschenwelt, nie an ihrem Fahrstil auf dem Rentierschlitten herumzumeckern, sonst müsse sie ihn - bei aller wahren Liebe, die sie beide verbinde - verlassen. Natürlich kommt es so, und der schlagartig alleingelassene Mann büßt am Ende durch eine neue Torheit auch den Wohlstand ein, den ihm seine Frau immerhin zurückgelassen hatte - auch das ein vertrautes Motiv.

So liest man sich von Sagengruppe zu Sagengruppe und profitiert dabei von den hilfreichen Erläuterungen des Herausgebers zu Themen wie "Riesen", "Teufel", "Begegnung von Tier und Mensch" oder "Schatzsagen". Welche übermächtige Rolle Spuk und Zauberei in diesem Kosmos spielen, erschließt sich schnell (und man versteht auch, warum umgekehrt in den Sagen der südlichen Nachbarn die Saami gern als Magier zeichnen). Die Welt, die hier geschildert wird, ist von Grund auf unsicher, die Gefahr, von einem Wassergeist, einem Unsichtbaren, einem Geist oder einem Riesen angegangen zu werden, ist immer gegeben, nur dass man all diesem eben nicht hilflos ausgeliefert ist: Wer den richtigen Zauber kennt, wird damit fertig.

Auch für die Neubesiedelung der Erde nach der Sintflut findet sich eine Lösung in der saamischen Erzähltradition. Die beiden Kinder, die auf dem Berg ausgeharrt haben, gehen danach jedes in eine andere Richtung davon, um nach weiteren Menschen zu suchen. Später treffen sie einander wieder, trennen sich ein weiteres Mal und kommen wieder zusammen, nun aber erkennen sie sich nicht mehr als Bruder und Schwester. Von ihnen, so heißt es in der Sage, stamme die Menschheit ab.

TILMAN SPRECKELSEN

"Sagen aus Lappland". Hrsg. und aus dem Saamischen von Hans-Hermann Bartens.

Verlag Frank & Timme, Berlin 2018. 463 S., br., 49,80 [Euro].

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