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Es beginnt mit langweiligen Verwandtenbesuchen, in einem überfüllten Pendlerzug, am Regal mit den aussortierten Büchern im Eingangsbereich der Stadtbibliothek oder im Regen vor der eigenen Haustür. Es beginnt also alles hier oder nirgends oder woanders. Dann kommt eins zum anderen, manchmal eine zum anderen, mit zwingender Logik in Welten, die dem Alltäglichen um ein Winziges entrückt sind. Nur so weit allerdings, dass wir mühelos unsere eigene Welt erkennen und doch vom grenzenlosen Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen des Autors mitgerissen werden. Frank Jakubzik erzählt von Menschen, die…mehr

Produktbeschreibung
Es beginnt mit langweiligen Verwandtenbesuchen, in einem überfüllten Pendlerzug, am Regal mit den aussortierten Büchern im Eingangsbereich der Stadtbibliothek oder im Regen vor der eigenen Haustür. Es beginnt also alles hier oder nirgends oder woanders. Dann kommt eins zum anderen, manchmal eine zum anderen, mit zwingender Logik in Welten, die dem Alltäglichen um ein Winziges entrückt sind. Nur so weit allerdings, dass wir mühelos unsere eigene Welt erkennen und doch vom grenzenlosen Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen des Autors mitgerissen werden. Frank Jakubzik erzählt von Menschen, die vom Unerwarteten enttäuscht werden, und von der Seltsamkeit des Alltäglichen, die immer wieder überrascht und überfordert.
Autorenporträt
Jakubzik, FrankFrank Jakubzik, 1965 in Kassel geboren, lebt mit seiner Familie in Mainz. Neben Prosa veröffentlichte er zahlreiche Übersetzungen. In der edition suhrkamp erschien zuletzt sein hoch gelobter Erzählungsband In der mittleren Ebene (es 2707).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2019

Auch der Lokführer weiß nicht, wohin es geht

Aber Fluchtversuche sind dennoch erlaubt: Frank Jakubzik erfreut uns mit neuen Erzählungen aus der Ära des Kapitalismus.

Am Sonntag ging es für Mark vor allem darum, in die somnambule Stimmung zu kommen, die er mehr liebte als alles andere." Dieser Satz, der die Erzählung "Die Bestimmung" einleitet, könnte als Motto über dem gesamten zweiten Erzählband von Frank Jakubzik stehen - und über dem ersten auch.

Der hieß "In der mittleren Ebene", erschien vor drei Jahren und fand in der Literaturkritik einige überraschte Anerkennung, handelte es sich doch um das literarische Debüt eines Fünfzigjährigen, der bis dahin vor allem als Übersetzer von Colin Crouch, Perry Anderson, Zygmunt Baumann sowie früher Texte von David Foster Wallace reüssiert hatte. Die mittlere Ebene bildeten dort die Mitarbeiter des fiktiven Weltkonzerns McWorthy aus der IT-Branche, die - auf ihre Art somnambul - versuchten, dem Hamsterrad und der Orientierungslosigkeit zu entkommen, und dabei auf ihre je eigene Weise scheiterten, von erschütternd bis hochkomisch. Der Konzern McWorthy und der Untertitel "Erzählungen aus den kapitalistischen Jahren" definierten ziemlich exakt den Rahmen, in dem diese Geschichten sich bewegten.

Das ist im neuen Band mit dem Titel "Gefühlte Zuversicht" nicht der Fall. Jakubzik richtet seinen Fokus nun nicht mehr allein auf die mittlere Ebene, auch wenn diese in einzelnen Figuren durchaus präsent ist. Die Fluchtversuche, mit denen auch hier die Mehrzahl seiner Figuren beschäftigt ist, erscheinen nicht mehr von vornherein aussichtslos: gefühlte Zuversicht.

Da wir aber bekanntlich noch immer in den kapitalistischen Jahren leben, von denen niemand weiß, ob und wann sie je vergangen sein werden, ist selten entschieden, ob die Versuche gelingen werden oder nicht. Nur in einer Erzählung mit dem lapidaren Titel "Die Freiheit" ist das Scheitern am Ende so deutlich wie überraschend, weil Nils Remming beinahe wirklich davongekommen wäre und ich gewiss nicht der einzige Leser bin, der ihm das von Herzen gegönnt hätte. Dabei gehört Remming eher zur Sphäre von McWorthy und hat sich im Lauf der Jahre "seinen Batzen, seinen Anteil von der Beute, sein share nicht nehmen lassen. Im Gegenteil, immer mehr war dazugekommen."

So dass er sich mit exakt (in Worten) achthundertsiebenunddreißigtausend Euro in bar in den Flieger setzt, um neu anzufangen "in jener südwestlichen weit entfernten Kleinstadt, von der in Europa noch niemand gehört hatte und wo ihn niemand kannte". Dort kommt er auch wohlbehalten an, und ebenso gut gelingt es ihm, den Geldkoffer ohne Kontrolle in die Flughafenlounge zu schmuggeln. Das Paradies liegt nun vor ihm. Es ist dann, in bester Ror-Wolf-Manier, "ein Schnappen, ein Klicken, und dazu eine merkwürdige Verlagerung des an seinem Arm ziehenden Gewichts", das das Unheil einleitet. Mehr dazu nicht an dieser Stelle, auch der Autor lässt offen, ob Nils Remming am Ende nach dem Aufruhr in der Halle nur "die Sinne schwinden" oder ob er wirklich stirbt.

Ohnehin liebt Jakubzik offene Schlüsse, so war es schon im Debütband. Das ist kein Manierismus, sondern nur konsequent, weil seine Protagonisten selbst sich fast immer in Grenzbereichen bewegen, zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Wunsch(traum) und Realität, und man nie weiß, auf welcher Seite der Grenze sie sich momentan befinden, oder ob sie sich nicht gerade im Niemandsland bewegen. Am Ende einer Erzählung wissen wir meist kaum mehr über sie als am Anfang, und merkwürdigerweise ist das nicht enttäuschend. Sie sind beinahe allesamt Schlafwandler, die beim Erwachen nicht angeben könnten, wie sie in die Situationen geraten sind, in denen sie sich befinden. So in der Geschichte "Der Lokomotivführer", einer deutlichen Reverenz an Dürrenmatts frühe Erzählung "Der Tunnel", worauf schon auf der zweiten Seite die "Werbung für Ormond-Zigarren" hinweist, die der Erzähler im Bistrowagen wahrnimmt. Wie bei Dürrenmatt rast der Zug in irrem Tempo abwärts, "wie in Bocksprüngen", und wie bei Dürrenmatt schlägt der Erzähler sich zum Lokomotivführer durch, der ihm mitteilt, dass er schon lange jeden Funkkontakt verloren hat. Was machen die beiden Herren? Sie trinken Tee, und danach kehrt der Erzähler an seinen Platz zurück und liest Zeitung, denn "Lesen beruhigt . . . Es stimmte mich zufrieden, daß auch der Lokführer nicht wußte, wohin wir fuhren. Dann, so dachte ich, kann man ja mit menschlichen Mitteln nichts machen." Ende offen. Vielleicht führt die rasende Fahrt bis ins Erdinnere, vielleicht aber auch nur bis nach Frankfurt, "oder (wer weiß) bis nach Hamburg hoch".

Das alles ist keineswegs "kafkaesk" (Josef K. bewahre!) und hat auch weder mit Fantasy noch mit magischem Realismus zu tun. Die Erzählung über Mark, der sonntags in die somnambule Stimmung kommen will, berichtet über einen Pubertierenden, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Und der ist beim näheren Hinschauen durchaus das Urbild all der Schlafwandler, die wir in den anderen Erzählungen kennenlernen. Der Satz "Am Montag war wieder Schule" lässt sich ohne weiteres in "Am Montag fuhr er wieder in die Firma" übersetzen. Das alles lässt sich aber nur ertragen, wenn man glaubt, dass das Wünschen einmal geholfen hat und dass vielleicht eine Zeit kommt, in der es wieder hilft. Jakubziks implizite Diagnose läuft darauf hinaus, dass unter den gegebenen Umständen - also in den kapitalistischen Jahren - die Pubertät lebenslang dauern kann, wenigstens in der mittleren Ebene.

Einen Ausweg scheint nur die Utopie von der Autonomie der Kunst anzubieten. Das Glanzstück des Bandes ist die Erzählung über den "Gedankenkünstler" Nevoglio, dem der Ich-Erzähler zu seinen Auftritten nachreist. Diese finden statt "in kleinen Privattheatern . . ., in verkommenen städtischen Sälen, die vor dreißig Jahren noch Schauplätze kommunalen Stolzes gewesen waren (der Vorhang war noch von damals, staubig und melancholisch und schwer), oder in Off-off-Kneipen, die studentisches Publikum anzogen". Dort sitzt Nevoglio auf der Bühne und bleibt stumm, auch reglos, und man weiß nicht, ob er eine Symphonie aufführt, ein Gebäude entwirft oder ein Gedicht schreibt. Die Anhänger der Gedankenkunst, die "Cogitistas", haben anfangs noch darüber nachgedacht, "aber sehr rasch und unvermeidlich entwickelte sich die Überzeugung, daß es unnötig einschränkend ist, Hinweise bezüglich der Kunstform, des Genres oder oder etwelchen Inhalts zu geben". Notabene ist diese Erzählung keine Satire, sondern entwickelt auf dreizehn Seiten die immer radikalere Vorstellung einer Kunst, die der Verwertung entzogen ist und damit "die einzige Art von Kunst, die es noch gibt bei uns". Der Text enthält zudem eine zauberhafte, "zwei Herzschläge" lange Liebesgeschichte und eine großartige Passage über das Autofahren auf "halb überwachsenen" deutschen Autobahnen, "alles erzählte von gestern, alles stand staunend in der Landschaft herum, auch die Landschaft selbst".

Und eingeleitet wird der Band mit der Geschichte "Martin der Kühne", dessen Kühnheit darin besteht, durch strömenden Regen die aussortierten Exemplare der Stadtbibliothek Mainz (Wohnort des Autors) unter den Armen nach Hause zu tragen, "in grotesker Verrenkung, die Oberarme so weit gespreizt, wie es die Buchdeckel verlangten". Zu Hause angekommen, stellt sich die Frage: "Konnte irgend etwas darin an seinem Leben ändern? Wahrscheinlich nicht. Zärtlich nahm er vom linken Stapel das oberste Buch und fing an zu lesen."

Da möchte man ihm beim nächsten Fischzug in der Bibliothek einfach nur behilflich sein.

JOCHEN SCHIMMANG

Frank Jakubzik: "Gefühlte Zuversicht". Erzählungen.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 158 S., br., 14,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Frank Jakubzik erfreut uns mit neuen Erzählungen aus der Ära des Kapitalismus. ... Das Glanzstück des Bandes ist die Erzählung über den 'Gedankenkünstler' Nevoglio ... « Jochen Schimmang Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191120