Die deutsch-israelische Autorin Inge Deutschkron beschäftigt sich in ihren zahlreichen Publikationen mit der Verfolgung von Juden in der Nazi-Zeit - und damit auch mit ihrer eigenen Situation als Jüdin in Deutschland. Ihr Schicksal als Überlebende des Holocaust ist für sie eine andauernde Verpflichtung, die dunklen wie auch die lichten Erlebnisse in der Vergangenheit gegen das Vergessen wachzuhalten. In Nachfolge zu ihrem Bestseller "Ich trug den gelben Stern", in dem sie ihr Überleben im Berliner Untergrund zwischen 1943 und 1945 schildert, legt Inge Deutschkron in dieser Textsammlung nun eine Quintessenz aus über fünf Jahrzehnten vor, in denen sie gegen das Vergessen gesprochen und geschrieben hat. Und sie kommt zu einem Fazit, das Hoffnung gibt: "Es gab Menschen, die sahen nicht zu, wie sie uns verfolgten, peinigten, quälten. Sie standen uns bei, halfen uns, versteckten uns, ohne an ihr eigenes Risiko zu denken. Nur wenigen widerfuhr dieses große Glück. Meine Familie sah ich nie wieder. Auch die vielen anderen nicht, die mir Freunde waren. An sie denke ich, wenn ich spreche, wenn ich arbeite, wenn ich mein Leben lebe."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2010Bei Weidt
Inge Deutschkrons Weg
Die langjährige Bonn-Korrespondentin der israelischen Zeitung "Ma' ariv" gehörte zu den 1700 Berliner Juden, die das mörderische "Dritte Reich" durch hilfsbereite Menschen überleben konnten. Ihr bot der blinde Otto Weidt eine andere Identität durch das Arbeitsbuch der Gertrud Dereszewski. Er besaß eine Werkstatt, "in der er dreißig jüdische Blinde beschäftigte (Rosenthaler Straße 39). Er hasste die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Er sorgte für zusätzliche Lebensmittel - die Rationen für Juden wurden immer mehr gekürzt. Er reklamierte sie bei der Gestapo, als es um ihre Deportationen ging. Als die Gestapo eines Tages unerwartet alle dreißig Blinden aus der Werkstatt zur Deportation abholte, überzeugte Otto Weidt die Gestapo, dass er ohne diese Arbeiter die von der Wehrmacht bestellten Waren nicht liefern könne. Er holte sie persönlich aus dem Sammellager wieder ab." Am 27. Februar 1943 wurden "alle noch legal lebenden Juden" abgeholt. Danach zeigte er sich nur selten in seiner Werkstatt, weil er es nicht verwand, dass er seine Mitarbeiter nicht vor der Deportation hatte bewahren können. Mit Mühe fand er nichtjüdische Blinde, die "die Plätze der Deportierten einnehmen sollten".
Eine höchst eindrucksvolle Sammlung von Aufsätzen, Reden und Zeitungsartikeln legt die 88 Jahre alte Inge Deutschkron vor, "entstanden aus den Erfahrungen als Verfolgte in der Zeit eines verbrecherischen Regimes in Deutschland und als Überlebende in der Nachkriegszeit". In den 20 Beiträgen gibt es gelegentlich Überschneidungen, die der Leser gern hinnimmt, weil das Erlebte und Beobachtete in beklemmender Nüchternheit wiedergegeben werden. Emotionen kommen nur auf, wenn die Autorin über Hans Globke und andere frühere "Diener des Unrechtsstaates" schreibt, die in den fünfziger Jahren am Rhein Karriere machen durften. Schließlich erfährt man, wie sie 1988 jene Räume wiedersah, die einst Weidts Werkstatt beherbergt hatten, und wie daraus ein Museum entstand mit mehr als 20 000 Besuchern pro Jahr. Sie alle sollen jene Maxime verinnerlichen, nach der Weidt lebte: "dass jeder Mensch auf dieser Erde ein Recht auf Leben hat, ganz gleich, welcher Hautfarbe, ganz gleich, welcher Religion, ganz gleich, welcher politischen Bindung".
RAINER BLASIUS
Inge Deutschkron: Überleben als Verpflichtung. Den Nazi-Mördern entkommen. Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer 2010. 240 S., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Inge Deutschkrons Weg
Die langjährige Bonn-Korrespondentin der israelischen Zeitung "Ma' ariv" gehörte zu den 1700 Berliner Juden, die das mörderische "Dritte Reich" durch hilfsbereite Menschen überleben konnten. Ihr bot der blinde Otto Weidt eine andere Identität durch das Arbeitsbuch der Gertrud Dereszewski. Er besaß eine Werkstatt, "in der er dreißig jüdische Blinde beschäftigte (Rosenthaler Straße 39). Er hasste die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Er sorgte für zusätzliche Lebensmittel - die Rationen für Juden wurden immer mehr gekürzt. Er reklamierte sie bei der Gestapo, als es um ihre Deportationen ging. Als die Gestapo eines Tages unerwartet alle dreißig Blinden aus der Werkstatt zur Deportation abholte, überzeugte Otto Weidt die Gestapo, dass er ohne diese Arbeiter die von der Wehrmacht bestellten Waren nicht liefern könne. Er holte sie persönlich aus dem Sammellager wieder ab." Am 27. Februar 1943 wurden "alle noch legal lebenden Juden" abgeholt. Danach zeigte er sich nur selten in seiner Werkstatt, weil er es nicht verwand, dass er seine Mitarbeiter nicht vor der Deportation hatte bewahren können. Mit Mühe fand er nichtjüdische Blinde, die "die Plätze der Deportierten einnehmen sollten".
Eine höchst eindrucksvolle Sammlung von Aufsätzen, Reden und Zeitungsartikeln legt die 88 Jahre alte Inge Deutschkron vor, "entstanden aus den Erfahrungen als Verfolgte in der Zeit eines verbrecherischen Regimes in Deutschland und als Überlebende in der Nachkriegszeit". In den 20 Beiträgen gibt es gelegentlich Überschneidungen, die der Leser gern hinnimmt, weil das Erlebte und Beobachtete in beklemmender Nüchternheit wiedergegeben werden. Emotionen kommen nur auf, wenn die Autorin über Hans Globke und andere frühere "Diener des Unrechtsstaates" schreibt, die in den fünfziger Jahren am Rhein Karriere machen durften. Schließlich erfährt man, wie sie 1988 jene Räume wiedersah, die einst Weidts Werkstatt beherbergt hatten, und wie daraus ein Museum entstand mit mehr als 20 000 Besuchern pro Jahr. Sie alle sollen jene Maxime verinnerlichen, nach der Weidt lebte: "dass jeder Mensch auf dieser Erde ein Recht auf Leben hat, ganz gleich, welcher Hautfarbe, ganz gleich, welcher Religion, ganz gleich, welcher politischen Bindung".
RAINER BLASIUS
Inge Deutschkron: Überleben als Verpflichtung. Den Nazi-Mördern entkommen. Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer 2010. 240 S., 17,90 [Euro].
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