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Der Band enthält u. a.: die frühe Sammlung »Gehirne«, Benns Aufsätze zum Problem des Schöpferischen, seine Beiträge zu den Debatten um die zeitgenössische Literatur (»Kunst und Staat«, »Totenrede für Klabund«, »Rede auf Heinrich Mann«) und, als einen Höhepunkt, den Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften«. Abgedruckt sind darüber hinaus sechs Texte, die in den bisherigen Ausgaben des Bennschen Werks fehlten.

Produktbeschreibung
Der Band enthält u. a.: die frühe Sammlung »Gehirne«, Benns Aufsätze zum Problem des Schöpferischen, seine Beiträge zu den Debatten um die zeitgenössische Literatur (»Kunst und Staat«, »Totenrede für Klabund«, »Rede auf Heinrich Mann«) und, als einen Höhepunkt, den Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften«.
Abgedruckt sind darüber hinaus sechs Texte, die in den bisherigen Ausgaben des Bennschen Werks fehlten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2002

Einmal und nie wieder
Ein Ereignis: Der neueste Prosa-Band der Werkausgabe verändert unser Bild von Gottfried Benn

Wie ging es zu bei einer der Sternstunden der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts? So: "Ein Glück, daß Sie nicht da waren! Ging schief! Zu großer Hörsaal, zu viel Leute u. miserable Akustik, die hintre Hälfte schrie ,lauter!', peinliche Sache. Einmal u. nie wieder." Es hat offenbar auch sein Gutes, wenn man sagen darf, man sei nicht dabeigewesen, als Gottfried Benn am 21. August 1951 um 17 Uhr im Auditorium maximum der Marburger Universität seinen großen Vortrag über "Probleme der Lyrik" hielt. Zumindest wenn man den obigen Schilderungen Benns glaubt, die dieser seinem Intimus Oelze am nächsten Tag übersandte. Die Druckfassung des Vortrages eröffnet jetzt - frei aller Akustikprobleme - den neuesten und sechsten Band der "Stuttgarter Ausgabe" sämtlicher Werke Benns, der mit seiner bislang unbekannten Dankesrede zum 65. Geburtstag beginnt und seinen Worten zum eigenen 70. Geburtstag endet, gehalten wenige Wochen vor seinem Tod am 7. Juli 1956. Das einzige, was das Auditorium jetzt noch schreien könnte, wäre: "Mehr!"

Und wir werden erhört. Nächstes Jahr schon soll der letzte Band erscheinen, "Dialogische Formen", der medizinische Schriften enthält, Interviews und Prosaentwürfe, auch die Edition der Briefe Benns treibt der Klett-Cotta Verlag unter der Betreuung von Thomas Weck voran: Nachdem Benns Briefe an Astrid Claes endlich erschienen sind (siehe nebenstehende Rezension), bereitet Marguerite Schlüter jetzt Benns Briefwechsel mit seinem Verleger Max Niedermayer für den Druck vor, geplant ist auch die Veröffentlichung der langjährigen brieflichen Beziehungen zwischen Benn und der Zeitschrift "Merkur".

Doch nun erst einmal: "Prosa 4. 1951-1956". Mit Holger Hof hat ein junger Herausgeber die Editionsarbeit von Gerhard Schuster fortgesetzt und die lange brachliegende Werkausgabe endlich um einen neuen Band erweitert, auf den die Öffentlichkeit leider über zehn Jahre warten mußte. Hof, der mit einer Arbeit über Benns Montagetechnik promoviert wurde, hat sich mit einer Inbrunst auf den Anmerkungsapparat gestürzt, daß es für neugierige Leser eine Freude ist. Wie ein Archäologe trägt Hof Schicht um Schicht der Texte Benns ab, um durch den Rückgriff auf die erstmals systematisch erschlossenen Tagebücher im Marbacher Literaturarchiv, auf seine Nachlaßbibliothek und auf die zahlreichen Entwürfe und Fassungen bis zum Prosakeim vorzudringen. Zugleich macht er sich wie ein Detektiv auf die Suche noch nach dem entlegensten Hinweis - so fand er etwa 31 kürzere Arbeiten Benns, meist Antworten auf Umfragen oder Grußworte, die nach ihrer entlegenen Publikation in kleinen Zeitschriften bis heute unbekannt geblieben waren. Etwa die herrliche Antwort auf die Frage der "Monatshefte für Weltliteratur" im Jahre 1953: "Was haben die Leser zu erwarten?" Darauf Benn: "Ich arbeite zur Zeit an nichts, außer an der Gewinnung neuer Eindrücke und an der Überprüfung früher von mir angewandter Methoden und Grundsätze." Er hätte auch schreiben können: Lassen Sie mich bitte in Ruhe. Aber er schreibt es eben anders, und selbst in diesem unwirschen einen Satz steckt noch der ganze Benn, sein tiefes Wissen darum, wieviel Arbeit es macht, Eindrücke wirklich zu gewinnen, und wie beherrschend, wie fürchterlich und wie beruhigend doch das eigene Gefangensein in den "Wiederholungszwängen" ist, den "früher von mir angewandten Methoden und Grundsätzen".

Solche Funde am Wegesrand lassen sich viele machen in diesem reichen Band. Im Zentrum jedoch stehen die großen Reden der fünfziger Jahre: neben dem Vortrag über "Probleme der Lyrik" das "Altern als Problem für Künstler" und schließlich "Soll die Dichtung das Leben bessern?". Fortwährend spricht der Lyriker hier über die Lyrik, theoretisiert auf höchstem Niveau und aus der Tiefe der Poesiegeschichte argumentierend - und gleichzeitig und dazwischen sitzt er da und ist nichts als Praktiker und dichtet und verwirft und dichtet neu und veröffentlicht dann 1955 mit "Aprèslude" seinen vielleicht kühnsten, reifsten, schönsten Gedichtband. Wenn man Benns Vorträge liest, die schier endlosen Lektürenotizen dazu, dann mag man kaum glauben, wie es ihm gelingt, trotz langer Erörterungen über die Lage des lyrischen Ichs, anderntags wieder mit dem Dichten zu beginnen. Trotz langer Erörterungen? Vielleicht muß man sagen: wegen. Denn die Kritik, die er übt, wenn er zeitgenössische Poesie rügt oder Hölderlins "Hälfte des Lebens" korrigiert, ist nie abstrakt, nie blumig, sondern immer konkret: am einzelnen Wort. Bei Hölderlin etwa stört ihn das "und" in der fünften Reihe der ersten Strophe" und wenn er davor warnt, Lyrik zu übersetzen, dann braucht er nur ein Beispiel, um ganze Oberseminare in Komparatistik überflüssig zu machen: "Nevermore mit seinen zwei kurzen verschlossenen Anfangssilben und dann dem dunklen strömenden more, in dem für uns das Moor aufklingt und la Mort, ist nicht ,nimmermehr'". No more questions.

Doch dieser theoretisierende Praktiker Benn - die Höhen, die er erklimmt, und die Fallen, in die er tritt -, der war bekannt. Das wichtigste Ergebnis der Editionsarbeit Holger Hofs liegt auf einem anderen Feld: Er revolutioniert vier Jahrzehnte Benn-Forschung, denn das Bild vom aus sich selbst wie aus einem Brunnen schöpfenden Genius Benns kann danach nicht mehr aufrechterhalten werden. Hof zeigt vielmehr, wie Benn für seine Texte an allen Ecken und Enden Sekundärliteratur nutzte, ausbeutete, selbst Goethe nach den Sekundärquellen zitierte und Baudelaire nach Eliot, mit einer großen Bibliothek und geliehenen Büchern arbeitete. Nach der Lektüre dieser vielen hundert Seiten mit minutiösen Hinweisen über Benns Fundstellen weiß man, was er meinte, als er schrieb, "ich finde, fremde kluge Gedanken weitergeben u. weiterverwenden besser als eigene thörichte zu produzieren". Benn, der Kompilator. Doch Hof ist kein Erbsenzähler, er hat schon in seiner Dissertation über die Montagetechniken in Benns Prosa gezeigt, wie er Benns Genie in dem Fugen und Schichten und Neuzusammenfügen des Bekannten sich verwirklichen sieht. Und so zeigt er auch hier, etwa bei den Anleihen bei Eliot oder den Adaptionen aus Ferdinand Adalbert Kehrers "Vom seelischen Altern" aus dem Jahre 1952, wie er das Fremde domestiziert, wie er es einschleust und heimisch macht in dem eigentümlichen Sound seiner späten Prosa, in dem Hubschrauber fliegen und Astern blühen und Reiche vergehen.

Diese Prosa Benns entstand fast folgerichtig aus und zwischen den Stapeln von Briefen und Büchern, zwischen Rezeptblöcken, Aschenbechern und Medikamenten, die sich auf dem dunklen Schreibtisch in seiner Wohnung in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg türmten. Die Wohnung lag im Parterre, mit Blick auf Wäscheleinen und Hortensien im Hinterhof. Der Schreibtisch war 73 Zentimeter tief und 135 Zentimeter breit, "hier entwickeln sich gewisse Dinge", schrieb er einmal. Daneben gab es den Mikroskopiertisch, auf dem die Schreibmaschine steht. Für Benn war "der entscheidende der mit der Schreibmaschine, denn nur das maschinell geschriebene ist dem Urteil zugängig, bereitet das Objektive vor, die Rückstrahlung vom einfallsbeflissenen zum kritischen Ich". Hier nun läßt sich das Ereignis dieser Editionsarbeit in Band VI der "Sämtlichen Werke" genau lokalisieren: Holger Hof präsentiert den Lesern nicht nur das kritische Ich am Mikroskopiertisch, sondern auch das einfallsbeflissene, zweifelnde, korrigierende, irrende Ich des Schreibtischs. Und Benns Geist steckt in beiden.

Gottfried Benn in den fünfziger Jahren: Das war der Arzt, der von 9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends praktizierte, genau wie seine dritte Frau Ilse, die in den vorderen Räumen als Zahnärztin arbeitete, abends dann gingen sie zum Spaziergang die Kufsteiner Straße entlang, um den Rias herum, dann setzte Benn sich noch in die Kneipe an der Ecke oder an den Tisch zu Hause - und schrieb. Er war überrascht und doch gerührt über den Ruhm, der ihm nun von Verlegern und Lesern und Kritikern entgegenschlug, nachdem er für seine Haltung im Jahre 1933 lange geächtet wurde, er arbeitete viel, lebte ruhig dahin, ging kaum unter Leute. Organismen, die Perlen hervorbringen, sind verschlossen - solche Sachen schreibt er dann spätabends, wenn Ilse schon zu Bett gegangen ist, auf kleine Zettel, und man weiß, er hat dabei nicht an sich selbst gedacht.

Der jetzt erschienene Band der späten Prosa lädt neben der Entdeckung des genialen Kompilators noch zu einer zweiten Erkundungsfahrt ein: der Pfarrerssohn aus dem Mansfelder Land, der am Ende seines langen Lebens sich doch, wenn auch zwischen den Zeilen, die Frage nach dem Sinn des Lebens noch einmal neu zu stellen wagt. Denn natürlich war Benn, neben allem anderen, auch ein Romantiker, der immer wieder weitermachte, obwohl er gerade lyrisch bewiesen hatte, daß sich das nicht mehr lohnt. Doch wenn er sich, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag und kurz vor seinem Tod, in einem Brief als "Heide" bezeichnet, dann nicht mehr mit Stolz. Er stellt die Frage "Ist es gelenkt? Ist es geschenkt?", und schon das dürfte er eigentlich nicht als der reine Nihilist, als der er von manchen vergöttert wird.

In diesem Band findet sich erstmals der Nachdruck einer Zeitungsumfrage, in der gefragt wird, welches Buch er als erstes gelesen habe, das einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht habe. Er antwortet, mit Ausrufezeichen: "Die Bibel!" Am 15. November 1955 um 20 Uhr, schon gezeichnet von seinem Krebsleiden, trifft er dann in Köln auf den Schriftsteller Reinhold Schneider, um im Radio über die Frage zu diskutieren, ob die Dichtung das Leben bessern soll. Er zitiert Hebbels Anrufung Gottes - "obwohl es meinem Stil fremd ist". In der ersten Fassung, die dieser Band nun dokumentiert, hatte es noch geheißen "mir selbst". Doch ihm selbst war es dann wohl doch nicht mehr so fremd geblieben, er zieht eine erste zarte Trennlinie zwischen dem Stil und dem Ich. Und im ersten Entwurf für "Altern als Problem für Künstler" findet sich Benns handschriftlicher Satz: "Ich habe nicht Gott gesagt, ich bin kein Erpresser." So ging er dann von dieser Welt, dieser große Welterfinder, bewahrte Haltung gegenüber oben, dachte sich "Einmal u. nie wieder" und hatte vielleicht doch noch nicht alle Hoffnung fahren lassen.

Gottfried Benn: "Sämtliche Werke. Band VI. Prosa 4". Herausgegeben von Holger Hof. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001. 754 S., geb., 40,- [Euro].

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