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After Stalin died a torrent of Western novels, films, and paintings invaded Soviet streets and homes. Soviet citizens invested these imports with political and personal significance, transforming them into intimate possessions. Eleonory Gilburd reveals how Western culture defined the last three decades of the Soviet Union, its death, and afterlife.

Produktbeschreibung
After Stalin died a torrent of Western novels, films, and paintings invaded Soviet streets and homes. Soviet citizens invested these imports with political and personal significance, transforming them into intimate possessions. Eleonory Gilburd reveals how Western culture defined the last three decades of the Soviet Union, its death, and afterlife.
Autorenporträt
Eleonory Gilburd
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2019

Im Westen viel Neues

Er trat dort auf, wo niemand ihn erwartet hatte: Eleonory Gilburd beschreibt den kulturellen Aufbruch in der Sowjetunion zur Zeit des Tauwetters. Dass eine bleierne Zeit folgen würde, ahnte damals keiner.

Mit ihrem Buch über Rezeption und Wirkung westlicher Kultur in der Sowjetunion in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lenkt die in Chicago lehrende Historikerin Eleonory Gilburg die Aufmerksamkeit auf einen geistigen Aufbruch, der dem Titel eines Romans von Ilja Ehrenburg folgend die Zeit des "Tauwetters" genannt wird. Die sowjetische Gesellschaft begann sich inmitten des Wiederaufbaus nach dem Krieg aus dem geistigen Panzer der Stalinzeit herauszuarbeiten: Rückkehr von Hunderttausenden aus den Lagern, Chruschtschows Enthüllung über den "Personenkult", Rehabilitierung unschuldig Verurteilter, Massenwohnungsbau anstelle von Palästen im Zuckerbäckerstil, stärkere Förderung des Konsums anstelle der Schwerindustrie, Wiederbegründung von unter Stalin ausgerotteten Wissenschaftsdisziplinen wie der Soziologie, die Publikation von literarischen Werken, in denen die so lange beschwiegene Vergangenheit zur Sprache kam.

Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Start einer Generation, die es noch einmal wissen wollte - mit Sputnik, dem Flug des charismatischen Juri Gagarin ins Weltall, Alexander Twardowskis "Nowyj mir", der Goldenen Palme 1958 in Cannes für Michail Kalatosows Meisterwerk "Wenn die Kraniche fliegen". Zur Erfahrungswelt dieser Generation gehörten Ereignisse, die in einer vorwiegend auf die Analyse von politischen Reformen und administrativen Apparaten, auf Verträge und Diplomatie fixierten Geschichtsschreibung nicht oder nur am Rande vorkommen. Das sind die VI. Welt-Jugend-Festspiele, die 1957 an die 40 000 junge Menschen aus der ganzen Welt für einen Monat nach Moskau brachten, mit Karneval und Tanz auf den Straßen, massenhaften Begegnungen von Einheimischen und Besuchern aus der ganzen Welt, Körperkontakt eingeschlossen.

Dazu gehörten die Ausstellungen der französischen Impressionisten und zwei große Picasso-Ausstellungen, die nicht so sehr den Kommunismus-Sympathisanten, sondern den Maler, das wilde Tier der Kunst nach Moskau brachten. Dazu gehörte Michel Legrands Musik zu "Les Parapluies de Cherbourg", die Stimmen von Edith Piaf und Yves Montand, die Filme von Luchino Visconti und Vittorio de Sica, der Sound von Jazz-Bands und Folkloregruppen, der Strom von Literatur, die zum ersten Mal ins Russische übersetzt und über die Lingua franca des Imperiums allen Völkern der Sowjetunion zugänglich gemacht wurde: Erich Maria Remarque, Ernest Hemingway, J.D. Salingers "The Catcher in the Rye".

Die Autorin fragt nach der Wahrnehmung dieser "events", der Wirkungsweise der Rezeption und deren Langzeitfolgen, die sich nicht bloß in Auflagenzahlen, sondern im Wechsel von Stimmungen, Trends, Redeweisen messen lassen. Sie geht der Frage nach, warum und wie Sowjetbürger in der Tauwetterzeit sich für die Welt außerhalb der sowjetischen, vor allem für westliche Kultur interessiert haben und wie dies wiederum ihre Ansichten, ihre Verhaltensweisen prägte und viele von ihnen zur "Generation der Sechziger" hat werden lassen, wie man sie im Nachhinein genannt hat. Eleonory Gilburd tut dies vor allem entlang der von der Kulturdiplomatie jener Jahre geknüpften Netze aus Ausstellungen, Festivals, Übersetzungen und gestützt auf eine eindrucksvolle Basis von bisher nicht erschlossenen Quellen und neuen Quellengattungen: Leserbriefe an Zeitschriften und Autoren, Rezensionen, Kritiken und literarische Kontroversen und immer wieder: die Auswertung von Tausenden von Kommentaren, die die Besucher von Ausstellungen in den ausliegenden Besucherbüchern hinterlassen haben, in denen sie ihre Irritation, ihr Befremden, ihren Abscheu oder ihre Bewunderung für das bis dahin Ungesehene oder Ungehörte formuliert haben.

So wird der Echoraum eines Publikums rekonstruiert, das zum ersten Mal mit einer ihm fremden Gedanken- und Bildwelt konfrontiert war. Die Verfasserin fördert dabei mehr zutage als nur passive Rezeption. Vielmehr wird klar, wie sehr sich Leser oder Betrachter in den rezipierten Texten oder Bildern wiedererkennen. In der Lektüre von Hemingway und Remarque findet der sowjetische Leser die Erfahrung der "lost generation" der Zwischenkriegszeit wieder und erkennt im schmucklos-lakonischen Ton eine Weise, in der sich auch die eigene Erfahrung - jenseits von pompösem Pathos und konstruierten positiven Helden - zur Sprache bringen lässt.

In einer subtilen Analyse würdigt die Autorin die Leistung sowjetrussischer Übersetzer. Sie geht den Auftritten der "halbstarken" Stiljagi nach, die sich auf dem Broadway - so nannten sie die Gorki-Straße in Moskau oder den Newski-Prospekt in Leningrad - nicht mehr einschüchtern ließen von Milizionären und jungkommunistischen Aktivisten. Eine gesonderte Analyse widmet sie der Frage der Synchronisierung westlicher Filme, in der Stimme und Übersetzung gleichsam für Anverwandlung und Integration einer anderen Erfahrungswelt stehen. In der Popularität der italienischen Neo-Realisten spürt sie der Sehnsucht der Zuschauer nach, die sich jenseits der Doktrin des "sozialistischen Realismus" ein Bild von der Welt machen wollen und dabei auch die im Stalinismus verschüttete Tradition des sowjetischen Kinos der zwanziger Jahre wiederentdecken.

Aus heutiger Perspektive ist schon kaum mehr nachvollziehbar, was die vorsichtige Öffnung der Grenze - wenn auch nur in Gruppenreisen - bedeutet hat: Sowjetbürger, die die Orte und Plätze von Paris aus den Romanen von Hugo und Dumas kannten, sahen sie nun mit eigenen Augen. Reiseberichte und Postkarten zersetzten das von der Propaganda gezeichnete Negativbild. Experten für die Kultur der Renaissance, die Florenz und Venedig bis dahin nur aus der Literatur kannten, konnten nun zum ersten Mal ihre Sehnsuchtsorte selbst in Augenschein nehmen.

Eleonory Gilburds Untersuchung führt hinein in die Zeit eines Aufbruchs, als die Zeitgenossen nicht wissen konnten, dass ihm nach dem Ende des Prager Frühlings und dem Breschnewschen Rollback die bleierne Zeit einer weiteren "verlorenen Generation" folgen sollte. Das Buch ist in gewissem Sinne eine Studie über einen Aufbruch und dessen Vergeblichkeit, aber auch darüber, dass Aufbrüche dort stattfinden, wo sie niemand erwartet hat. Der Einwand, den man vorbringen könnte, dass nämlich die Übersetzungen eines Heinrich Böll oder das legendäre Gastspiel des Hamburger Schauspielhauses mit Gustav Gründgens als Mephisto im Jahre 1959 in der auf die amerikanische und französische Erfahrung beschränkten Darstellung nicht vorkommen, wiegt angesichts der Fülle und Genauigkeit dieses Buches nicht schwer.

KARL SCHLÖGEL.

Eleonory Gilburd: "To See Paris and Die". The Soviet Lives of Western Culture.

The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 2018. 458 S., geb., 31,50 [Euro].

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